Verlag C. H. Beck, München 2025, ISBN 978-3-406-82895-9, 249 Seiten, sieben Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 × 14,3 cm, Euro 28,00
Meine erste Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche liegt fast 60 Jahre zurück: Ich hatte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einen zweistündigen Vortrag für den Oberstufenreligionsunterricht im Robert-Mayer- Gymnasium in Heilbronn vorzubereiten und dafür wie im Rausch Nietzsches »Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik« von 1872, seine »Unzeitgemäßen Betrachtungen« von 1873–1876, »Menschliches, Allzumenschliches« von 1878–1880 gelesen und weiter »Die fröhliche Wissenschaft« (1882), »Also sprach Zarathustra« (1883–1885), »Zur Genealogie der Moral« (1887) und »Der Antichrist« (1895) in der Ausgabe von Goldmanns Gelben Taschenbüchern gelesen. Karl Ulmers Band »Nietzsche. Einheit und Sinn des Werks« in der Ausgabe der Dalp-Taschenbücher hat mir den Zugang erschlossen. Nietzsches Erwägungen haben mich nicht wie ihn zur Absage an das Christentum und zur Aufgabe des Theologiestudiums bewogen, sondern mit dazu gebracht: Ich wollte nach meiner Nietzsche-Lektüre wissen, wie breit und vielfältig die Welt auch sonst gedeutet und verstanden wird. Und ich wollte erfahren, was Menschen in der Tiefe ihrer Herzen bewegt und ob und wie man ihnen dabei hilfreich zur Seite stehen kann. Dieses Interesse ist mir bis heute geblieben. Deshalb war ich gespannt, was die vormalige Assistentin von Eberhard Jüngel und Christoph Schwöbel am Institut für Hermeneutik der Universität Tübingen, langjährige Professorin für Systematische Theologie und jetzige Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau Christiane Tietz in den Monaten vor ihrem Amtsantritt am 26. Januar 2025 in Sils Maria über Friedrich Nietzsches Verhältnis zum Christentum erarbeitet hat (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Christiane_Tietz).
Tietz setzt in ihrer rechtzeitig vor dem einhundertfünfzigsten Todestag von Nietzsche erschienenen luziden Studie anders als Karl Ulmer nicht mit einem Nietzsche-Zitat (vergleiche dazu »Die unbedingten Huldigungen« aus Nietzsches »Morgenröte« 167 unter https://www.textlog.de/nietzsche/schriften/morgenroete/die-unbedingten-huldigungen) und der These ein, dass sein ganzes Denken in der Formel der Wille zum großen Menschentum und zur höheren Kultur zusammengefasst werden kann, sondern mit der Rekonstruktion der weltverneinenden Christusfrömmigkeit von Nietzsches Vater, der Fügsamkeit der Mutter gegenüber Gott und dem frühen Tod des Vaters als Anfrage an Gott. „Dem jungen Friedrich war wichtig, die Mutter seines Gehorsams gegenüber Gott zu versichern: »Dank sei Gott, der Dich am Leben, / Theure Mutter noch erhielt, / Fröhlich will ich ihn erheben / Folgsam thun, was er befiehlt.« (Friedrich Nietzsche nach Christiane Tietz, Seite 23). Über seine Großmutter Erdmuthe Krause wurde Nietzsche mutmaßlich mit Vorstellungen eines am theologischen Rationalismus orientierten vernünftigen Christentums bekannt. Seine Tante Rosalie stand demgegenüber der Erweckungsbewegung nahe und arbeitete an der örtlichen Gustav-Adolf-Stiftung mit.
„Ab 1855 ging Nietzsche auf das Naumburger Domgymnasium. Dort gab es einen »wahrhaft erbärmlichen Religionsunterricht«, in dem biblische Geschichten und der Katechismus auswendig zu lernen waren. Zur sonn- und feiertäglichen Pflicht der Schüler gehörte der Besuch des Domgottesdienstes. Weil die Mitschüler Nietzsche wegen seines Ernstes verspotteten, zog er sich bald in sich selbst zurück: »Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit u. fand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestört mir selbst überlassen konnte.« Dies war »der freie Tempel der Natur«. Gerade bei Gewitter fühlte er sich wohl; sie »vermehrten nur meine Ehrfurcht gegenüber Gott« (Christiane Tietz, Seite 27). Mit seinen Freunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug teilte er die Liebe zu Musik, Literatur und Kunst. Im Hause Krug verkehrten große Musiker wie Felix Mendelssohn Bartholdy oder Clara und Robert Schumann. Schon als Kind dachte er über die Dreieinigkeit Gottes und die Entstehung des Teufels nach.
In der Eliteschule Landpforta begeisterte sich Nietzsche für den Geistlichen Robert Buddensieg, bei dem er im ersten und dritten Jahr Religionsunterricht hatte. In seinen Schulpredigten legte Buddensieg gut pietistisch Wert auf die persönliche Erfahrung von Sünde, Umkehr und Wiedergeburt und schärfte den Schülern ein, dass die Pforte den Eigenwillen brechen muss. Er erteilte auch den Konfirmandenunterricht. Buddensieg erkankte kurz nach der Konfirmation schwer und starb bald darauf. Für Nietzsche war das schwer. „»Doch – was Gott thut, das ist wohlgethan!«. Noch einmal versuchte Nietzsche, sich angesichts eines erschütternden Todesfalls zu einem Vertrauen auf Gott aufzuschwingen“ (Christiane Thietz, Seite 41). Im Übersetzer und Dichter Ernst Ortlepp begegnete Nietzsche in Schulpforta aber auch einer tiefgreifenden Christuskritik. Ortlepp hatte seine letzten Jahre in Naumburg verbracht und war immer wieder an seiner ehemaligen Schule vorbeigekommen. Einige seiner Texte kreisten um das Problem von Unglück und Gottvertrauen. Besonders beklemmend ist Orlepps Vaterunser des 19. Jahrhunderts, das unter dem Motto steht: »Allen, die gezweifelt und gerungen, / Sei das grause Lied gesungen!«. Es ist das erschütternde Hadern mit Gott angesichts des Leidens in der Welt: » Vater! – Vater? – Soll ich so dich nennen, / Der du Millionen riefst an’s Licht, / Denen Thränen in den Augen brennen, / Deren Herz der Qualen Dolch durchsticht …« (vergleiche dazu https://www.ernst-ortlepp.de/ortlepp_vu.pdf). „Manchmal deklamierte Ortlepp seine Gedichte bei Schulfesten. Deshalb ist anzunehmen, dass Nietzsche dieses religionskritische Gedicht gekannt hat. Hier erlebte er das erste Mal einen Menschen, der seinen Zweifeln an der Vorstellung von einem guten Gott ungehemmt nachgab“ (Christiane Tietz, Seite 42).
Zu seinem 17. Geburtstag im Oktober 1861 wünschte sich Nietzsche Ludwig Feuerbachs 1841 erschienenes religionskritisches Manifest Das Wesen des Christentums und formulierte in dieser Zeit erste Anfragen an die traditionelle Lehre von Jesus Christus. Gleichwohl dichtete er bis ins Jahr 1862 Kirchenlieder. Ein vierstrophiges Kirchenlied atmet noch pietistische Jesusfrömmigkeit, die den Blick Jesu beschreibt, der den sündigen Menschen in seiner Liebe schmerzlich trifft. Die letzte Strophe lautet romantisch: »Du bist so milde, / Treu und innig, / Herzminnig, / Lieb Sünderheilandsbilde! / Still mein Verlangen, / Mein Sinn’n und Denken / Zu senken / In deine Lieb, an dir zu hangen.« Nach dem Abitur entscheidet er sich dazu, Evangelische Theologie und Philologie in Bonn zu studieren. Im Oktober 1864 schreibt er sich an der Universität Bonn für Evangelische Theologie ein. Im Februar 1865 unterrichtet er seine Mutter und seine Schwester über seine Wendung zur Philologie und wechselt im Sommersemester 1865 an die philosophische Fakultät. In seinem Lebenslauf, den er zu seiner Einstellung an der Universität Basel einreichen musste, fasst er seine theologischen Streifzüge so zusammen: »In Bonn richteten sich meine Studien eine Zeitlang auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung«. Im Sommer 1865 tritt er im familiären Streit für ein Christentum ein, das sich nicht an die Reichtümer und Vergnügungen der Welt verliert, sondern enthaltsam lebt und gleichzeitig liebevoll und mitleidig gegenüber allen anderen ist.
Im Oktober 1865 wechselt er nach Leipzig, um bei dem Altphilologen Friedrich Ritschl weiterzustudieren. Im Herbst und Winter 1866/67 verwirft er den Satz, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist. Nach dem Studium von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung wird ihm klar, dass er nicht als Theologe existieren kann. Im Oktober 1868 bereitet er seine gleichzeitige Promotion und Habilitation vor. Im Februar 1869 erhält er den Ruf auf die außerordentliche Philologieprofessur in Basel. Im März 1960 wird er aufgrund seiner bisherigen Veröffentlichungen ohne eine mündliche Prüfung in Abwesenheit promoviert. Im Mai 1869 hält er seine Antrittsvorlesung über Homer. Seine Hoffnung, auf eine Philosophieprofessor wechseln zu können, erfüllt sich nicht. Er bekommt Kontakt zu christlich geprägten Baseler Kreisen, die sich in der Evangelischen Allianz engagieren. Ihre Art der Frömmigkeit stößt ihn ab. Aber er hält sie aber noch für eine andere Form von Christlichkeit. Aus dem Kontakt mit Richard Wagner und dessen Lebensgefährtin Cosima von Bülow entsteht 1872 Nietzsches erste Monographie Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. „Im »Vorwort an Richard Wagner« stimmte Nietzsche diesem zu in der Einschätzung »der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlichen metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens«. Die Kunst tritt in diesem Text an die Stelle des Christentums, indem sie wie die Religion auf etwas Größeres verweist“ (Christiane Tietz, Seite 76 f.). Richard Wagner war von dem Buch begeistert und hielt Nietzsche für den einzigen, der weiß, was er will. In Leipzig hingegen war man der Ansicht, dass Nietzsches Text barer Unsinn sei.
Im April 1870 wird er mit dem Theologen Franz Overbeck bekannt und leitet aus dessen kritischer Theologie die Vorstellung ab, dass ein gebildeter Mensch mit der christlichen Religion nichts zu tun haben kann. Sein erstes Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen rechnet mit der 1872 erschienen Schrift Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis von David Friedrich Strauß ab und kommt zu dem Ergebnis, „dass Strauß’ neue Religion mit der neuen Wissenschaft zusammenfällt und also – anders als der Titel seines Buches behauptet – gar kein Glaube, keine Religion ist“ (Christiane Tietz, Seite 82).
„Häufig drängt sich bei Nietzsche in dieser Zeit die Überzeugung auf, man müsse gar nicht mehr aktiv gegen das Christentum kämpfen. Die Ermüdung in Bezug auf diese Religion –,» [a]lle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harm- und gedankenlosesten und die reflectiertesten, sind durchprobirt«, »[s]elbst der Spott, der Cynismus, die Feindschaft gegen das Christenthum ist abgespielt«, sei so groß, dass man sich der Auseinandersetzung mit dem Christentum ganz enthalten könne.
In einem postum veröffentlichten, 1873 entstandenen Text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, der als Grundlage der späteren Postmoderne und des Strukturalismus gilt und fundamentale Auswirkungen auf die Einschätzung religiöser Wahrheiten haben sollte, entfaltete Nietzsche seine Überzeugung, dass Wahrheiten nur auf Konventionen beruhen“ (Christiane Tietz, a. a. O.).
In seinem 1876 aufgrund starker Kopfschmerzen, Erbrechen und Rückenproblemen erbetenen Sabbatical reist Nietzsche nach Bayreuth, um an den ersten Bayreuther Festspielen teilzunehmen. Er besucht die erste Probe von Wagners Götterdämmerung, ist aber enttäuscht und kann ihr – wohl auch wegen starker Kopf- und Augenbeschwerden – nichts abgewinnen und entfernt sich vorzeitig. „Mehr und mehr gelangte Nietzsche zu der Auffassung, dass Wagners Musik eine »metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen« sei, die »in allem und Jedem ein Wunder und ein Unding sehen will«. Sie habe ihn »endlich krank und kranker« gemacht und fast seinem »guten Temperamente« und seiner »Begabung entfremdet«. So war er froh, dass er in Bayreuth zu sich kam und aufhörte, das »Opiat« Wagner zu nehmen: »ich sah ein, dass es höchste Zeit war, mich auf mich zurückzubesinnen“ (Christiane Tietz, Seite 86). 1886 distanziert sich Nietzsche von seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie. Es war ein Buch vielleicht für Künstler mit einer Artisten- Metaphysik im Hintergrund (vergleiche dazu Christiane Tietz, Seite 87). Er verabschiedet sich von der Kunstreligion und wendet sich der Frage zu, ob der Mensch als freier Geist gedacht werden kann und ob Gott gut ist, wenn die Welt so ambivalent erscheint. Er kommt zu der Vorstellung, dass eine Verirrung der Vernunft und Phantasie den christlichen Glauben hervorgebracht hat, hört damit auf, ein Christ zu sein, und versteht sich fortan als Freigeist. Im Oktober 1867 reist Nietzsche nach Italien und versucht, in Sorrent seinen Plan für eine Art Kloster für freie Geister umzusetzen. Im Februar 1878 bittet er um seine Entlassung aus dem Pädagogium. Sein Gesundheitszustand ändert sich dadurch nicht. Es entwickelt sich eine habituelle Schmerzhaftigkeit mit 200 Schmerztagen im Jahr. Anfang Mai 1879 reicht er bei der Baseler Behörde sein Entlassungsgesuch ein. Im Frühsommer 1879 löst seine Schwester seinen Haushalt in Basel auf. Ab 1881 verlebt er seine Sommer bis auf 1882 immer in Sils Maria im Oberengadin. Das sommerliche Klima im Engadin tut ihm gut.
„In schneller Folge erscheinen philosophische Texte, leider ohne publizistischen Erfolg. Schon vom ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches I von 1878 hatten sich statt der erhofften tausend Exemplare nur wenige hundert verkauft. Das sollte sich auch mit den weiteren Schriften kaum ändern. Ab 1886 zahlte Nietzsche alle Druckkosten für seine Publikationen selbst. Er versuchte sich damit zu trösten, dass seine Botschaft noch nicht verstanden werden könne“ (Christiane Tietz, Seite 98).
1882 arbeitet er in Die fröhliche Wissenschaft seine Vorstellung vom Tode Gottes aus. Schon Martin Luther war davon überzeugt, dass nur der Tod Gottes in Jesus Christus die Macht über den Tod gebrochen hat. Wenn nicht Gott, sondern nur die menschliche Natur Jesu gestorben wäre, wäre das Sterben Jesu wie jedes andere menschliche Sterben ohne jegliche Heilsbedeutung geblieben. Wenn sich aber Gott in den Tod begibt, bekommt der Tod seinen Ort in Gott; der „Tod ist nicht länger Gottesferne. Das bedeutet, in den Worten von Eberhard Jüngel: »Wo der Tod nun auch hinkommt, da kommt Gott selbst.« Entsprechend hat sich schon im Tod Jesu, nicht erst in der Auferstehung, die Wirklichkeit des Todes verändert.“ (Christiane Tietz, Seite 151).
Über Georg Wilhelm Friedrich Hegel kommt dieser Gedanke zu Nietzsche. Auf der Suche nach der Bejahung des Lebens, so wie es ist, reicht es ihm nicht mehr, sich vom weltverneinenden Jenseitsglauben zu lösen und Gott zu leugnen. Es war ihm auch nicht genug, die Absurdität des Kulturphänomens Religion nachzuweisen und vom Absterben des Christentums zu sprechen. „Der christliche Gott müsse getötet werden, weil der Glaube an ihn die lebensförderlichen menschlichen Instinkte, das heißt die unmittelbare Lebenskraft zerstöre. Der christliche Gott ist nach Nietzsche ein »Krankengott«. Im Glauben an ihn sagt man »dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft an«; er ist die »Formel für jede Verleugnung des ›Diesseits‹, für jede Lüge vom ›Jenseits‹!« In ihm wird »das Nichts vergöttert, der Wille zum Nichts heilig gesprochen!« (Christiane Tietz, S. 153). In der Folge erzählt Nietzsche im „dritten Buch von Die fröhliche Wissenschaft die Parabel von einem »tollen« Menschen, der die Botschaft vom Tode des christlichen Gottes unter die Menschen bringt … Am hellen Vormittag zündet der tolle Mensch eine Laterne auf dem Markt an. Er will unter die Menschen. Es herrscht in seiner Wahrnehmung durchgehend Nacht, weil die Menschen sich vom Leben spendenden Licht losgesagt haben … Auf dem Markt schreit der tolle Mensch: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Er wird verspottet von Menschen, »welche nicht an Gott glaubten«. Sie ätzen, ob Gott sich verlaufen habe oder versteckt, vielleicht auch ausgewandert sei? Ist der Rufer wirklich wahnsinnig – oder wird er von Ihnen nur für wahnsinnig gehalten, weil sie als Glaubenslose sein Suchen nach Gott gar nicht mehr verstehen?… » Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder« .… Nur dem tollen Menschen ist bewusst, was für eine ungeheure Tat das ist. Die alten Symbole für Gott – das unendliche Meer und die lebensspendende Sonne – und die Ausrichtung der Welt auf Gott sind nun zerstört. »Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? …. Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten?“ (Christiane Tietz, S. 153 ff.)
Bei einer Wanderung im oberen Engadin kommt ihm im August 1881 die Vorstellung von der Wiederkehr des Gleichen in den Sinn. Mit diesem Konzept versucht er, die ihn seit seiner Kindheit bedrängende Frage zu lösen, wie das, was in der Welt geschieht, zu verstehen ist. Die bisherigen Antworten überzeugen ihn nicht. Zu seinem Konzept der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist er über physikalische und chemische Überlegungen gekommen. „Aus dem Nachdenken über die Welt der Kräfte, in der es weder zum Stillstand kommt noch zur Verringerung der Gesamtmenge der Kräfte, zog er den Schluss, dass die Welt jeden möglichen Zustand bereits erreicht haben müsste. Bei einer endlichen Anzahl von Elementen kann es nur zu einer endlichen Anzahl von Zuständen kommen. Also müssten diese sich im weiteren Lauf der Welt unendlich oft wiederholen. Weil der Mensch in diese Welt eingebunden ist, gilt die unendliche Wiederholung auch für das Leben des Menschen: »Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – […] bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislauf der Welt, wieder zusammenkommen.« Genau zu jenem Zeitpunkt wiederholt sich der gegenwärtige Moment erneut, es kommt zu Wiederkehr dessen, was schon einmal gewesen ist, und zwar unendlich oft, also ewig (vergleiche dazu Christiane Tietz, Seite 161).
Wenn das so ist, kann sich der Mensch nur noch in sein Schicksal ergeben. Aus der Liebe zu Gott wird die Liebe zum Schicksal. Amor fati bedeutet dann, dass man nichts anderes mehr haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Jetzt kommt es darauf an, die Welt so, wie sie ist, zu bejahen. Dazu braucht es keinen Gott mehr, aber den Übermenschen, der den Menschen rechtfertigt und zu allen Dingen Ja und Amen sagt, auch zur Vergänglichkeit.
„So wie der tolle Mensch den Tod Gottes auf einem Marktplatz verkündigt, verkündigt auch Zarathustra seine Lehre von Übermenschen auf einem Marktplatz. Der Übermensch tritt dorthin, wo früher Gott stand:
» Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch.« Der Übermensch korrigiert, worum es beim Blick auf das ferne Meer geht: Nicht um Gott als begrenzenden Horizont, sondern – der Horizont ist ja weggewischt – darum, dass es keine Grenzen mehr gibt. Der Übermensch verwandelt mithin die alte metaphysische Transzendenz in eine »immanente Transzendenz«. Hier, in der Welt, findet der Überschritt über den Menschen statt. Nietzsche verwendet für ihn das Bild des Seiltänzers. Wie ein Seiltänzer muss man lernen, die gegensätzlichen Kräfte des Lebens in Harmonie zu halten. So lebt man als »freier Geist« und bleibt gleichzeitig »der Erde treu«. Der Übermensch muss von Menschen geschaffen werden und ist seinerseits der Schaffende. Darin ist er dem alten Gott, dem Schöpfer, gleich … »Was gut und böse ist, das weiss noch Niemand: – es sei denn, der Schaffende!« Der Übermensch erst »schafft es, dass Etwas gut und böse ist«. Hier geschieht die »Umwerthung aller Werthe« (Christiane Tietz, S. 168). Der Übermensch schafft eine Herrenmoral, die selbst bestimmt, was gut und böse ist und der christlichen Nächstenliebe und der Mitmenschlichkeit den Abschied gibt.
1887 zog Nietzsche sich mehr und mehr aus der Welt zurück und schuf 1888 in seiner Einsamkeit zuerst in Nizza, dann in Turin und schließlich den Sommer über in Sils Maria in schneller Abfolge kraftvolle Texte wie Der Fall Wagner und Götzendämmerung sowie die Spätwerke Der Antichrist, Ecce Homo, Dionysos-Dithyramben und Nietzsche contra Wagner. Im Spätherbst 1888 mehren sich Anzeichen für Größenwahn. Im Wahn hält er sich selbst für Gott. Er wird in die Baseler Nervenklinik und danach von seiner Mutter in die psychiatrische Universitätsklinik von Jena gebracht. Lange Zeit galt eine Ansteckung mit Syphilis als Ursache für seine »paralytische Seelenstörung«. Heute werden ein Meningeom, ein gutartiger Hirntumor oder ein MELAS-Syndrom, eine neurodegenerative Erkrankung, vermutet. Im Mai 1890 holt ihn seine Mutter nach Naumburg. Er stirbt am 25. August 1900 und wird ohne kirchliche Beteiligung in seinem Geburtsort beigesetzt.
Nietzsches hartes Urteil über das Christentum begleitet Christiane Tietz auch in ihrem Amt als Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau. „Nüchtern ist einzugestehen: Etliches von Nietzsches Kritik am Christentum seiner Zeit – und auch an manchen Ausprägungen heute – ist berechtigt. Mit seiner Ablehnung eines weltflüchtigen Christentums, das sich auf das Jenseits fokussiert, trifft Nietzsche einen Nerv. Er sieht zurecht, dass Glaube dazu verleiten kann, vor den Aufgaben in dieser Welt in ein besseres Jenseits zu flüchten, statt sich verantwortungsvoll um eine Verbesserung dieser Welt zu mühen. Auch seine Wahrnehmung einer Mitleidsmoral, die sich am Elend des anderen ergötzt, und einer Nächsten- liebe, die den anderen klein und schwach hält, trifft Züge des Christentums, die überwunden werden sollten. Neuere Studien zum Geben und Helfen haben dies wie er angemahnt. Von Nietzsche muss man sich dazu auffordern lassen, so zu helfen und zu geben, dass der andere nicht in Abhängigkeit gerät, sondern in seinem eigenständigen Tun gestärkt wird“ (Christiane Tietz, S. 182).
Auch die Vorstellung seiner Familie, dass sich hinter den Leiden, die Menschen erleben, eine Absicht Gottes verbirgt, lässt sich nicht halten. Aber die Theodizeefrage, die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens und des Übels in der Welt, lässt sich nach Tietz auch anders beantworten. „Hinter dem Leid, das geschieht, steht oft – wenn auch nicht immer – schlicht menschliches Versagen. Gottes Allmacht muss nicht so gedacht werden, dass alles, was in dieser Welt passiert, direktes Wirken Gottes wäre. Gott schickt nicht das Leid, sondern ist den Menschen in ihrem Leiden nahe. Gott steht an ihrer Seite und trägt sie mit seiner Liebe. Davon handeln viele biblische Texte. Wie kann dann Gottes Allmacht gedacht werden? Während menschliche Liebe an Leid zerbrechen kann, wird Gottes Liebe durch nichts, was Menschen erleiden müssen, beeinträchtigt oder zerstört. Gottes Liebe – genau das ist ihre Allmacht – vermag alles zu ertragen, ohne daran zu zerbrechen. Sie hört niemals auf. Darin ist Gottes Liebe allmächtig. Anders als der Gott, den Nietzsche kennenlernte, aber auch anders als Nietzsches Gedanke der Wiederkehr des Gleichen, lässt dieser Gott dem Menschen die Freiheit, sein Leben selbstständig zu gestalten“ (Christiane Tietz, Seite 183).
ham, 29. August 2025