Mit Beiträgen von Monika Wohlrab-Sahr, Horst Dreier, Christoph Türcke, Hans G. Kippenberg, Sebastian Schüler, Gudrun Krämer, Mathias Rhode, Micha Brumlik, Angelika Malinar, Armin Nassehi, Sabine Maasen, Ursula Roth, Magnus Striet und von den Herausgebern 

Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2019, ISBN 978-3-11-058125-6, 290 Seiten, 1 Abbildung,

Format 23,5 cm x 16 cm, € 39,95

Die Konflikte zwischen konkurrierenden Sinnstiftungsystemen sind spätestens seit dem Terroranschlag am 7. Januar 2015 auf das Redaktionsbüro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den koordinierten islamistischen Attentaten vom 13. November 2015 unter anderem auf Besucher eines Rockkonzerts im Batacan-Theater in Paris einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Einer der Hintergründe der Attentate war der für „modern“ sozialisierte westliche Journalisten völlig normal und legitim erscheinende, für ideologisierte, an den Ursprüngen des Islam orientierte junge Islamisten aber undenkbare Abdruck von Mohammedkarikaturen und der daraus folgende Aufruf zum Mord an dem Chefredakteur von Charlie Hebdo.

Für den liberalen systematischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf ist die Gewaltbereitschaft der ideologisierten jungen Muslime Teil der Anpassungsprobleme illiberaler Formen von Religion an den in Mitteleuropa schon lange als selbstverständlich geltenden aufgeklärten Umgang mit Autoritäten, aber auch die Folge der von den politischen Eliten Europas allzu lange vernachlässigten Einsicht, dass sich Einwanderungsgesellschaften den mit ihnen einhergehenden intellektuellen und politischen Herausforderungen stellen und konfliktfreundlichere Formen des Umgangs mit den daraus folgenden  konkurrierenden Sinnsystemen finden müssen.

Graf und der Indologe und Iranistiker Jens-Uwe Hartmann gehen davon aus, dass religiöse Akteure in vielen modernen Gesellschaften trotz aller Säkularisierung weiterhin eine starke kulturelle Prägekraft entfalten. „Vor allem außerhalb Europas entwickeln sie „verstärkt große Mobilisierungskraft, erzeugen mit ihren Sinnangeboten, Weltdeutungen und Heilsversprechen aber auch zahlreiche und oft sehr hart ausgetragene Konflikte. Dabei zeigt sich deutlich die elementare Ambivalenz des Religiösen. Religion kann zur inneren Integration von Gesellschaften beitragen und politische Institutionen stärken. Sie kann aber auch Polarisierungstendenzen zwischen den unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften und ethnischen Gruppen verschärfen sowie die Exklusion der jeweils Anderen, Fremden begründen und fördern. Keineswegs nur im modernen politischen Islam und seinen Konzepten des ‚Heiligen Krieges‘ oder des religiös fundierten ‚Islamischen Staates‘, sondern auch in anderen Religionsgemeinschaften, etwa in einigen außereuropäischen Christentümern, lässt sich neue Glaubensgewalt beobachten. Konzepte des ‚Heiligen Krieges‘ wurden nicht nur in den Religionsgeschichten der Juden und Christen tradiert, sondern ebenso in denen der Hindus […]. 

Zu den normativen Konflikten, die religiöser Glaube in der Moderne erzeugt, gehören zudem die immer neuen Spannungen zwischen den starken emotionalen wie kognitiven Bindungen an den je eigenen Gott einerseits und säkularen Wissensordnungen andererseits, etwa die elementaren Antagonismen zwischen einer allein göttlichen Wahrheit verpflichteter Glaubensgewissheit und durch methodischen Zweifel wie skeptisches Infragestellen geprägter wissenschaftlicher Vernunft. Indem der freiheitliche Rechtsstaat in seinen Verfassungen Religions- und Gewissensfreiheit als ein vorstaatliches Grundrecht institutionalisiert, ermöglicht er die freie Entfaltung ganz unterschiedlicher religiöser Weltdeutungen und Orientierungssysteme, gibt so aber, paradox genug, auch religiösen Akteuren Raum, die Geltung staatlichen Rechts aufgrund ihres ‚göttlichen Rechts‘ in Frage stellen und das Gewaltmonopol des Staates mit Unbedingtheitspathos bestreiten. Deshalb haben sich auch die Spannungen zwischen religiösen Gewissheiten und positivem Recht seit den 1980er Jahren in vielen Gesellschaften dramatisch verschärft“ (Friedrich Wilhelm Graf / Jens-Uwe Hartmann S. 1f.)

Graf erinnert in seiner Einleitung in die derzeitigen religiösen Entwicklungen an Ernst Troeltschs schon 1913 veröffentliche, aber nach wie vor aktuelle Skizze der religiösen Lage im frühen 20. Jahrhundert. Demnach müsse, wer Religion zu deuten versuche, sich langsam wandelnde historische Entwicklungen mit Einzelbefunden zusammendenken, um dann mit Blick auf das Einzelergebnis einerseits das Ganze erleuchten zu können und andererseits das je Besondere aus dem Zusammenhang des Ganzen verständlich zu machen. „Ohne einen ausgeprägten Blick für das Historische und die bleibende Prägekraft uralter Traditionen lasse sich Religion in der Moderne nicht angemessen deuten. Denn viele Religionsgemeinschaften […] seien Traditionsmächte“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 3). Dazu komme, dass sich die eigentlichen Kräfte und Leistungen des religiösen Lebens im Verborgenen und Inneren abspielen, nur schwer zu deuten sind und die öffentlichen Darstellungen von Kirchen, Vereinen, Kirchenfeinden und Konfessionslosen und ihre laute Streit- und Kampfliteratur nur die Äußerungen eines kleinen, aber geschäftigen und die Presse beherrschenden Kreises seien. Schließlich sei es schwierig, den logisch nicht berechenbaren religiösen Wandel zu erfassen, weil religiöser Glaube zutiefst irrational sei. „Alte Riten und Symbole können einen grundlegend neuen Bedeutungsgehalt gewinnen, und religiöse Heilsvorstellungen wandeln sich gemäß der Sehnsüchte und Hoffnungen, die die Frommen aufgrund ihrer je eigenen Lebensumstände haben. Weil in den Heiligen Schriften gerade der großen monotheistischen Religionsfamilien Judentum, Christentum und Islam der eine Gott – so unterschiedlich er jeweils auch vorgestellt werden mag – als Gesetzgeber auftritt, der die Menschen auf die treue Beobachtung der von ihm verkündigten moralischen Normen, Gebote und Weisungen verpflichtet, sind Glaubensvorstellungen hier oft sehr eng mit Vorstellungen guten Lebens oder idealer Lebensführung verknüpft. So beeinflusst Religion mehr oder minder stark auch die in der Gesellschaft herrschende Moral, wird dann aber zugleich auch vom allgemeinen ‚Wertewandel‘ bestimmt“ (Friedrich Wilhelm Graf S.5).

Religion und Leben durchdringen sich; die elementaren Verwobenheit des Religiösen mit ökonomischen Interessen oder politischen Machtansprüchen lassen sich in aller Regel ebenso wenig genau erkennen wie die Selbstdeutungen und politischen Absichten entschiedener Gegner aller Religionen. „Auch sie verfolgen in den von ihnen selbst als Eintreten für Emanzipation und Aufklärung geführten Kulturkämpfen gegen die Macht der Kleriker – Antiklerikalismus ist gerade in den dominant katholischen Gesellschaften Europas eine wichtige Signatur der modernen europäischen Religionsgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert – höchst weltliche Interessen […]. Wer Religion in der Moderne erfassen will, muss deshalb die zahlreichen Konflikte zwischen den Frommen einerseits und Ihren religionskritischen Gegnern andererseits auch im Blick auf die Frage erkunden, inwieweit Glaubenskritik ihrerseits von religiösen Motiven inspiriert ist“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 6). 

Bei den Konflikten zwischen miteinander konkurrierenden Akteuren geht es nicht nur um Rivalitäten etwa im Streit um öffentliche Sichtbarkeit, sondern auch um die Zeichnung diskriminierender Zerrbilder Andersgläubiger und Abgrenzung. So ist die im Koran zu findende Abwertung der Juden als Affen und Schweine im hochmittelalterlichen Christentum in das Bild der „Judensau“ eingewandert und beschäftigt unter anderem den Wittenberger Kirchengemeinderat, Kläger wie den durch die Darstellung beleidigten Juden Michael Düllmann und Gerichte bis in die Gegenwart (vergleiche dazu das Urteil zu „Judensau-Relief“ an der Wittenberger Stadtkirche: https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/dessau/wittenberg/olg-naumburg-verhandelt-judenfeindliches-relief-100.html und https://www.mdr.de/nachrichten/politik/gesellschaft/prozess-um-umstrittene-plastik-an-wittenberger-stadtkirche-100.html). Dass sich andererseits hoch erregbare und tatbereite Fromme in ihrer Vorstellungswelt scheinbar von Gott selbst zu religiös motivierter Gewalt hinreißen lassen, braucht nach dem Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001 keiner weiteren Erläuterung (vergleiche dazu etwa https://www1.wdr.de/archiv/elfter-september/chronik100.html).

Nach Graf ist die entscheidende Signatur modernitätsspezifischen religiösen Wandels „ein neuer Pluralismus der Sinndeutungen, mit dem sich sowohl massive Individualisierungsschübe sowie neue Konflikte zwischen und innerhalb der Konfessionen bzw. Religionsgemeinschaften als auch Kulturkämpfe zwischen den Vertretern überkommener religiöser Deutungskulturen und den Repräsentanten spezifisch moderner Deutungsperspektiven der Wissenschaft oder wissenschaftsgestützten ‚Weltanschauungen‘ verbinden. Religion wird seit dem 19. Jahrhundert verstärkt polymorph, vielgestaltig, und die mit dieser neuen Vielfalt verbundenen Konflikte wirkten häufig religiös mobilisierend, förderten also religiöse Dynamik und Wandel“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 10). 

In den Beiträgen des Sammelbandes warnt die in Leipzig lehrende Kultursoziologin Monika Wohlrab-Sahr vor staatlichen Eingriffen in die fundamentalen Freiheitsrechte und versucht zu zeigen, dass sich die Antagonismen zwischen dem Schutz religiöser Empfindungen einerseits und den Grundrechten auf Meinungs- und Kunstfreiheit andererseits nur in immer neuen Aushandlungsprozessen aufheben lassen. Der in Würzburg lehrende Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht Horst Dreier hält die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates für einen Freiheitsgewinn, führt den Nachweis, dass dem Neutralitätsgebot im Grundgesetz eine Schlüsselrolle zukommt und zeigt auf, dass es „allen systematischen Einwänden standhält“ und „als tauglicher verfassungsrechtlicher Maßstab im Sinne eines Identifikationsverbots und einer Begründbarkeitsanforderung fungieren kann. Die Neutralität des Staates ist also möglich und realisierbar. Man darf das Gebot allerdings weder als Ergebnisneutralität ausbuchstabieren noch als Einschränkung des freien demokratischen Willensbildungsprozesses fehlinterpretieren“ (Horst Dreier S. 80 f.). Der von 1999 bis 2004 in Leipzig lehrende Philosoph Christoph Türcke schließlich widmet sich am Beispiel des Karikaturenstreits der spannungsreichen Beziehung von Blasphemie und Aufklärung und wirbt im Blick auf die polyethnischen und multireligiösen Gesellschaften insbesondere Europas für Fingerspitzengefühl beim Umgang mit potenziellen Konflikten: „Takt ist […] ein humanes Sediment, das auch der Satire nicht schlechterdings fehlen darf. Daher ist es grundfalsch, aus Solidarität mit Charlie ein ‚Recht auf Blasphemie‘ zu fordern. Nach wie vor gilt: Hohn und Spott sind widerlich, wenn sie gegen Schwache und Unterlegene gehen, und befreiend, wenn sie beleidigte Leberwürste anpieken. Nur wache Urteilskraft kann das eine vom anderen sorgsam unterscheiden“ (Christoph Türcke S. 92).

ham, 17. Februar 2020

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