Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2024, ISBN 978-3-374-07676-5, 138 Seiten, Paperback, Format 19 x 12 cm, € 29,00
Wer den Titel „Kunst – Philosophie – Transzendenz“ liest, erwartet eine philosophische Abhandlung über den Transzendenzbezug der Kunst und ist dann überrascht, dass der 1946 in Stuttgart geborene Philosoph, Theologe, Physiker, langjährige Professor an der philosophisch-pädagogischen Hochschule Krakau und Lehrbeauftragte für Naur- und Technikphilosophie an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt Hans-Dieter Mutschler seinen Großessay mit dem Vergleich der im Zentrum von Paris in 200 Jahren gebauten Kathedrale Notre Dame und dem von Gustave Eiffel entworfenen und in nur zwei Jahren zum hundertjährigen Jubiläum der Französischen Revolution fertiggestellten Eiffelturm eröffnet. Notre Dame ist nach Mutschler herkömmlich mit Thomas von Aquin und dem in der Katholischen Kirche bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts vorherrschenden Thomismus konnotiert, der Eiffelturm mit dem säkularen, rein technologischen Fortschritt.
Künstler wie der französische Komponist Charles Gounod (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Gounod), der vor 200 Jahren geborene Alexandre Dumas der Jüngere (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Alexandre_Dumas_der_Jüngere), der Erzähler und Journalist Guy de Maupassant und der Lyriker Paul Verlaine lehnten den Eiffelturm ab. „Sie hatten begriffen, dass ihre ästhetische Welt […] durch die neue Dominanz des Technisch-Funktionalen von Grund auf infrage gestellt wurde. Auch die Maler fanden den Turm hässlich und haben meist darauf verzichtet, ihn darzustellen.
Der traditionelle französische Katholizismus, stark nationalistisch geprägt, wünschte sich ein architektonisches Gegenstück zum Eiffelturm. Und so errichtete man auf dem Hügel von Montmartre die monumentale Kirche Sacré-Cæur, dem heiligen Herzen Jesu geweiht und zugleich Ausdruck des politischen Konservativismus. Dieses Gebäude hatte man auf der höchsten Erhebung von Paris erbaut, dem Butte Montmartre, um weithin sichtbar zu sein und um eine visuelle Balance zu dem säkularen, rein technisch bestimmten Eiffelturm zu bilden. Außerdem war der Butte Montmartre der Wohnort des linken Proletariats und lasziver, vergnügungssüchtiger Künstler, die man auf diese Weise vertreiben wollte. Die Wirkung der Basilika wurde verstärkt durch den schneeweißen Travertin-Kalkstein und durch die monumentale neobyzantinische, weithin sichtbare, aber ziemlich unproportionierte Kuppel“ (Hans Dieter Mutschler, S. 12). Die Vertreibung der Künstler mißlang. Die Kunstkritik und Künstler wie Picasso oder Van Gogh lehnten die kitschige, im Zuckerbäckerstil gebaute Kirche ab. Das Moulin Rouge zu Füßen des Hügels kann seine 240 000 in seinem Keller gelagerten Champagnerflaschen auch heute noch in nur einem Jahr an den Mann und die Frau bringen. „Auch das Kabarett Chat Noir ist seit vielen Jahren ein Treffpunkt der Anarchisten. Ihr Motto: ‚Alles nur kein Ernst‘. Nicht sehr katholisch“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 13).
Nach Mutschler hat der in Paris und auch sonst überall in der westlichen Moderne anzutreffende Gegensatz zwischen religiöser und säkularer Symbolarchitektur sein Pendant in der Philosophie. „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es einen ähnlich schroffen Gegensatz zwischen Philosophen, die sich an Mathematik, formaler Logik oder an der Physik orientierten, und solchen, für die die Kunst im Zentrum stand – Carnap versus Heidegger sozusagen. Ihre Philosophie verbindet nichts. Man könnte diesen Gegensatz leicht weiter ausziehen, etwa bis Quine und Ricæur, die auch nichts gemeinsam haben. Kunst und Philosophie zerfallen.
Die funktionale Moderne wird dominiert durch Ökonomie, Technik und Wissenschaft, nicht zu vergessen durch das Militär. Alle diese sozialen Systeme setzen auf Effizienz und ziehen den Menschen in den Strudel globaler Optimierungsprozesse hinein, die ihn gefangen halten. Schon beginnt man, den Menschen im Rahmen eines human enhancement oder auch des ‚Transhumanismus‘ technologisch zu optimieren“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 14). Künstler wie Joseph von Eichendorff und Jean Tinguély reagieren mit Erzählungen wie der „Aus dem Leben eines Taugenichts“ und mit Nonsensmaschinen. „Die Kunst ist folglich eine Gegenwelt zur allseits dominierenden Zweckrationalität. Sie ist zu nichts gut […]. Manchmal auch erfüllt die Kunst rein emotionale Bedürfnisse, so wenn der Bildungsbürger am Wochenende ins Konzert geht, um sich gefühlsmäßig aufzufrischen fürs langweilige Büro am folgenden Montag […]. Nichts auf dieser Welt lässt sich nicht verzwecken oder dienstbar machen […]. Die Tasche, dass auch Künstler essen, trinken und wohnen müssen, ist kein Einwand gegen den Selbstzwecklichkeitscharakter der Kunst. Das ist trivialerweise der Fall. Dieser Selbstzwecklichkeitscharakter der Kunstwerke wäre nur außer Kraft gesetzt, wenn Künstler ausschließlich um des Geldes wegen produzieren würden. Das haben manche getan, aber man sieht es ihren vorgeblichen Kunstwerken an“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 16).
Zweckrationalität und Zweckfreiheit scheinen im Menschen angelegt; sie wurzeln in der an den Leib gebundenen ganzheitlichen Wahrnehmung, der Aisthesis (vergleiche dazu und zum Folgenden Metzler Lexikon der Philosophie, Aisthesis. In: https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/aisthesis/66). Wahrnehmung kommt nach Plato und Aristoteles durch die Sinnesorgane zustande. „Für Aristoteles ist Wahrnehmen ein natürlicher, kein geistiger Vorgang, sinnliche Wahrnehmungen sind physisch, nicht mental. Die Grenze verläuft bei ihm also nicht zwischen Körper und Geist, wie später bei Descartes, sondern zwischen dem Wahrnehmen als Wahrnehmen des Einzelnen und dem Denken als Wissen des Allgemeinen“ (a. A. O.). Mutschler schlägt nun vor, den im 19. Jahrhundert zwischen Kunst und Philosophie aufgebrochenen Graben durch den Rückgriff auf die dialektische Verschränkung zwischen dem Ausgriff aufs Ganze und der Verdichtung im Einzelnen im Präreflexiven der Aisthesis zu überwinden. Für ihn ist damit eine ontologische Aufwertung der Kunst verbunden. „Sie ist nicht länger nur ein Spiel der Emotionen und Empfindungen, sondern erschließt uns Realität“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 24). Und der Künstler ist dann „der Virtuose der ursprünglichen Wahrnehmung, die er uns in Erinnerung ruft“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 28).
Mutschler beruft sich dabei vor allem auf die Leibphilosophen Maurice Merleau-Ponty und Gernot Böhme, nach denen der Körper eine Art Maschine, der Leib aber beseelt ist. Zugleich wird die Bewusstseinsphilosophie von Descartes bis Husserl zugunsten eines direkten aisthetischen Bezugs zur Welt und zum gesellschaftlichen Bereich geopferten und die Subjekt-Objekt-Spaltung und damit die Objektzentrierung der verdinglichten Wahrnehmung aufgehoben. Damit eröffnet „die Aisthesis einen zurückweichenden und in diesem Sinn unendlichen Horizont als den Ursprung der Metaphysik“ (Hans- Dieter Mutschler, S. 32). Was ist, hat sich in Schichten des Anorganischen, des Organischen, des Psychischen und des Geistigen entwickelt. Wenn diese Schichten jeweils eigenständig und unreduzierbar sind, ist ihr Entstehen ein Fall starker Emergenz. Philosophen wie Charles Sanders Peirce und Alfred North Withehead haben das Entstehen des Neuen deshalb auf eine göttliche Kraft zurückgeführt. Die denkbare Alternative wäre, von einer schöpferischen Natur auszugehen. Die Gottesfrage bleibt aber offen.
Mutschler spielt schon in seiner Frage, wie die in evolutionären Schritten entstandene Wirklichkeit wahrgenommen werden kann, auf die in seinem letzten Kapitel andiskutierte Natürliche Theologie an. Demnach fragt die rein philosophische Disziplin, die keinen Gebrauch von der Offenbarung macht, ob unsere Vernunft von sich aus auf Gott verweist. „Viele (nicht alle) protestantischen Theologen lehnen eine solche natürliche Theologie ab, weil sie befürchten, dass sie den Glauben überflüssig machen könnte. Wenn man Gott beweisen kann, weshalb sollte man dann noch an ihn glauben? Aber Thomas von Aquin wusste es besser: Zwar hat er formelle Gottesbeweise formuliert, jedoch führten sie in seiner Lesart nur bis zum Erweis der Existenz Gottes. Dass es ihn gibt, kann gezeigt werden, nicht aber, wer er ist und welche Eigenschaften er hat […]. So führt die Vernunft nach Thomas von Aquin nur so weit, dass wir etwas Absolutes als Voraussetzung des Endlichen einsehen können, doch ob dieses Absolute uns wohlgesonnen, gleichgültig, dreifaltig, verkörpert oder nur differenzloses Sein ist, das können wir erst aufgrund der Offenbarung wissen“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 112). Viele katholische Theologen und Philosophen deuten die sogenannten Gottesbeweise als Versicherung des Glaubens. In dieser Linie erinnert Mutschler noch einmal an gewisse Entsprechungen zwischen der Aisthesis und der Theologie.
„Da ist vor allem der empfangend-kontemplative Charakter der Aisthesis und ihre Praereflexivität. Hierin kann man eine Verwandtschaft zum Glaubensakt sehen, der ebenfalls auf dem Empfangen und nicht auf dem Tun besteht. Das Praereflexive hat überdies eine deutliche Parallele in der sogenannten ‚negativen Theologie‘, wonach wir von Gott eher wissen, was er nicht ist, als dass wir ihn inhaltlich bestimmen könnten. Außerdem ist der Bezug zum Ganzen im Sinne einer Metaphysik wie ein Präludium zur Theologie – vor allem, wenn man mit Merleau-Ponty das Seiende als Ausdrucksgestalt und als einen lesbaren Text ansieht. Dem Gläubigen wird das Genügen. Er wird eine gewisse Resonanz empfinden, aber nur so, wie wir Bachsche Fugen als Überhöhung der entsprechenden Präludien hören“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 127). Weiter verweist Mutschler auf das schwach gedeutete anthropische Prinzip und noch einmal auf die qualitativen Sprünge in der Evolution, die Emergenz, und versteht sie als Hinweis auf die Möglichkeit und Stimmigkeit des Glaubens. „Wenn ich von der Existenz Gottes überzeugt bin, dann ist die Natur für mich eine Berufungsinstanz, die im Licht des Glaubens heller strahlt als ohne ihn“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 131). Analog dazu verweist auch keine Kunst von sich aus auf Gott. Aber wenn wir vom Glauben überzeugt sind, erleuchten und erläutern sich Glaube und Kunst wechselseitig. Das Schöne kann bei aller auf der Welt zu finden Tragik als Vorschein dessen verstanden werden, „was noch kommen wird, und der Bezug zum Ganzen präludiert eine Unendlichkeit, ohne sie deshalb dinglich fassbar zu machen. Aber das Unbedingte ist, wie schon der Name sagt, kein Ding. Wer überhaupt nur Dinge sieht in dieser Welt, der sieht auch diese nicht“ (Hans-Dieter Mutschler, S. 133).
Hans-Dieter Mutschlers Einlassungen zur Natürlichen Theologie zeigen neben seinem in der ganzen Publikation offenkundigen antiprotestantischen Affekt auch eine willkürliche Verkürzung der protestantischen Position, die sich an der vom Vatikanum I dekretierten Möglichkeit der vernünftigen Erkenntnis Gottes entzündet. „Ist nämlich nach reformatorischer Lehre die Gnade ausschließlich an das Evangelium gebunden, dann muß der Versuch, sie gewissermaßen der Naturausstattung des Menschen zuzuschlagen, also etwa als Faktor der Vernunft oder der Verantwortlichkeit zu ihrem ‚Anknüpfungspunkt‘ zu erklären […], einer Verleugnung des ‚Solus Christus‘ gleichkommen. K. Barth spricht in seiner Polemik von dem Prozess der ‚Verbürgerlichung des Evangeliums‘, sofern sich der Mensch hier selbst über Gott meint aufklären zu können und damit die Offenbarung‚ domestiziert‘ […].
Man hat die oft vorgetragene Kritik an der n. Theologie auf die Formel gebracht, daß hier der Versuch unternommen werde, den Grund des Glaubens an Gott durch ein vorausgesetztes Wissen […] freizulegen. Es ist in der Tat leicht zu sehen, dass die Evidenz ihrer Aussagen auf metaphysischen Voraussetzungen (Naturgesetz, Ordnung, Existenz) beruht, denen schon die Frage nach Gott unterworfen wird. Das aber schließt nicht aus, daß hier Probleme gesehen und namhaft gemacht worden sind, die sich mit ihrer unzureichenden Lösung keineswegs schon erledigen, sondern unaufgebbarer Gegenstand theol. Nachdenkens bleiben […]. Zu diesen unbewältigten Problemen gehört die Herausforderung durch das Phänomen der menschlichen Rel., aber auch die heute ganz neu erfahrene Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung Gottes. Klärungsbedürftig ist die Frage nach dem Zusammenhang und der Sachordnung zw. dem Glauben an Gott den Schöpfer und dem Glauben an den Mensch gewordenen Versöhner. Solange der christl. Glaube an der ntl. Gleichsetzung der Wahrheit mit der Person Jesu Christi festhält, kann er diese Probleme nur austragen, indem er die singuläre Wahrheitsbehauptung des NT (Joh 14,6) auf ihre universale Reichweite auslegt, so wie es Barth mit seiner Lehre von den ‚Gleichnissen des Himmelreichs‘ oder […] die amer. Prozeßtheologie mit ihrem Gedanken der ‚schöpferischen Umwandlung‘ (Cobb) versucht hat. Die Selbstverständlichkeit Gottes, der das Interesse der n. Theologie gilt, müßte als Folge der in Christus manifest gewordenen Nähe dieses Gottes neu angeeignet und begründet werden“ (Christian Link, Natürliche Theologie. In: RGG, 4. Auflage, Band 6, Tübingen 2003, Spalte 123 f.).
ham, 24. August 2024