Als der 1986 in Moskau geborene deutsch-russische Maler Yury Kharchenko 2016 in der Nordheimer Scheune seine Häuser- und Fensterbilder ausgestellt hat, hat er sich noch auf die formalen und emotionalen Möglichkeiten seiner Malerei konzentriert. Sein jüdischer Hintergrund und der in Moskau und dann auch während seines Studiums in Düsseldorf von ihm erlebten Antisemitismus blieben damals
Yury Kharchenko, Fenster in die Häuser, 2016 in der Nordheimer Scheune
noch im Hintergrund.
In seiner jetzt im Hällisch-Fränkischen Museum Schwäbisch Hall gezeigten Ausstellung »Welcome to Jewish Museum« und in seinem Katalog »Painting 2018 – 2023« reflektiert er seine jüdische Identität und erinnert unter anderem an Rachel, die Mutter seines Großvaters Arkadij, die von der SS bei einer Massenerschießung umgebracht worden ist, an seine Großväter Arkadij und Michael Grynszpan bei der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee und an seinen Urgroßvater Abraham, der im Gulag vom damaligen Sowjetregime ermordet worden ist. Und er scheut sich auch nicht mehr davor, offen von den antisemitischen Über- und Angriffen zu sprechen, denen er in Düsseldorf ausgesetzt war:
„Es begann mit meiner Erfahrung an der Kunstakademie Düsseldorf, wo ich zum ersten Mal mit sehr deutschem Antisemitismus konfrontiert wurde. Einer meiner Lehrer sprach zum Beispiel von meiner „verdammten jüdischen Mutter“ oder stellte mich als „eine russische Jüdin, die aber Talent hat“ vor. Es war für mich der Auslöser einer Fragestellung, die mich dazu brachte, mich für die postmoderne Philosophie (Derrida, Levinas oder die Existenzphilosophie Nietzsches) und die Frage nach Gott zu interessieren. Dann, am Ende meines Studiums, wurde ich direkt in der Nähe meines Zuhauses von Neonazis tätlich angegriffen. Ich war so verärgert, dass ich Düsseldorf nach Berlin verließ – ich konnte in einer Stadt, in der ich zusammengeschlagen wurde, nicht leben“ (Deutschland wurde niemals vom Antisemitismus befreit. Yury Kharchenko im Gespräch mit Antoine Strobel Dahn. In: https://www.tenoua.org/yury-kharchenko-allemagne/).
Eingangsbereich zur Ausstellung „Welcome to Jewisch Museum“ im Hällisch-Fränkischen Museum Schwäbisch Hall
Zu seinen Ahnen kommen in Schwäbisch Hall ausdrucksstarke schwarz-weiße Porträts bedeutender Juden, so von Jankel Adler, Emmanuel Levinas, Robert Oppenheimer, Viktor Frankl, Ben Gurion, Theodor Herzel, Moshe Daran, Yitzhak Rabin, Anne Frank, Gertrude Stein und Else Lasker-Schüler.
Seine Malerei »The Last Human of Nietzsche – Beavis und Butthead vor den Toren von Auschhwitz Gates« könnte auf das drohende oder tatsächliche Vergessen des Holocaust anspielen (vergleiche dazu und zum Folgenden ›Influenced by comic books, Salvador Dali and Mark Rothko, a Russian-born Jewish artist embraces his contradictions. Yury Kharchenko uses his art to address antisemitism, the Holocaust and Oct. 7.‹ In: https://forward.com/culture/art/596548/yury-kharchenko-russian-jewish-german-artist-antisemitism-dali-rothko-superman/). Seine wohl zugleich als Vanitas- und Hoffnungsbilder zu lesenden Blumen sind während des Ukrainekriegs entstanden. „Abgeschnitten, ohne eine Verbindung zur Erde, erscheinen sie mit ihren zarten Blütenstängeln äußerst fragil, fast morbide, so, als wären sie dem baldigen Verfall anheimgegeben“ (Beat Reese im Katalog, S. 95). In seinen neueren Bildern beschäftigt er sich mit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Gaza-Krieg.
Yury Kharchenko, The Last Human of Nietzsche – Beavis and Butthead in Front of Auschwitz Gates, 2021, Acrylic and lacquer on canvas, 170 x 140 cm
Yury Kharchenko hat sich „kontinuierlich neue inhaltliche Felder erschlossen und die Komplexität seiner Kunst beständig vertieft und bereichert. Seine Malerei ist in technischer Hinsicht virtuos und sinnlich, das
Vergnügen an seinen Bildern ist jedoch niemals von dem Umstand zu trennen, dass sie einen sehr ernsten Hintergrund haben. Dieser Hintergrund macht seine Gemälde zu notwendigen Erzeugnissen unserer Kultur, die es ebenso zu bewahren gilt wie seine Kunst. Dafür sind Aufmerksamkeit und der unbedingte Wille zum Lernen nötig“ (Kay Heymer im Katalog, S. 43).
Yury Kharchenko, Chamomile, 2022, Öl auf Leinwand, 20 x 200 cm
ham, 16. Juni 2024
Katalog
Yury Kharchenko, Painting 2018 -2023, herausgegeben von Yury Kharchenke mit Beiträgen von Micha Brumlik, Kay Heymer, Yury Kharchenko, Helmut A. Müller, Beate Reese, Christian Ring, Marcus Steinweg.
Hirmer Verlag München 2023, ISBN: 978-3-7774-4188-7, 304 Seiten, 220 Abbildungen in Farbe, Hardcover, gebunden, Format 29 x 22 cm, € 49,90 (D) / € 51,30 (A).