Publikation zur Ausstellung der Liebieghaus Skulpturensammlung Frankfurt am Main vom 8. März bis 21. Januar 2024, herausgegeben von Vinzenz Brinkmann

Deutscher Kunstverlag, Berlin München / Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, 2023, ISBN 78-3-422-99634-2, 296 Seiten, 234 Abbildungen, zumeist in Farbe, Verzeichnis der 97 ausgestellten Werke, Leineneinband, Lesezeichen, Format 25,5 x 17,5 cm, € 45,00

Nach dem Leiter der Abteilung Antike und Asien im Liebieghaus Vinzenz Brinkmann wurde die Bedeutung von Naturwissenschaften (exact sciences) und Technologie (engineering) im 20. Jahrhundert zumeist vergessen. Bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts störte sich niemand an der Engführung von Technik und Ästhetik. Das griechische Wort techne unterstreicht den Zusammenhang. Nach dem griechisch – deutschen Wörterbuch Menge-Güthling hat es die Bedeutungen schöne Kunst, Wissenschaft, Handwerk, Gewerke, Geschäft, Beruf, Können, Kunstfertigkeit, künstlerische Anlage, Kunstsinn, Fachkenntnis, Geschicklichkeit, Kunstgriff, Technik, kunstgemäße Herstellung, Anweisung oder Schrift zur Herstellung einer Sache, Kunstwerk und weitere mehr. Die von Brinkmann konzipierte Ausstellung ›Maschinenraum der Götter‹ bettet die vom vorderasiatischen und ägyptischen Raum ausgehende, von den Griechen, Römern und Arabern weiterentwickelte und von der europäischen Renaissance aufgegriffene fünftausendjährige Technikgeschichte mit ihren drei Aspekten fiktive Technologie in der antiken Mythologie, internationale Wissenschaftsgeschichte und mechanische Animation in der antiken, islamischen und europäischen Kunst in die bestehende Sammlung des Liebieghauses ein, die mit Skulpturen wie der Figur des Schöpfergottes Ptah-Sokar-Osiris, der marmornen Athene nach dem Vorbild des Bildhauers Myron, dem Porträt Alexanders dem Großen, der Mondsichelmadonna von Tilman Riemenschneider und der Ariadne auf dem Panther von Johann Heinrich Dannecker ebenfalls eine fünftausendjährige Geschichte abdeckt (vergleiche dazuhttps://de.wikipedia.org/wiki/Liebieghaus_Skulpturensammlung und https://www.liebieghaus.de/de/ausstellungen/antike).

Das Liebieghaus präsentiert in der Ausstellung nach den Pressetexten 96 – nach dem Katalog sind es 97 – bedeutenden Werke internationaler Museumssammlungen wie etwa die Statuette des vergöttlichten Baumeisters und Gelehrten Imhotep (Ägypten, 332–30 v. Chr.), die Statue des Ikarus (Römisch, 1. Jahrhundert nach Chr.), das Modell der Cenatio Rotunda, des sich drehenden Speisesaals im Palast des römischen Kaisers Nero, das Universallaboratorium des Aḥmad Ibn As-Sarrāǧ, Syrien, 1328 – 1329 und Jeff Koons’ Appolo Kithara, 2019 –2022 (vergleiche dazu https://newsroom.liebieghaus.de/de/themen/maschinenraum-der-goetter und https://issuu.com/deutscher_kunstverlag/docs/blick_ins_buch_maschinenraum_der_goetter).

Der Katalog und die Ausstellung werfen „einen unverstellten Blick auf die antike Wissenschaft und ihren kulturgeschichtlichen Einfluss. In der Antike können wir das Phänomen beobachten, wie aus der Wissenschaft die Vorstellung einer zukünftigen fantastischen Technologie entwickelt wurde, in etwa so, wie wir es heute aus dem Genre der Science-Fiction kennen. Mit Hauptwerken der Sammlung des Liebieghauses und bedeutenden Leihgaben zeigen wir kaleidoskopartig die aufregende Verbindung zwischen Kunst und Technik in über fünf Jahrtausenden auf. Das Liebieghaus feiert zugleich auch eine Weltpremiere, die Entschlüsselung des sensationellen Mechanismus von Antikythera, eines der ersten Computer, mit dem Planetenkonstellationen berechnet wurden und die Menschen in die Zukunft blickten“ (Philipp Demandt, Direktor der Liebieghaus Skulpturensammlung; vergleiche zu Mechanismus von Antikythera https://de.wikipedia.org/wiki/Mechanismus_von_Antikythera).

Am Beginn der Ausstellung stehen neben der Statuette des Imhotep, der Bronzefigur von Ptah (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ptah) und der Fayencefigur des ibisköpfigen Gottes Thot, (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Thot) die babylonische Tafel YBC 7289 (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/YBC_7289), die im 19. bis 17. Jahrhundert vor Christus den Lehrsatz des Pythagoras 

vorweggenommen hat und für die Berechnung von Bauprojekten wie den Pyramidena von Gizeh unabdingbar war (vergleiche dazu https://liebieghaus.de/de/einblicke/der-blick-die-sterne). Auf der Tafel V aus dem babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elish wird Marduk, der Stadtgott von Babylon, als Schöpfer der fünf Städte und des babylonischen Jahres gepriesen wird. Das Schlusskapitel bringt Jeff Koons’ teilanimierte Statue des Lichtgottes Apollo Kithara (vergleiche dazu https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/liebieghaus-5000-jahre-wissenschaft-und-kunst-18707530/jeff-koons-apollo-kithara-18707529.html) mit ihren antiken Vorbildern zusammen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kithara): In Apollo Kithara hat Koons der antiken Skulptur der Griechen in zweifacher Hinsicht „deren ursprüngliches ‚Leben‘ zurückgegeben, nämlich in Bezug auf die ursprüngliche Farbigkeit und in Bezug auf die ‚echte‘ Bewegung. Als Vorlage […] diente ihm eine Marmorskulptur des Licht- und Sonnengottes Apoll, die im nordafrikanischen Kyrene gefunden wurde und sich heute – aus 121 Fragmenten zusammengesetzt – im Britischen Museum in London befindet. Die Statue aus Kyrene zeigt den Lichtgott beim Spiel auf der Kithara […]. Der von Apoll gebändigte Drache ‚Python’ windet sich um einen Baumstumpf, an den Bogen und Pfeilköcher gelegt sind, die Waffen des Gottes. Python war eine Riesenschlange und laut Apollodor Ausgeburt der Erdgöttin Gaia. Gaia herrschte über das Orakel von Delphi, das Python bewachte. Als Apollon sich dem Orakel näherte, besiegte er den Drachen und übernahm das Heiligtum“ (Vinzenz Brinkmann im Katalog S. 262). 

Brinkmann geht davon aus, dass sich die Johannes auf Patmos erschienene auf dem Mond stehende und mit der Sonne bekleidete Frau und der feuerrote Drachens mit sieben Köpfen (vergleiche dazu Apokalypse des Johannes 12, 1 – 6: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/REV.12/Offenbarung-12) aus Überblendungen griechisch-römischer Mythen und Götterbilder zusammensetzen. Er denkt zum einen an Leto, die mit Zeus die Zwillinge Artemis und Apollo zeugt und von der eifersüchtige Hera am Gebären gehindert wird. Dazu schickt Hera den Drachen Python, der Leto verschlingen soll ⟨vergleiche dazu  Leto in https://de.wikipedia.org/wiki/Leto_(Mythologie)⟩. Zum anderen bezieht sich das Bild der auf dem Mond stehenden ‚apokalyptischen Frau‘ mit den 12 Gestirnen, die ihren Kopf umkreisen, auf Kultstätten der orientalischen Artemis und deren Astralsymbolik (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Artemis). „Im christlichen Statuentypus der Mondsichelmadonna wurde das Bild der ‚apokalyptischen Frau‘ schließlich als Marienerscheinung gedeutet. So zeigt auch die Skulptur der ‚Maria Immaculata’ des Barockbildhauers Matthias Steinl (1644 – 1727) im Frankfurter Liebieghaus (vergleiche dazu https://www.liebieghaus.de/de/renaissance-bis-klassizismus/maria-immaculata) die 12 Sterne, aber eben auch die Schlange – ein später Reflex des von Apollo erlegten Python, den Jeff Koons zum Leben erweckt“ Vinzenz Brinkmann a. a. O.).

Dass der indische Mathematiker Aryabhata (476 – 550 nach Chr.) das Verhältnis von Mondumlauf zur Erdrotation berechnete und über ein heliozentrisches Weltbild nachgedacht hat, ist heute kaum noch bekannt, ebensowenig, dass nach einigen Überlieferungen der griechischen Antike das Trojanische Pferd kein hohles Modell auf Rädern war, sondern eine wirklichkeitsgetreue Statue eines Pferdes in Lebensgröße, das Beine mit Gelenken, einen schlagenden Schweif, beweglichen Augen und die Fähigkeit hatte, wiehernd können. Es soll von dem Kunsthandwerker Epeios mithilfe der Göttin Athene erbaut worden sein. Von Hephaistos, dem Gott des Feuers, der Vulkane und der Schmiedekunst wird in Homers Ilias erzählt, dass er für die Streitwagen der Götter sich selbst öffnende und schließende Pforten des Olymp gebaut habe, einen „Chor aus singenden weiblichen Statuen, animierte Wachhunde aus Gold und Silber, fahrerlose Lieferkarren, die bei himmlischen Festessen selbsttätig Ambrosia servierten und zurückkehrten, wenn sie leer waren […]. Unter Hephaistos’ erstaunlichen Schöpfungen ragt eine Belegschaft goldener Mägde heraus, die ihm als Gehilfinnen dienten. Wie Homer beschreibt, sahen die weiblichen Androiden aus ›wie echte Frauen‹, bewegten sich von selbst hin und her und besaßen ›Vernunft und Verstand‹ […]. Ein weiteres von Hephaistos’ Werken war der große Adler, den Zeus aussandte, um Prometheus dafür zu bestrafen, den Menschen das göttliche Feuer gebracht zu haben“ (Adrienne Mayor im Katalog S. 66). 

Vinzenz Brinkmann unterstreicht, dass Homers technologische Fantasien keineswegs voraussetzungslos sind, sondern auf Vorbildern aus Vorderasien, Ägypten und anderen Teilen der Welt aufbauen. Die in antiken Kopien erhaltene, im Heiligtum des Gottes in Didyma aufgestellte animierte Bronzestatue des Apoll, der in der ausgestreckten rechten Hand einen Hirsch hält, der aufstand und sich wieder setzte, geht auf den aus Sikyon stammenden Bronzebildhauer Kanachos zurück (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kanachos_aus_Sikyon). Und im alten China wurde Porzellan produziert und der Buchdruck mit beweglichen Lettern vorweggenommen. Er geht auf den Chinesen Bi Zheng (972 – 1052) und nicht auf Johannes Gutenberg zurück (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Bi_Sheng). Bi Zheng fertigte bewegliche Lettern aus Porzellan. Antike Texte berichten, dass der im fünften Jahrhundert v. Chr. tätige griechische Astronom Meton am Ort der Volksversammlung der Athener einen ›Heliotropion‹ genannten Automaten aufgestellt hat, der das alle 19 Sonnenjahre bzw. alle 235 Mondmonate stattfindende Zusammentreffen des Sonnenjahres und des Mondjahres anzeigte (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Meton). Und von Heron von Alexandria stammen Bauanleitungen für ein mittels Dampfdüsen angetriebenen Figurenkarussell mit kinematographischem Effekt und ein fahrbares Automatentheater (vergleiche dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Heron_von_Alexandria).

Das von dem griechischen Arzt und Universalgelehrten Galen (um 129 – um 216 n. Chr.) beschriebene synthetische Bleimineral psimythion wurde in Ägypten bereits um 1500 v. Chr.produziert, wenn auch ohne pharmakologische Ausrichtung. Ab dem vierten Jahrhundert v. Chr. war es ein beliebtes Kosmetikprodukt von intensivem Weiß, mit dem Frauen ihre Falten überdeckten, um jünger zu wirken. Galen berichtet, dass zur Herstellung tablettenförmiger Arzneimittel aus lemnischer Erde, das ›Segnen‹ gehöre, „nämlich die Vermischung von Erde mit Weizen und Gerste. Zwei auf eine spätere Epoche datierte ›Pillen‹, die sich im Pharmaziemuseum der Universität Basel befinden, wurden mittels DNA-Sequenzierung auf ihren Gehalt an mikrobiellen Bestandteilen untersucht. Dabei konnte der Pilz Talaromyces […] nachgewiesen werden. Die beiden Presslinge zeigten […] eine antibakterielle Wirkung gegenüber gängigen Patogenen […]. Zusammenfassend sollte hervorgehoben werden, dass die auf Fermentation beruhenden Biotechnologien, bei denen oxos, tryx oder (medizinische) Weine zum Einsatz kamen, in der Antike verbreitet gewesen sein dürften“ (Effie Photos-Jones im Katalog S. 140 f.).

Für den Erhalt und die Weitergabe der antiken Traditionen war die Übertragung des griechischen Erbes ins Arabische und die Entwicklung einer arabischen Wissenschaftssprache entscheidend. Der aus dem byzantinischen Kaisergeschlecht stammende, 1445 in Konstantinopel geborene Johannes Laskaris konnte die von Cosimo de’ Medici (1389 – 1464) in Florenz angelegte Bibliothek ausbauen. „Laskaris nutzte seine Beziehungen zum osmanischen Sultan, um zahlreiche Handschriften für Florenz zu erwerben. Auf diese Weise gelang es ihm, die später als (Biblioteca Medicea) Laurenziana bekannte Bildungseinrichtung auf das notwendige internationale Niveau anzuheben, wobei sicherlich auch die Bibliothek von Alexandria und das Haus derWeisheit in Bagdad als Vorbild dienten. Ebenso wichtig wie die Handschriften der antiken Forschung im griechischen Original, die via Konstantinopel erworben werden konnten, waren natürlich die arabischen Übersetzungen der griechischen Intellektuellen. Viele bedeutende Schriften wie beispielsweise die wichtig-ste griechische Publikation zur antiken Astronomie, die Claudius Ptolemäus um 145 n. Chr., verfasst hatte, waren als griechische Handschriften, aber noch zahlreicher in arabischen Übersetzungen verfügbar. Das gelehrte arabische Spanien und auch die Araber in Süditalien und Sizilien hatten bereits zu Zeiten des frühen europäischen Humanismus als Wissensvermittler fungiert, so ist vermutlich auch die hohe Gelehrsamkeit des Philosophen und Dichters Dante Alighieri (1265 -1321) ohne den Austausch mit den Intellektuellen im jüdisch-arabisch bestimmten Südeuropa nicht zu erklären“ (Vinzenz Brinkmann S. 254).

Dass die im Liebieghaus für die Ausstellung zusammengetragenen Objekte die Sicht auf die 5000-jährige Technologiegeschichte in ein vielschichtigeres Licht rücken, ist offenkundig. Dass die in der Ausstellung und der Publikation angespielte Verbindung von Handwerk, Technik und Zukunft auch anders erzählt werden kann, aber auch: Das zeigt etwa Jan Assmann in seinem Aufsatz ›Schöpfungsmythen und Kreativitätskonzepte im Alten Ägypten‹ (vergleiche dazu http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/3036/1/Assmann_Schoepfungsmythen_2000.pdf). Nach Assmann spiegelt sich in der in Ägypten als Ausübung von Herrschaft gedachten Tätigkeit des Schöpfers das Könnenbewusstsein und Kreativitätsgefühl des frühen Handwerks, das, und darin ist er sich mit Brinkmann einig, den Unterschied zwischen Kunst und Technik nicht kannte. Es brachte Meisterwerke wie die ägyptischen Steingefäße der Frühzeit oder die Pyramiden des Alten Reichs hervor, die mit heutigen Mitteln unerreichbar sind. Aber in der „Figur des Demiurgen in Platons Schöpfungsmythos drückt sich schon eine ganz andere Auffassung technischer Kreativität aus, die auf theoretischer, vor allem mathematischer Durchdringung der Formgesetze beruht und eine entsprechend mathematisierte und formalisierte Technologie ins Werk setzt, um die Welt zu schaffen. Schöpfungsbilder sind (auch) Menschenbilder. Andererseits sind sie jedoch auch Gegenbilder menschlicher Kreativität. Im Wirken von Schöpfungsgöttern manifestiert sich eine Tatkraft und Wirkungsmacht, der sich der Mensch unterworfen und unterlegen sieht und die er sich selbst vorenthalten weiß“ (Jan Assmann a. a. O. S. 158).

Assmann unterscheidet im Folgenden zwischen „Kosmogonien“ (Weltentstehungslehren ohne Schöpfungsgötter) und „Kosmopoiien“ (Welterschaffungslehren mit Schöpfungsgöttern). In den ägyptischen Schöpfungsmythen sind beide Elemente verbunden. Nach der für Ägypten zentralen Schöpfungslehre von Heliopolis entstand die Welt mit dem ersten Sonnenaufgang, als der von selbst entstandene Sonnengott aus dem Urwasser auftauchte und seine Strahlen in eine noch raumlose Welt schickte (Jan Assmann a. a. O. S. 159). Der Übergang von der Präexistenz in die Existenz wird demnach als Selbstentstehung und zugleich als erste Schöpfungstat, als Schaffung des Lichts verstanden. Auf die Entstehung des Lichts folgt die Entstehung des kosmischen Raums, der im Licht sichtbar wird. „Nach der Lehre von Heliopolis bewegen wir uns auch hier noch immer im Paradigma der Kosmogonie, des intransitiven Werdens. Im Laufe der ägyptischen Religionsgeschichte tritt aber der transitive Aspekt der Schöpfung immer stärker hervor. Da sind Himmel und Erde, genau wie in der Bibel, die alles entscheidende Schöpfungstat des selbstentstandenen Gottes […]. Für die Frage nach Zusammenhängen zwischen Schöpfungsvorstellungen und Kreativitätskonzepten ist dieser kosmogonische Schritt, die Entstehung von Himmel und Erde und damit des Raumes von entscheidender Be-deutung, allerdings weniger in der Form der Entstehung oder Erschaffung, als vielmehr der Trennung von Himmel und Erde. Mit dieser Trennung entsteht erst der Raum, in dem menschliche Kreativität sich entfalten kann. Davon erzählt ein Mythos, der diese Trennung mit einer menschlichen Schuld in Verbindung bringt. Genau wie im biblischen Paradiesesmythos wird auch im ägyptischen Mythos durch ein menschliches Vergehen eine Trennung herbeigeführt, die überhaupt erst menschliche Kreativität freisetzt“ (Jan Assmann a. a. O. S. 164 f.).

Mit der Zeugung der vierten Göttergeneration durch Geb und Nut entstehen Zeit, Geschichte, kulturelle Institutionen und das Totenreich. Das Urwasser, aus dem der Sonnengott auftaucht, besteht weiter, ermöglicht dem Menschen den Zugang zur Urmaterie und beflügelt seine Kreativität. „Aus dem Fortbestehen der Urmaterie und der allmorgendlichen Wiederholung des ersten Males folgt das Fehlen eines Schlussstrichs, eines siebten Tages wie in der Bibel. In Ägypten hört die Schöpfung nicht auf, sondern geht immer weiter und ereignet sich jeden Morgen aufs Neue. Die Welt wird daher nicht als ein irgendwie abgeschlossener, vollendeter ‚Bau‘ aufgefasst, wie es uns von der abendländischen und biblischen Tradition her vertraut ist, sondern als ein Prozess, dessen ‚kosmischer`, d. h. geordneter Charakter in seinem fort währenden Gelingen besteht. Dieses Gelingen freilich steht nach ägyptischer Auffassung ständig auf dem Spiel. In dieser Hinsicht ist die ägyptische Idee der Weltentstehung die genaue Umkehrung der verbreiteten Vorstellung, dass die Welt in dramatischen transformativen Prozessen entstand, aber nun in geordneten Bahnen verläuft“ (Jan Assmann a. a. O. S. 169).

Der Aufstand der Menschen gegen die Herrschaft der Sonnen- und Schöpfergottes wird nach ägyptischer Vorstellung durch die an den Pharao übertragene Herrschaft gebändigt: „Der Staat setzt die lebensspendende und richtende Herrschaft des Schöpfergottes in irdische Verhältnisse um. […] Schöpfung und Herrschaft gehören daher im ägyptischen Denken unauflösbar zusammen“ (Jan Assmann a. a. O. S. 177). In der Folge haben die Ägypter wie die Griechen einen Großteil ihres schöpferischen Genies in die Errichtung politischer Ordnung investiert, nur in umgekehrter Weise. „Während bei den Griechen am Ende ihres politischen Schöpfertums die Polis steht als die Realisierung freier, ‚demokratischer‘ Selbstverwaltung der Bürger eines Gemeinwesens, steht bei den Ägyptern die Form einer Monarchie, die sich als Stellvertretung des göttlichen Schöpfertums auf Erden und in der Menschenwelt versteht“ (Jan Assmann a. a. O. S. 178).

Die Vorstellung der Schöpfung durch das Wort geht nach Assmann noch einmal einen Schritt weiter und am weitesten über kosmologische Konzeptionen hinaus. Hier bedient sich der Schöpfer eines Mittels, das nur den Menschen zu eigen ist und hebt ihn damit über die anderen Geschöpfe hinaus. Nach der memphitschen Interpretation der heliopolitansichen Kosmogonie ersinnt das Herz den Begriff und die Form der Dinge. „Die Hieroglyphenschrift gibt diese Form wieder und bezieht sich auf dem Weg über die Form auf den Begriff. Die Zunge vokalisert die Begriffe, die vom Herzen erdacht und von der Hieroglyphenschrift in sichtbare Form gebracht werden […]. Ptah ist der Gott der Künstler und Handwerker; ihm verdanken die Dinge ihr ‚design’, die ihre unveränderliche, im Werden und Vergehen der Dinge und Lebewesen ewig reproduzierte und im Schriftzeichen abgebildete Gestalt. Thot, der Gott der ‚Zunge’, ist daher auch der Gott der Hyeroglyphenschrift. Er vermag die Gedanken des Herzens in gesprochene und geschriebene Sprache umzusetzen. Die Schöpfung ist ein Akt der Artikulation: gedanklich, ikonisch und phonetisch […]. Die Gesamtheit der Schöpfung wird zusammengefasst in der Wendung ‚alle Dinge und alle Hieroglyphen’ […]. 

Die Hieroglyphen sind die Urbilder der Dinge […]. Zwischen Ding und Schriftzeichen besteht im ägyptischen ‚hieroglyphischen‘ Denken eine ähnliche Relation wie zwischen Ding und Begriff im griechischen. Indem Ptah die Urbild der Dinge konzipierte, erfand er zugleich mit ihnen auch die Schrift, die Thot nur aufzuzeichnen braucht, so wie er die als Zunge die Gedanken des Herzens nur aussprechen muss […]. Das Zusammenspiel von Ptah, der die Dinge ‚erschafft‘ und Thot, der sie ‚niederschreibt‘ erinnert an das Zusammenspiel von Gott und Adam im Paradies. Gott erschafft die Lebewesen ›und führt sie Adam zu, um zu sehen, wie der sie nennen würde: Und wie immer er sie benannte, das war ihr Name.‹ (Gen 2, 20). “ (Jan Assmann a. a. O. S. 182 ff.).

Der entscheidende Unterschied zwischen den ägyptischen Vorstellungen von der Weltentstehung und dem biblischen Schöpfungsmythos liegt nach Assmann im mit dem siebten Tag verbundenen Motiv des Schlussstrichs. Nachdem die Welt einmal geschaffen worden ist, muss sie von Gott nicht weiter in Gang gehalten werden. Sie bildet ein sich selbst regulierendes System und ihr Bestand hängt einzig und allein vom Willen Gottes ab, sie nicht wieder zu zerstören.

ham, 11. August 2023

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