Eine Wanderausstellung der Universitätsstadt Tübingen zum Hölderlin-Jubiläumsjahr 2020 aus Anlass seines 250. Geburtstags, herausgegeben von Sandra Potsch und Wiebke Ratzeburg mit Gedichten von Friedrich Hölderlin und einem Text von Sandra Potsch

Kerber Verlag, Bielefeld/Berlin, Universitätsstadt Tübingen, 2020, ISBN 7356-0658-7, 128 Seiten, 43 Schwarzweißaufnahmen, Hardcover gebunden, Format 25,5 x 19,5 cm, € 24,00

Wer die Orte aufsuchen will, an denen Hölderlin gewohnt und gelebt hat, wird am besten in seinem Geburtsort Lauffen beginnen und von der Alten Neckarbrücke aus (vergleiche dazu https://www.lauffen.de/website/de/tourismus/lauffen_erleben/historischer_rundgang) zwischen der Regiswindiskirche und der heute als Rathaus genutzten Burg dem Neckar entlang zur Mündung der Zaber spazieren. Über der Zaber trifft er in der Nordheimer Straße gegenüber der Alten Ölmühle auf die Reste des von Kaiser Heinrich II. gestifteten ehemaligen Benediktinerinnen- und späteren Dominikanerinnenklosters, dessen Güter Höderlins Vater Heinrich Friedrich Hölderlin als Klosterhofmeister und geistlicher Verwalter betreut hatte. Friedrich Hölderlins Geburtshaus liegt direkt rechts daneben, das Hölderlindenkmal und Peter Lenks Skulptur ›Hölderlin im Straßenverkehr‹ auf der anderen Seite stadteinwärts. Danach empfiehlt es sich, nach Nürtingen zu fahren oder gleich ins Kloster nach Maulbronn. Das Evangelische Stift in Tübingen ist Pflicht. Von dort aus geht man über den Klosterberg und die Bursagasse an den Neckar zum Hölderlinturm und dann über den Zwingel zum Anlegeplatz der Stocherkähne (vergleiche dazu https://www.tuebingen.de/mobil/sehenswuerdigkeiten/302). Schließlich sollte man von Tübingen aus auch an der Wurmlinger Kapelle vorbeischauen. Wer mehr Zeit hat, kann noch nach Heidelberg, Jena, Frankfurt, Bad Homburg oder Hauptwil in der Schweiz und immer wieder zurück nach Nürtingen fahren, den Rheinfall bei Schaffhausen aufsuchen und schließlich wie Thomas Knubben auf den Spuren Hölderlins zu Fuß nach Bordeaux wandern (vergleiche dazu Thomas Knubben, Hölderlin. Eine Winterreise, Tübingen 2012). Ob er an einem dieser Orte die Freiheit findet, die Hölderlin von seiner Jugend an und wohl auch noch im Tübinger Turm gesucht und besungen hat, wird sich am Ende der Wege erweisen.

Barbara Klemm, eine der Großen der Porträt- und Landschaftsfotografie, hat sich vor ihren Aufnahmen der von Hölderlin besungenen Orte in die Rhythmen und Atmosphären seiner Gesänge eingefühlt und sie dann in malerisch schwebende schwarzweiße Fotografien übersetzt.

In Lauffen hat sie dem Hölderlindenkmal und der Zaber ein Porträt gewidmet und ihre Porträts dem Gedicht ›Lebenslauf‹ und dem dritten Vers aus seinem Gedicht ›Stuttgart‹ gegenübergestellt: „Aber damit uns nicht, gleich Allzuklugen, entfliehe / Diese neigende Zeit, komm´ ich entgegen sogleich, / Bis an die Grenze des Landes, wo mir den lieben Geburtsort / Und die Insel des Stroms blaues Gewässer umfließt. / Heilig ist mir der Ort, an beiden Ufern, der Fels auch, / Der mit Garten und Haus grün aus den Wellen sich hebt. / Dort begegnen wir uns; o gütiges Licht! wo zuerst mich / Deiner gefühlteren Stralen mich einer betraf. / Dort begann und beginnt das liebe Leben von neuem; / Aber des Vaters Grab seh´ ich und weine dir schon? /Wein´ und halt´ und habe den Freund und höre das Wort, das / Einst mir in himmlischer Kunst Leiden und Liebe geheilt. / Andres erwacht! ich muß die Landesheroën ihm nennen! / Barbarossa! dich auch, gütiger Kristoph, und dich, / Konradin! wie du fielst, so fallen auch Starke, der Epheu / Grünt am Fels und die Burg dekt das bacchiantische Laub, / Doch Vergangenes ist, wie Künftiges heilig den Sängern, / Und in Tagen des Herbsts sühnen die Schatten wir uns.“

In Maulbronn hat sie sich für eine Aufnahme des des Klosterrefektoriums entschieden. Sie korrespondiert mit dem Gedicht ›An M.B.‹ und den Strophen „O lächle fröhlich unschuldsvolle Freunden, / Ja, muntrer Knabe, freue dich, / Und unbekümmert, gleich dem Lamm auf Frühlings-Haiden, / Entwickeln deine Keime sich / … / Du glaubst mir nicht, dass diese schöne Erde / so viele unzufriedne trägt, / Daß nicht die Welt, der dich der Schöpfer gab, Beschwerde, / nur eigner Kummer Seufzen regt.“ Der Strophe „Ich duld´es nimmer! ewig und ewig so / Die Knabenschritte! wie ein Gekerkerter / Die kurzen vorgemeßnen Schritte / Täglich zu wandeln, ich duld´ es nimmer!“ aus ›Zornige Sehnsucht‹ steht eine Aufnahme des Speisesaals des Tübinger Stifts gegenüber und dem Zwingel vor dem Hölderlinturm die Strophe „Lebt wohl dann, Jugendtage, du Rosenpfad / Der Lieb´, und all´ ihr Pfade des Wanderers, / Lebt wohl! und nimm und seegne du mein / Leben, o Himmel der Heimath, wieder!“ aus ›Rückkehr in die Heimat‹.

Der Tübinger Turm war für Hölderlin in der zweiten Hälfte seines Lebens ein Ort des Rückzugs geworden, „der Abkehr von der Außenwelt. Freiwillig war er nicht dorthin gelangt, doch befand er sich hier zum ersten Mal an einem Ort, an dem er von allen Erwartungen losgesprochen war und sich ausschließlich dem Schreiben und dem Geschriebenen widmen konnte. Hatte er gefunden, was er wenige Jahre zuvor in seinem hymnischen Entwurf ›Der Adler‹ herbeigesehnt hatte? „Will einer wohnen, / So sei es an Treppen, / und wo ein Häuslein hinabhängt / Am Wasser halte dich auf. / Und was du hast, ist / Athem zu hohlen. / Hat einer ihn nemlich hinauf / Am Tage gebracht, / Er findet im Schlafe ihn wieder.‹

Die Treppe, das Häuslein, das Wasser, der Hang – alles scheint da zu sein. Die dort entstandenen Gedichte schweifen nicht mehr ins Weite, sie verweilen an Ort und Stelle und thematisieren, was sich unmittelbar vor den Fenstern des Turmzimmers abspielte […]. Obwohl sie vom ganz Konkreten, vor Auge stehenden ausgehen, wirken sie doch seltsam unkonkret: Nicht […] der vor dem Fenster vorbeiziehende Neckar, sondern ›ein Fluss‹, nicht die Wiesen des Neckartals und Wälder der Schwäbischen Alb, sondern etwas Übertragbares, Allgemeines. Die auf der Landkarte seiner Dichtung verzeichneten Koordinaten lösen sich darin in unbestimmte Bilder auf. Auch Barbara Klemm kam es auf eine genaue Verortung ihrer Fotografien nicht an. Sie fokussierte nicht die Orte, die Hölderlin bewohnt, bereist und beschrieben hat, sie spiegeln vielmehr das Weite und Enge, Ferne und Nahe, Vor- und Rückwärtsgewandte, das seinen Versen innewohnt. Ihre Auswahl der Motive, Perspektiven und Kompositionen war dabei sicherlich ein wesentlicher Teil jener künstlerischen Arbeit. Doch mit der gleichen Erfahrenheit beobachtete sie auch die Licht- und Wetterverhältnisse, den Lauf der Sonne und die Bewegung der Wolken. Gehörte die Begegnung mit der Natur und Beobachtung der sich darin vollziehenden Wechsel zu den elementaren Erfahrungen, aus denen Hölderlins Gedichte schöpften, so bildet das Studium der Lichtverhältnisse je nach Tages- und Jahreszeit für Barbara Klemm einen Grundbestandteil ihrer fotografischen Tätigkeit. Obgleich ihre Bilder schwarz und weiß sind, weiß Barbara Klemm darauf den Morgenhimmel mit einem Blick vom Abendhimmel zu unterscheiden. Hölderlin hätte das auch vermocht. 105 Mal hat er in seinen Gedichten die Sonne und 18 Mal den Mond beschrieben, 39 Mal den ›Morgen‹ und 42 Mal den ›Abend‹. Die ›Nacht‹ aber ganze 150 Mal“ (Sandra Potsch S. 120).

ham, 26. Februar 2020

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