Zur leiblichen Kommunikation zwischen Benutzer und Raum in der Architektur
Ernst Wasmuth Verlag Tübingen, Berlin, 2013, ISBN 978-3-8030-0752-0, 280 S., zahlreiche
s/w-, Farbabbildungen und Grafiken, Klappenbroschur, Format 27 x 20 cm, € 45,–
Als Gegenübertragung wird in der Psychotherapie eine Form der Übertragung bezeichnet, mit
der ein Therapeut auf die auf ihn vom Patienten übertragene Gefühle reagiert, indem er
seinerseits seine Gefühle, Vorurteile und Erwartungen auf den Klienten überträgt. Wenn der
Therapeut diesem Impuls folgt, verlässt er seine neutrale Position. Die klassische
Psychoanalyse plädiert deshalb entschieden dafür, dass sich Therapeuten ihre
Gegenübertragungen bewusst machen und sie ausschalten. Die moderne Psychoanalyse sieht
die vom Therapeuten leiblich gespiegelten Gefühle dagegen als eine Art Resonanzboden an
und ein Feld von Informationen, in dem der Therapeut Erfolg versprechende Interventionen
abklären kann.
Im weiteren Sinn können die Wirkungen von Architekturen und Räumen mit dem Konzept
der Gegenübertragung verglichen werden. Die Sprache kennt diese Wirkungen, wenn sie
davon erzählt, dass Mauern „führen“, Räume sich „öffnen“, Dachfenster den Blick „über den
Himmel und in die Weite schweifen lassen“ und Gebäude „sich verschließen“. Es gibt
Architekturen, in denen sich die Bewohner wohlfühlen wie in bestens sitzenden Maßanzügen
und es gibt andere, in denen niemand heimisch werden kann. Architekturen haben also
Wirkungen, die man spüren und beschreiben kann. Angelika Jäkel schlägt vor, diese
Wirkungen „räumliche Gesten“ zu nennen. Sie beschreibt den Aufforderungscharakter dieser
Gesten wie folgt: „Räumliche Gesten… legen uns bestimmte Bewegungen, Haltungen,
Handlungen und auch Befindlichkeiten nahe. Wir spüren sie beiläufig als Ausdruck dessen,
was uns umgibt, und als Wirkung, die uns bewegt und auf die wir unmittelbar – mit
Bewegungen, Haltungen und Befindlichkeiten – reagieren. Räumliche Gesten treten uns
gegenüber als ein eigentümliches >>Verhalten<< der Dinge und Situationen, zu dem wir uns
auf ebenfalls markante Weise >>stellen<< können“ (Angelika Jäkel). Das von Jäkel verfolgte
Konzept der „Gestik des Raums“ bietet die Chance, die Wirkung von Räumen,
architektonischen Gesten und Formen schon bei ihrer Konzeption vorwegnehmend leiblich zu
erspüren und auf die Bedürfnisse und Erfordernisse der künftigen Bewohner abzustimmen.
Man kann dann, im Bilde gesprochen, die zu bauenden Architekturen wie Maßanzüge an die
Erfordernisse der Nutzer anpassen. Dass dieses Ideal nicht einfach umsetzbar ist, liegt für
Jäkel „in gewisser Weise in der Tatsache begründet, dass wir es in der architektonischen
Situation immer mit einem komplexen Gefüge von räumlichen Bedingungen, Blicken,
Ortsqualitäten, Wegebeziehungen, Nutzungsanforderungen usw. zu tun haben, die es
erfordern, mit jedem Entwurf die Frage nach dem Gelingen anders und neu zu beantworten.
Rezepte für gelungene architektonische Gesten kann es darum ebenso wenig geben, wie es in
der Architekturhistorie gelungene Rezepte für das Entwerfen gab. Aber: Architektonische
Gesten können so etwas wie die Repräsentation der >>Entwurfsidee<< sein, ein Ansatz, in
welchem als Gesamt der Wirkung eines architektonischen Entwurfs dessen prinzipielle
Qualitäten des Typus, der Erschließung, der vorgefunden Qualitäten des Ortes, aber auch
wesentliche Aspekte der Gestimmtheit als kinästhetische Gestimmtheit zusammen enthalten
sind und aufeinander bezogen diskutiert werden“ (Angelika Jäkel).
Architektonische Gesten als Repräsentation der Entwurfsidee würden den künftigen
Benutzern aber immerhin die Chance geben, auf Grund ihres eigenen leiblichen Spürens und
Empfindens als kritische Instanz der Entwurfsidee zu fungieren und vorwegnehmend zu
artikulieren, was Gesten wie das Raumschaffen, das Raumgliedern und das Dynamisieren von
Räumen mit ihnen machen. Die Rede von der >>Gestik des Raumes<< kann aber immerhin
zwei Grundkompetenzen des Architekten schärfen: „Beschreibend müssen wir die Wirkung
räumlicher Situationen beurteilen können, entwerfend müssen wir die Wirkung der
eingesetzten Formen und Gestalten voraussehen“ (Angelika Jäkel). Am Schluss des
theoretischen Teils der Studie steht eine vorläufige „Antwort auf die Frage, was denn das
spezifisch Architektonische an Gesten sei: Es ist dies, dass die gemachten Architekturen mich
meinen als den sich aufhaltenden, sich bewegenden und sich auf bestimmte Weise in
räumlichen Situationen vorkommenden Benutzer. Für das Entwerfen muss gelten: Nicht die
sichtbaren und materiellen Formen und Elemente allein gilt es zu gestalten. Insofern ist die
gebaute Architektur nur ein Medium, ein Mittel des eigentlichen Ziels von Architektur,
welches ist, den Aufenthalt und die leibliche Befindlichkeit des Menschen zu gestalten – wie
er sich in den Räumen bewegen wird, wie er sitzen wird, wohin sein Blick schweift, was die
räumlichen Möglichkeiten der Verwirklichung seiner Absichten überhaupt sind. Die
Wirkungsweisen architektonischen Raums gestisch aufzufassen und damit das leibliche
Empfinden des Benutzers als kritische Instanz in das Denken über Architektur einzubinden,
sollte hier aufgezeigt werden als ein möglicher Weg hin zu diesem Ziel“ (Angelika Jäkel).
Im abschließenden Teil analysiert Jäkel drei Häuser von Lois Welzenbacher. Die
Untersuchung kann zum einen zeigen, inwieweit „die entwickelten Begriffe und
Instrumentarien geeignet sind, architektonische Gesten zu identifizieren und deren Qualitäten
abzuschätzen. Der analytische Blick wird aber noch weiterzugehen haben: Wie tragfähig ist
das Konzept im Vergleich mit etablierten Methoden…? Ist die phänomene logische
Perspektive des Benutzers, die ich hier zugleich als analytische Perspektive gebrauchen will,
in der Lage, die Grundidee eines Hauses als Wirkung zu beschreiben? Und…: Was könnte der
architektonische Diskurs hieraus gewinnen?“ (Angelika Jäkel).
ham, 05.02.2014
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