Jul 24

Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 1. Juli bis 29. Oktober 2017 in der Kunsthalle Tübingen,
herausgegeben von Holger Kube Ventura mit Texten von Heide Barrenechea, Michket Krifa, Nima Naghibi,
Katrin Nahidi, Staci Gem Scheiwiller und dem Herausgeber

Kunsthalle Tübingen / Ernst Wasmuth Verlag Tübingen. Berlin, 2017, ISBN 978-3 8030-3391-8, 208 Seiten,
140 teils farbige Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 28,5 x 2,5 cm, € 29,80

Kunst und Kultur entwickeln und verändern sich, auch in Ländern wie dem Iran. Deshalb sollte der in
ikonischen Fotoserien wie „Women of Allah“ (1993–1997, vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=Women+of+Allah&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjtmfa0gprVAhWMJ8AKHTU
-AccQsAQIJA&biw=1603&bih=936#tbm=isch&q=Sirin+Neshat,+Women+of+Allah, abgerufen am 21.7.
2017) und „The Book of Kings“ (2012, vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=Women+of+Allah&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjtmfa0gprVAhWMJ8AKHTU
-AccQsAQIJA&biw=1603&bih=936#tbm=isch&q=Sirin+Neshat,+The+book+of+Kings, abgerufen am
21.7.2017) festgehaltene Blick der 1957 in Quazvin geborenen und seit 1979 in den USA lebenden
iranischen Künstlerin, Fotografin und Filmemacherin Shirin Neshat auf ihre alte Heimat und die Archaik
ihres Videos Tooba (2002, vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=shirin+neshat+tooba&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwiA_IIiZ_
VAhXEzxQKHQ1_CYEQsAQIPA&biw=1603&bih=936, abgerufen am21. 7.2917) und ihrer Video-
Trilogie „Turbulent“ (1998), „Rapture“ (1999) und „Fevor“ (2000) im Sinn des Philosophen Søren
Kierkegaard als überaus eindrücklicher, aber eben als ein möglicher poetisch-historischer Blick
auf die Kultur ihres Herkunftslandes gelesen werden. Kierkegaard hatte in seinen Tagebüchern festgehalten,
dass ganz wahr ist, „dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den
anderen Satz, dass vorwärts gelebt werden muss“ (Søren Kierkegaard. Die Tagebücher. Deutsch von Theodor
Haecker, Brenner Verlag 1923, S. 203).

Michket Krifa argumentiert in dieser Linie, wenn sie unterstreicht, dass die großformatigen Portraits schwarz
verschleierter, mit persischen Kalligraphien bemalter Frauen mit Gewehr oder die Darstellung einzelner
Details ihrer Körper in der Serie „Women of Allah“ nach Neshats erster Rückkehr in den Iran Anfang der
1990er Jahre entstanden sind und auf dem Hintergrund der damaligen Zeitgeschichte verstanden werden
müssen. Die Fotoserie war damit „gleichsam eine Reaktion auf den ersten Besuch ihres Heimatlandes nach
einer langen Zeit des Exils […]. So scheinen die Frauen gewissermaßen Interpretationen oder gar
Inkarnationen dessen zu sein, was der Künstlerin von ihrem Besuch im Gedächtnis blieb. Im Iran wurden
Frauen durch die islamistischen Gesetze in einen schwarzen Schleier gezwängt, viele von ihnen trauerten, als
sie einen Bruder, einen Mann oder Sohn im Krieg gegen den Irak verloren hatten. Andere gingen an die
Front und wachten als islamistische Milizen beziehungsweise als Hüterinnen der Revolution über die
Einhaltung der strengen Gesetze der islamischen Republik, um bei Zuwiderhandlung Strafen zu verhängen.
Als Zuflucht im Kampf gegen diese Isolation blieb nur noch die zur Poesie und Kunst“ (Michket Krifa S.
37). Analoges gilt auch für ihre frühen Videos.

Heute versteht sich Neshat nicht mehr wie in den ersten Jahren in den USA als iranische Künstlerin im Exil,
sondern „eher als Kunstnomadin, die eng mit dem Kampf aller Frauen der Region für ihre Rechte und
Freiheiten verbunden ist und sich darüber hinaus mit all jenen Menschen identifiziert, die sich der
Unterdrückung und repressiven Ideologien verweigern und stattdessen Hoffnung säen“ (Michket Krifa S.
39). In der Folge hat sich auch ihr Blick verändert. An die Stelle archaisierender Kontraste von schwarz und
weiß, städtisch und ländlich, traditionell und progressiv, Ost und West, Natur und Kultur, Individuum und
Dorfgemeinschaft und öffentlichen und privaten Auftritten von Mann und Frau tritt eine polyfokale Sicht auf
die Psyche ihrer weiblichen Hauptakteure: So steht in der zu der Dreamers-Trilogie gehörenden 1-Kanal-
Video- und Audio-Installation Roja (2016) nicht mehr wie in früheren Arbeiten das Geschlechterverhältnis
im zeitgenössischen Iran im Zentrum, sondern ein „Zustand zwischen Bewusstsein und Verrücktheit […].
Roja basiert auf einem Traum der Künstlerin. In ihm verlässt sie ein modernes westliches Gebäude und
meint, in der Ferne ihre Mutter zu erkennen, welche sich beim Näherkommen in ein Monster verwandelt.
Die halluzinatorische Atmosphäre des Alptraums überträgt Neshat in ihr filmisches Narrativ: Hier sitzt eine
junge Frau in einem voll besetzten Theatersaal und verfolgt interessiert den Auftritt eines älteren Performers.
Als sie das Gefühl bekommt, die Performance gelte ihr persönlich, stürzt sie aus der Veranstaltung und
findet sich allein in einem industriellen Niemandsland wieder, wo es – in Analogie zu Neshats Traum – zu
einer gespenstischen Begegnung“ (Heide Barrenechea S. 167) mit ihrer Mutter kommt: Diese nimmt sie
nicht wie erhofft in den Arm, sondern stößt sie rüde und entschieden zurück. „Damit beschreibt Neshat die
Angst vor Entwurzelung und das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen westlicher und iranischer
Kultur“ (Heide Barrenechea a. a. O.).

Die Übersichtsausstellung in der Kunsthalle Tübingen führt wichtige Werke aus allen Schaffensperioden der
Künstlerin bis hin zu Neuproduktionen aus den Jahren 2016 und 17 zusammen. Der zur Ausstellung
erschienene umfangreiche Katalog stellt die ausgestellten Fotoserien, Video- und Autoinstallationen in den
Kontext des Gesamtwerks und diskutiert unter anderem die Frage, wie Weiblichkeit in Shirin Neshats
Videoarbeiten repräsentiert ist und welche Stellung Neshat im iranischen Feminismus einnimmt. Die
jüngsten zarten Öffnungen in der Kunstszene von Teheran kommen verständlicherweise nicht mehr in den
Blick: Dort können Frauen und Männer neuerdings wieder in gemischten Gruppen durch Galerien gehen,
„die Frauen meist in der Überzahl. ›Sechs Galerien haben wir angeschaut‹, sagt Zardoost, weinrote Hose,
knöchelhohe, hellbraune Raulederschuhe und eine Hornbrille im Gesicht. Hier werden jetzt die Facebookund
Instagram-Konten auf Stand gebracht, die Bilder, Fotografien des Nachmittags diskutiert, Namen von
Künstlern ausgetauscht. Es gibt keine Bars oder Clubs in der Islamischen Republik und Partys spielen sich
wenn überhaupt in Privatwohnungen ab und einigen wenigen illegalen Locations in der 15-Millionen-
Metropole. Die Galerien sind auch deshalb beliebt, weil sie neben der Kunst geduldete Freiräume bieten:
Man begegnet dort Gleichgesinnten: liberale Großstädter, kosmopolitisch, intellektuell, kann sich bei Tee
und Gebäck oder einer Zigarette ungezwungen unterhalten“ (Paul-Anton Krüger, Kleine Fluchten. In: SZ Nr.
166 vom 21. Juli 2017 S. 10). Und anders als in Neshats Video Turbulent können iranische Musikerinnen
wie in dem Anfang Juli 2017 in der Rudaki Halle in Teheran von Riccardo Muti dirigierten Verdi-Konzert
gemeinsam mit Männern vor Publikum auftreten.

Beim Konzert haben die Instrumentalistinnen rote Kopftücher zum schwarzen Outfit getragen und die
Choristinnen gelbe; auch „die Italienerinnen müssen Socken anziehen. Außer Gesicht und Händen bleibt
kein Stück weibliche Haut unbedeckt, der Fotos wegen, die in religiöse Teile des Landes gelangen könnten.
Hat der Islam vielleicht gar kein problematisches Frauenbild, sondern ein problematisches
Männerbild?“ (Christine Lemke-Matwey, Downtown Teheran. In: Die Zeit Nr 30, 20. Juli 2107, S. 39).

ham, 21. Juli 2017

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