Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 3. Juni bis 29. Juli 2016 im Hospitalhof Stuttgart,
herausgegeben von Iris Haist und Pia Littmann mit Essays von Susanne M. I. Kaufmann und den
Herausgeberinnen, Gesprächen von André Bischof und Christian Malycha mit Erik Sturm, einem Geleitwort
von Monika Renninger, einem Vorwort von Christiane Lange und einem Grußwort von Petra Olschowski
Hospitalhof Stuttgart / Ernst Wasmuth Verlag Tübingen / Berlin, 2016, ISBN 978-3-8030-33833-3, 108
Seiten, 54 farbigen Abbildungen, Paperback, Format 25 x 18 cm, € 24,00
Leere, Möglichkeiten und Volumen gehören für den 1954 geborenen Erwin Wurm zu den Grundqualitäten
von Skulptur. Leere, die Möglichkeit von Virtualität und Volumen prägen auch seine zwischen 1990 und
1993 entwickelten Staubskulpturen. „Die Staubspuren auf Sockeln, in Glasvitrinen und selbst unter dem
zylindrischen Stülpglas für Verehrungsgegenstände verweisen auf »verlorene« Dinge aus vergangener Zeit.
Man Rays Staubphotographien (Elevage de Poussiere, 1920) von Duchamps Großem Glas eröffnen eine
neue Sehebene. An die Stelle der Transparenz tritt in den Staubablagerungen eine Art von unberührbarem
Relief, ein Hauch von Körperlichkeit. In den Wurm’schen Arbeiten wird durch den Staub die Abwesenheit
eines vormals vorhanden Objektes sichtbar. Volumen und Körper werden als vorstellbare, imaginierte
Möglichkeiten begriffen, die hier auf der Basis einer Staubkontur und ggf. durch die äußeren Begrenzungen
des umgebenden Gefäßes einen Platz für eine Konkretisierung angeboten bekommen, ohne jemals dezidiert
benennbar zu sein“ (Helmut Friedel, Zum Skulpturbegriff bei Erwin Wurm. In: http://
blog.staedelmuseum.de/helmut-friedel-zum-skulpturbegriff-bei-erwin-wurm/ vom 7.05.2014). Vom Künstler
erarbeitete Handlungsanweisungen, so genannte Instruction Drawings, haben Betrachtern und Sammlern
darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet, die vergänglichen und alles andere als auf Ewigkeit angelegten
Staubskulpturen wieder her- und damit auf Dauer zu stellen. Erwin Wurm ist nicht bei seinen
Staubskulpturen stehen geblieben und insbesondere mit seinen One Minute Sculptures weltweit bekannt
geworden.
Der 1982 geborene Erik Sturm hat vor allem durch seine Arbeiten mit Feinstaub vom Stuttgarter Neckartor
überregionale Bekanntheit erreicht. Anders als Wurm setzt Sturm aber nicht auf die Ablagerung von Staub,
sondern gut schwäbisch auf dessen Beseitigung. Iris Haist sieht seine Grundidee der Beseitigung von Staub
in seinen Zeichnungen und insbesondere in seinem Toscana-Zyklus vorweggenommen. Die erste Zeichnung
dieses Zyklus Verfallene Betonfabrik von 2002 zeigt einen Blick in einen Fabrikhof. „Dominant ist im
Bildaufbau die rechts aufragende […] Gebäudezeile“, deren Balken das Auge „in das tiefschwarze Innere
des Gebäudes mit alten Brettern und Leitern ziehen. Die Dunkelheit und die Schatten entstehen teilweise aus
leidenschaftlich und kräftig gesetzten Schraffuren, teilweise aus dem Abrieb eines Graphitblocks. Im
Kontrast zu diesen dunklen Flächen stehen die Konturen der Bretter und der Leitersprossen, die durch
Radieren gewonnen wurden und so als Negativlinie die Dunkelheit durchbrechen“ (Iris Haist S. 51). Sein
400 Meter langer Streifen, den er 2012 in einer Aktion mit drei weißen Handtüchern in die von Staub und
Schmutz schwarz verfärbte Tunnelwand an einer vielbefahrenen Straße zwischen Buda und Pest zieht, wird
zur Negativlinie. „Aus ästhetischer Sicht schuf Sturm mit dem Ziehen der hellen Negativlinie vor einem
dunklen Hintergrund und durch das Präsentieren der an einigen Stellen noch weißen, an anderen schwarzen
Handtücher einen ebenso starken Hell-Dunkel-Kontrast wie schon in seinen Zeichnungen. Mit seiner
Negativlinie im ungarischen Tunnel nahm er etwas weg, legte die Linie frei und wies gerade durch dieses
Entfernen aktiv auf den Staub und den Schmutz hin und machte ihn so sichtbar. Auch bei den Zeichnungen
hat Sturm die dunkleren Partien durch das Wegnehmen von Farbe mithilfe eines Radiergummis und das
Setzen negativer Linien verstärkt. Sie waren so Wegbereiter für seinen heutigen Kunstansatz.“ (Iris Haist S.
55). Über die kinetische Skulptur Masse Staub Zeit, 2013, ist Sturm zum in Druckverschlussbeuteln
präsentierten Feinstaub vom Stuttgarter Neckartor Neckartorschwarz, 2014, seiner mit Wasser und Leim
hergestellten und in einer Tube präsentierten Farbe Neckartorschwarz, seinem Objekt Neckartorschwarz,
2015, Einweckglas mit Staub und seinen Reliefs Neckartorschwarz, 2016 gekommen. Die für die
Werkgruppe Neckartorschwarz bisher benötigten rund acht Kilogramm Staub hat er unter anderem auf
Fensterbänken rund um das Stuttgarter Neckartor abgekratzt. Dieser Staub ist für ihn wie schon für Erwin
Wurm ein primär bildhauerisches Material. Als Umweltaktivist sieht er sich aber nicht. Das Thema Staub ist
für ihn zu komplex, um es eindeutig als gut oder schlecht zu bewerten. Staub interessiert ihn vor allem als
Relikt, als Versatzstück, als Rückstand von öffentlichem Leben und von der Straße.
Deshalb erscheint es als sachgemäß, dass seine Werkgruppe Neckartorschwarz im Katalog zur Hospitalhof –
Ausstellung in den Kontext weiterer Werkgruppen mit urbanen Versatzstücken und Relikten aus dem immer
noch hoch umstrittenen Neubauprojekt Stuttgart 21 gestellt wird. Mit am eindrücklichsten der im Innenhof
des Hospitalhof schräg in den Hof aufragende grau-schwarz polierte T-Träger, der, durch eine abgängige
Lutherbibel abgefedert, auf die Beton-Sitzbank neben dem Rosenbeet gelegt ist. Einer der Bohrer hat diesen
T-Träger aus der Bauphase der Landesbank Baden-Württemberg beim Erkunden des Untergrunds von
Stuttgart 21 zufällig angebohrt und ihn mit Urgewalt um seinen „Finger“, um den Bohrmeißel gewickelt.
Sturm hat dieses verrostete, verdreckte und verdrehte Objekt auf dem Gelände von Stuttgart 21 zwischen
dem Hauptbahnhof und der Landesbank Baden-Württemberg entdeckt, seine skulpturale Qualität erkannt, es
vor der Verschrottung gerettet, konservatorisch aufgearbeitet und als Fingerzeig und „archäologisches
Dokument“ für kommende Zeiten und Generationen aufbewahrt. Das 380 x 60 x 60 cm große Objekt aus
dem Jahr 2016 trägt den Namen Stuttgart 21. Nach der derzeit für 2023 oder 2024 geplanten Fertigstellung
von Stuttgart 21 (vergleiche dazu http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-bahn-kipptzeitplan-
auf-dem-schaubild.3567251c-f16b-4287-86f8-a864b4166891.html) könnte es an dem Platz, an dem
es von Sturm aufgespürt worden ist, an die Heftigkeit und Urgewalt erinnern, mit der über eineinhalb
Jahrzehnte lang über Stuttgart 21 gestritten worden ist.
ham, 18. August 2016