Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 8. Juni – 2. September 2018 im Kunstmuseum Liechtenstein, herausgegeben von Friedemann Malsch mit Texten von Friedemann Malsch, Herta Müller, Thomas Lehnerer, Petra Giloy-Hirtz. Peter Friese, Axel Heil, Fabian Flückiger, Eckhard Lessmüller, Jochen Kade, Robert Schörghuber und Michael Feistle
Kunstmuseum Liechtenstein / Edition Cantz, Esslingen, 2018, ISBN 978-3-947563-15-9, 212 Seiten ca. 160 Abbildungen, Hardcover als Schweizer Broschur mit offener Fadenheftung, Format 21,4 x 29 cm,
€ 44,00
Dem 1955 in München geborenen Theologen, Künstler und Hochschullehrer Thomas Lehnerer blieben neben und nach seinem Studium der Theologie, Philosophie, Pädagogik, Kunstgeschichte und Kunst, seiner Promotion über die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers bei Falk Wagner zum Dr. theol., seiner Habilitation im Fach Ästhetik und Kunstwissenschaft mit der Arbeit Methode der Kunst und seiner Professur für Theorie und Praxis der visuellen Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel für die Erarbeitung seines zeichnerischen, plastischen und installativen Werks nur rund 15 Jahre Zeit, ehe er 1995 mit 39 Jahren verstarb. Die von Friedemann Malsch für das Kunstmuseum Liechtenstein erarbeitete und in dem vorliegenden Katalog kongenial dokumentierte Ausstellung ist seine bisher größte. Sein Denken und seine künstlerische Tätigkeit kreisten ein Leben lang um die existentiellen Fragen des Mensch-Seins, um Leben, Liebe, Glück und die Gerechtigkeit Gottes angesichts von Leid und Tod in der Welt.
Gezeigt und dokumentiert werden unter anderem eine Rekonstruktion seiner 1982 entstandene Installation ›Gott Tod Affe Affe‹ (vergleiche dazu etwa https://vimeo.com/277080890), Teile seiner Serie ›Die ganze Welt‹ (vergleiche dazu https://www.vaterland.li/fotogalerie/cme9716,1895705), eine Rekonstruktion seiner Belgrader Ausstellung im Studentski Kulturni Centar im Jahr 1988 und sein noch von ihm abgenommener Figurenkreis von 1995; die Eröffnung der Ausstellung hat er nicht mehr erlebt (vergleiche dazu https://vimeo.com/276843594). Erstmals vorgestellt wird ein Projekt, an dem er bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hat, ›Die Selbstbewusstseinsmaschine‹. „Im Nachlass des Künstlers fand sich eine umfangreiche Mappe mit Materialien zu diesem Projekt, in dem Lehnerer ab Ende 1986 zusammen mit dem Elektroingenieur Robert Schörghuber, dem Physiker Eckhard Lessmüller und dem Soziologen Jochen Kaden in ausführlichen Diskussionen der Frage nachging, ob und wie sich eine Maschine bauen liesse, die in der Lage wäre, ein Bewusstsein von sich selbst zu entwickeln“ (Friedemann Malsch S. 8 f.).
Auch eine groß angelegte Ausstellung kann nicht alles zeigen und aufarbeiten. Gleichwohl verwundert es, dass die theologische Grundierung des Werks von Thomas Lehnerer (– heute würde man vielleicht von seiner spirituellen Grundierung sprechen –) im Vergleich zu seinen existentiellen, philosophischen und ästhetischen Facetten offensichtlich zu kurz gekommen ist.
Das wird schon an seiner wie nebenbei benannten, aber nicht ausgeführten theologischen Dissertation über die Kunsttheorie des „Kirchenvaters des 19. Jahrhundert“ David Friedrich Schleiermacher deutlich, für den Religion weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit war. Es geht weiter mit der Rezeption der von ihm und Michael Feistle 1987 gegründeten ›Weltgesellschaft für Glück‹, die für ihn nichts weniger war als eine „neue Religion aus dem Geist der Kunst“ (Thomas Lehnerer, ›Text zur Weltgesellschaft für Glück‹, Mai 1994. Katalog S. 197) und zeigt sich nicht zuletzt auch in seiner im selben Jahr geführten, damals breit rezipierten, aber heute vergessenen kontroversen Debatte mit Günter Rombold über die Autonomie der Kunst gegenüber der Religion (vergleiche dazu Thomas Lehnerer, ›Kunst – Selbstzweck und Totalität‹; Günter Rombold, ›Kunst – Negation von Religion‹. In: kunst und Kirche 1/87 S. 39 –42, ›Das Leserforum zur Kontroverse‹ In: kunst und kirche 3/87 S. 230 – 232 und Thomas Lehnerer, ›Denken in der Kunst‹. In: kunst und kirche 4/88 S. 220 f.). Rombold hatte Lehnerer nach dieser Debatte um einen weiteren Beitrag zu der Frage gebeten, ob Kunst (als nichtreligiöses System) eine umfassende Weltinterpretation liefern kann und wie sie das tut. Lehnerer hat unter anderem mit seinen Zeichnungsfolgen ›Das Denken in der Kunst‹ und ›Logik‹ geantwortet und dazu ausgeführt, dass Kunst selbst Religion sein und „Religion genannt werden müsste, wäre sie in der Lage, unsere letzten Zwecke in sich zu versammeln“ (Thomas Lehnerer, ›Denken in der Kunst‹. In: kunst und kirche 4/88, S. 222).
In seinem Vortrag ›Die Freiheit der Kunst‹ auf der Tagung ›Kunst ist das, was Künstler machen‹ vom 18. –20. März 1994 im Schlösschen Schönburg in Hofgeismar hat er seine Sicht des Verhältnisses von Kunst und Religion so zusammengefasst: Zwischen Kunst und Religion gibt es „eine strukturelle Parallele. Denn in beiden sehen wir ein Gelingen (in der Religion das Heil), und in beiden kann dieses Ziel nicht durch menschliche Macht erreicht und erzwungen werden. Der Künstler ist auf das freie kreative Spiel aller Momente angewiesen, die er niemals vollständig in seiner Hand hat; der religiöse Mensch ist auf Gottes Gnade angewiesen, die allein ihm Glückseligkeit verheißt. Beide also, Religion und Kunst, zeigen die Ohnmacht des Menschen angesichts dessen, was er letztlich erstrebt und will.
Aus diesem Grund verbirgt sich im Kunstwerk selbst eine Art von Religion. Denn im Anblick eines Kunstwerks empfinden wir – im gelungenen Fall – ein Glück, das uns von allen Zwängen, Ängsten und Plänen der normalen Welt befreit. Ohne Gott und Guru sind wir im ästhetischen Empfinden – für einen Moment – erlöst von allem, was uns bindet. Diese Erlösung und Befreiung kann uns zur Orientierung werden für unser Leben, und insofern leuchtet hier, im Kunstwerk, eine neue und radikal freie Religion auf. Denn: Die Religion gehört der Kirche nicht. Und: Es gibt auch eine Religion ohne Gott“ (Thomas Lehnerer im Sonderdruck der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche zur genannten Tagung S. 15).
Lehnerer hat bei seinem Vortrag nicht nur davon gesprochen, dass es ein Künstler niemals vollständig in seiner Hand hat, dass ein Kunstwerk gelingt. Er hat diese zugleich demütig und frei machende Einsicht bei seinem Vortrag auch am eigenen Leib erfahren. Er konnte damals schon nichts mehr auf längere Zeit in den eigenen Händen halten, nicht mehr selbständig gehen, stehen, essen und trinken. Erste Anzeichen seiner Erkrankung an ALS hatten sich einige Wochen nach dem Ablauf seiner Installation und Ausstellung ›Gott‹ im September und Oktober 1992 in der Hospitalkirche Stuttgart gezeigt: Hans Seyffers 1501für den Vorplatz der Stuttgarter Leonhardskirche (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1679&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=-SAvXJ3eAsHUkwWk-oDICg&q=Hans+Seyffer+in+der+Leonhardskirche+Stuttgart&oq=Hans+Seyffer+in+der+Leonhardskirche+Stuttgart&gs_l=img.12…3347.25217..27059…1.0..0.54.2107.46……0….1..gws-wiz-img…..0..0j0i67j0i8i30j0i30j0i10i24j0i24.u8Po1RRtQiA) geschaffener und im Übergang zum 20. Jahrhundert in die Hospitalkirche Stuttgart (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1679&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=QyIvXPuHIrLmsAek5ouYCQ&q=Hans+Seyffer+
in+der+Hospitalkirche+Stuttgart&oq=Hans+Seyffer+in+der+Hospitalkirche+Stuttgart&gs_l=img.12…164651.169885..172464…0.0..0.46.640.15……0….1..gws-wiz-img._lFDVBO8W9c) eingebrachter Kalvarienberg mit seinem ästhetisch und religiös überaus beeindruckenden Gekreuzigten war in der Installation durch einen raumhohen undurchdringlich schwarzen Vorhang verdeckt. Auf dem Altar stand eine als verlorene Form gegossene 29 cm große Bronze mit leicht schräg nach vorne geneigtem Kopf, offenen Augen und fragendem Ausdruck, aber ohne Hände. Ein Punktstrahler hat diese Figur aus dem Dunkel der Kirche herausgeholt und den Altar mit der Figur statt dem Gekreuzigten ins Zentrum der Kirche gestellt. Die Abbildung der Figur nannte Lehnerer auf der Rückseite der zur Ausstellung edierten Postkarte ›Gott‹. Das ebenfalls zur Ausstellung erschienene Plakat notiert Lehnerers Fassung der Theodizeefrage in weißer Farbe auf schwarzem Grund:
›Wenn Gott allmächtig ist und gut
Wenn er Gott ist
Warum läßt er dann die Menschen elend
Sterben und leiden?‹
In der diskursiv ausformulierten Frage nach Gottes Allmacht und Güte angesichts des Leidens und des Sterbens in der Welt und in ihrer ästhetischen Fassung in der Installation ›Gott‹ zentriert sich Lehnerers Anfrage an das christliche Gottesbild ebenso wie sein existentielles Erleben, das nach der Ausstellung mit der immer weiter fortschreitenden Lähmung auf ihn zugekommen ist. Deshalb wäre es folgerichtig, wenn Lehnerers in Liechtenstein ausgesparte Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion und seine zahlreichen Arbeiten zur Religion in einer nächsten Ausstellung zusammenfassend vorgestellt werden könnten.
ham, 4. Januar 2019