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Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 23.09.2016 – 29.01.2017 im Jüdischen Museum Berlin,
herausgegeben von Emily D. Bilski und Martina Lüdicke mit Texten u. a. von Isaac Asimov, Jorge Luis
Borges, Joshua Cohen, Anselm Kiefer, Cilly Kugelmann, Peter Schäfer und Paul Wegener

Jüdisches Museum Berlin / Kerber Verlag Bielefeld, 2106, ISBN 978-3-7456-0277-0, 184 Seiten, 75 farbige
und 7 schwarzweiße Abbildungen, Klappenbroschur, gebunden, Format 28 x 21,5 cm, € 34,00 (D) /
35,00 (A) / CHF 41,50

Das Wort »Golem« ist in der hebräischen Bibel nur in Psalm 139,16 zu finden. Dort preist der Psalmist Gott
als seinen Schöpfer, dessen Augen seinen »Golem«, seinen noch ungeformten Körper, und das heißt wohl
seinen Embryo sahen, als er noch nicht gebildet und keiner von uns da war. Psalm 139 hat nicht ohne Grund
ein reiches Echo in der Dichtung gefunden, weil in ihm eine der Menschheitsfragen thematisiert wird, die
immer neu gestellt und zu beantworten versucht wird, die Frage nach der „Allgegenwart, Allwissenheit und
Allwirksamkeit Gottes“ (Artur Weiser, ATD 15, Die Psalmen II, Göttingen 1973, S. 553). Nach Psalm
139,16 war Gott dabei, als der Mensch im Verborgenen in den Tiefen der Erde gewirkt wurde. Und Gott wird
auch dabei sein, wenn der Mensch wieder von der Erde geht. „Anscheinend verwendet der Dichter die
altmythologische Vorstellung von der Erde, der Mutter alles Lebendigen, als poetisches Bild zur Illustration
des göttlichen Geheimnisses, in das für ihn seine Geburt getaucht ist. Doch nicht nur der Anfang seines
Lebens lag für Gott im klaren Lichte seines Wissens, auch die Gesamtheit seiner Lebenstage ist von ihm
aufgeschrieben im »Buch des Lebens«“, in dessen Hintergrund die aus Babylonien bekannten
Schicksalstafeln stehen (Artur Weiser, a. a. O. S. 557). »Golem« umschreibt demnach eine formlose Masse,
etwas Ungestaltetes, einen Embryo (vergleiche dazu Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches
Handwörterbuch über das Alte Testament, 17. Auflage, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1962, S. 142). Nach
dem Schöpfungsbericht aus 2. Mose 2 haucht Gott dem aus Erde geschaffenen Menschen seinen
Lebensodem ein (vergleiche dazu 2. Mose 2, 7). Anders als in 2. Mose 2 bleibt in Psalm 139, 16 offen, wie
das Leben in die formlosen Masse des Embryos kommt. Für Peter Schäfer wird genau diese Offenheit zum
„Sprungbrett für die Ausbildung aller weiteren Golem – Legenden“ (Peter Schäfer S. 4) und ihrer
Metamorphosen vom Zauberlehrling von Johann Wolfgang von Goethe über Mary Shelleys Frankenstein-
Roman bis hin zu den Vorstellungen von Cyborgs, Androiden und mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten
Robotern.

Nach Peter Schäfer überliefert der babylonische Talmud den ersten menschlichen Versuch, einen Menschen
zu schaffen. „Dort wird behauptet, dass ein vollkommen gerechter, d. h. sündloser Rabbi nicht nur einen
Menschen, sondern eine komplett neue Welt erschaffen könnte – nur leider erfüllt kein sterblicher Mensch
diese Bedingung. Ein Rabbi versucht es trotzdem, und es gelang ihm tatsächlich, einen »Mann« zu
erschaffen – doch […] das Entscheidende fehlte: der Lebensatem“ (Peter Schäfer a. a. O.). Im anonymen
„Buch der Schöpfung“ wird der Kosmos und der Mensch auf die Zahlen 1 bis 10 und die 22 Buchstaben des
hebräischen Alphabets zurückgeführt. „Wer die zehn Zahlen und die 22 Buchstaben in der rechten Weise zu
kombinieren versteht, kann eine neue Welt und eben auch einen neuen Menschen erschaffen. Den
Buchstaben des […] Gottesnamens JHWH“ soll dabei als den magisch potentesten Buchstaben des
hebräischen Alphabets eine besondere Bedeutung zukommen (Peter Schäfer S. 5). Über jüdische Zirkel im
12. und 13. Jahrhundert vor allem im Rheinland, die sich die „Frommen von Aschkenas“ nannten, kommt die
Vision von der Menschenschöpfung auch nach Prag und lagert sich an der Gestalt von Rabbi Judah Loew
von Prag an. „Er soll der erste gewesen sein, der erfolgreich einen Golem zur Verteidigung der Prager Juden
erschuf […]. Die Überreste dieses Golems, den Rabbi Judah Loew nach getaner Arbeit wieder zu Staub
beförderte, sollen bis heute auf dem Dachboden der Altneu-Schul liegen“ (Peter Schäfer S. 6).

Die glänzend aufbereitete und tief schürfende Publikation zur Ausstellung beantwortet in ihrem ersten
Kapitel die Frage, was die Golems von heute sind, mit dem Verweis auf die Technologien, die ihrem
Schöpfer entgleiten und zur Bedrohung werden. Demnach sind die Golems von heute Metaphern für die
bedrohlichen Seiten von Androiden, Klonen und Cyborgs. Exponaten wie dem Humanoiden Roboter
REEM-C von PAL Robotics, Spanien 2013 und der Fotografie von Prof. Shmuel Ruchmann und Prof.
Bertrand Bussell am Golem-Computer in den Jahren 1960 – 70 in Israel werden auf der linken Seite
weiterführende Texte gegenübergestellt, so die Grundregeln der Robotik von Isaac Asimov und ein Interview
mit Prof. Buchmann über die Entwicklung der ersten Computer und Großrechner in Israel. Nach Isaac
Asimov darf ein Roboter erstens „der Menschheit keinen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen“,
dass ihr Schaden zugefügt wird. Er muss zweitens dem ihm von einem menschlichen Wesen gegebenen
Befehl gehorchen, es sei denn, dies würde das […] erste Gesetz verletzen“ (Isaac Asimov S. 18). Das
Schaltungsmodul des Großcomputers Golem Aleph, Metall, Plastik, Silizium, 7,5 x15 x 1 cm ist ein drittes
Exponat in diesem Kapitel, ein Fotostill mit einem Cyborg aus dem Film EX_Machina von Alex Garland,
England, 2015, ein viertes.

Das zweite Kapitel greift die Vorstellung der jüdischen Mystik auf, dass, wer einen Golem schafft, sich Gott
anzunähern versucht, um spirituelle Vollkommenheit zu erlangen. In diesem Kapitel ist unter anderem die
228,6 x 228,6 x 50,8 cm große, aus Metall, Keramik, Glasfaser, Holz und den Buchstaben des hebräischen
Alphabets geformte Skulptur ‚Golem‘ von Joshua Abarbanel, USA, 2016 und eine auf einem 14,5 x 11 cm
großen Notizzettel festgehaltene handschriftlich Abschrift einer anonymen Anleitung zur Schaffung eines
Golems aus der Mitte des 17. Jahrhunderts von Gershom Scholen zu finden. „[…] wenn du den Körper
machst, nennst du die Gestalt aleph mit ihren Buchstaben, wie ich es dir gezeigt habe. Und wenn du die
Eingeweide machst, kombiniere den Buchstaben mem; und wenn du den Kopf machst, kombiniere die
Gestalt shin; und wenn du den Mund machst, kombiniere den Buchstaben bet; für das rechte Auge die
Gestalt gimel, für das linke Auge he; für die rechte Nase kaf, die linke Nase pe […]; die linke Niere jod;
Leber lamed; Galle nun […]; Bauchnabel kof […]“.

Das dritte Kapitel geht dem Motiv der Verwandlung und der Vorstellung nach, dass „All artists are golem
makers“ (Tobi Kahn), das vierte dem Mythos Prag und der Sage der Prager Juden. Das fünfte Kapitel
skizziert die filmische Adaption des Golem-Mythos durch Paul Wegener in Auszügen aus dem Drehbuch,
Stills und Plakatentwürfen. Weitere Kapitel thematisieren seine zerstörerischen Kräfte und seine Androidenund
seine Doppelgänger im Comic. Die hohe Zahl der Beiträger, die Fülle der Exponate und Verweise und
die Aufarbeitung des Materials auf höchstem Niveau legen es nahe, dass, wer künftig an der weiteren
Aufarbeitung der Vision von von Menschen geschaffenen Menschen arbeiten will, auf die Publikation
Golem zurückgreifen muss.

ham, 5. Oktober 2016
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ham, 5. Oktober 2016

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