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Herausgegeben von Elena Korowin und Hendrik Bündge mit einem Vorwort von Elena Korowin und Essays
von Andreas Beitin und Ferial Nadja Karrasch

Kerber Edition Young Art, Kerber Verlag Bielefeld/Berlin, 45 cbm – Studio der Staatlichen Kunsthalle
Baden-Baden, 2015, ISBN 978-3-7356-0170-4, 136 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Broschur mit
Schutzumschlag aus Leinen, Format 30 x 22,2 cm, € 35,00 / CHF 42,70

Eingängige Begriffe sind für die Rezeption künstlerischer Werkgruppen in der Fach- und in der interessierten
Öffentlichkeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Das belegen der 1979 von dem römischen
Kunstkritiker Achille Bonito Oliva geprägte Begriff der Transavantguardia ebenso wie die anfangs der
1980er Jahre aufgekommen Kürzel wilde und heftige Malerei und die mit dieser Malerei verbundenen
Kölner und Berliner Künstlergruppen Mülheimer Freiheit und Moritzboys. Wenn Andreas Beitin die in den
letzten Jahren entstandenen Werke und Werkgruppen des 1979 in Heilbronn geborenen und heute in
Karlsruhe lebenden Künstlers Sebastian Winkler in Anlehnung an André Malrauxs musée imaginäre im
Begriff musée des matériaux zusammenfasst, kommt dieser Benennung neben der erforderlichen Prägnanz
auch die Eigenschaft zu, die weit auseinander liegenden Alltagsmaterialien unter einen gemeinsamen Hut zu
bringen und ideell zu vereinen. Gewöhnlich haben Hölzer, Schamottesteine und Dauerdosen wenig gemein
außer dem aus dem Holz lodernden Feuer, das die Dauerdosen bei Hausschlachtungen im Wasserkessel
erhitzt, und die Stoffe, Wachspapiere, Zeichnungen, Drahtkuben und Gedichte nichts mit den Dauerdosen,
Schamottesteinen und Fundhölzern. Aber in Winklers installativen Assemblagen entwickeln diese Objekte in
ihren „formalen, materiellen und haptischen“ Kontrasten oder Harmonien „ein assoziatives Gewebe, das über
den von den Werken faktisch eingenommen Raum hinausreicht und als installative Setzung wahrgenommen
werden kann“ (Andreas Beitin S. 49).

Seine bisher überwiegend in großer formaler Strenge entwickelte Werkgruppe der Stoffarbeiten leistet sich
in Arbeiten wie emma (2013) oder o.t.(grande dame) (2012) „ein in begrenzten Teilen geradezu organisches
Wachstum, das aus den mit Draht umwickelten Bereichen immer wieder hinauswuchert und ein freies
Formenspiel entfaltet. Die Stoffe, die Winkler für diese Werkgruppen verwendet, stammen zu einem Teil aus
dem Nachlass seiner Großmutter […]. Die meisten Stoffe, die weltweit produziert werden, entstehen immer
noch auf Webstühlen, die […] letztlich […] auf der gleichen Technik beruhen, wie sie seit mehr als 30 000
Jahren angewendet wird: das Verflechten von zwei oder mehr Fäden zu einem Gewebe. Dementsprechend
bezeichnet man die Systematik der verschiedenen Möglichkeiten der […] Verkreuzungen des Kettenfadens
mit dem Schussfaden als Bindungslehre. Abstrakt formuliert geht es um das systematische In-Beziehung-
Bringen von zwei oder mehreren Elementen […]. Das musée des materiaux von Sebastian Winkler kann mit
seinen Skulpturen, Bildwerken, Fotografien und Texten dementsprechend als eine in die künstlerische
Dimension erweiterte Form der Bindungslehre verstanden werden, die materielle, sprachliche, relationale
oder biografische Verkreuzungen herstellt, sie auf ihre Beziehungen hin überprüft und neue Verbindungen
konstruiert, deren Wert über den ihrer Einzelteile bei Weitem hinausgeht“(Andreas Beitin S. 52 f.).
Wenn man Sebastian Winkler danach fragt, was die Einzelobjekte in seinen installativen Arrangements
verbindet, antwortet er wie folgt: „In meinen installativen Arbeiten arrangiere und kombiniere ich
verschiedene Materialien und Gegenstände, die ihrem ursprünglichen Verwendungszweck entzogen sind.
Dabei gehe ich von den besonderen Eigenschaften und Strukturen des Materials aus und ordne es in einem
neuen Kontext, ohne dass es seine ursprüngliche Wirkung verliert, aber doch in der individuellen Bedeutung
changiert […]. Ausgangspunkt sind meist erlebte oder beobachtete Situationen. Diese sind sowohl von einem
Ort geprägt, als auch den Menschen, deren Beziehung zueinander, ihren Gefühlen und dem persönlichen
Umgang damit. In den Titeln wird das in einer sprachlich konkreten Form angedeutet, doch nie zu einer
schlichten Erzählung, denn es sind Worte, die erst in Bezug zu den individuellen Erfahrungen jedes
Einzelnen zu einer Geschichte werden. Ein Satz, wie »ich wollte das so nicht« oder »dich habe ich
vermisst«, bleibt in der Erinnerung an eine Situation vielleicht der präsenteste, verändert in der Rückschau
aber seine emotionale Intensität, wird infrage gestellt oder bestätigt gefunden. In meinen Textarbeiten, die
parallel zu den Installationen entstehen, wird diese Umformung und Zerlegung der Worte zu Ende geführt.
Manchmal wird der Text auf Transparentpapier Teil der Installation, oft der erste Satz zum Titel […].

Die Auswahl an Materialien, die ich für meine Arbeiten heranziehe folgt im Kern zwei Interessen: Der im
Material gespeicherten Bedeutung und der Möglichkeit, diese Teil einer abstrakten Setzung im Raum werden
zu lassen. So ist zum Beispiel der Schamottestein in seinen Grundmaßen Grundlage für gebaute Strukturen,
bzw. topografische Anordnungen. Gleichzeitig schaffen Oberfläche und Verfärbungen ein eigenes,
erzählerisches Moment. Stoffe sind für mich in ihren sichtbaren und haptischen Eigenschaften, bedingt durch
die Bindungsstruktur, aufs engste mit Menschen verbunden und werden von mir charakteristisch ausgewählt,
arrangiert oder bearbeitet. Dass meine Großmutter Herrenschneiderin war und meine Urgroßmutter
Schneiderin, ist sicher ein weiterer Grund für die intensive Beschäftigung mit diesem Material.
Auch gefundene Gegenstände, wie die Dauerdosen, erzählen eine eigene Geschichte. Wenn sie Bestandteil
einer Installation werden, habe ich sie vorher gesucht. Dabei ist wichtig, dass Auswahl und Form des
Materials immer die Möglichkeit der individuellen Bezugnahme bewahren. So entsteht ein Repertoire, das
sich langsam erweitert, doch immer erst dann, wenn es an Grenzen stößt. “ (Sebastian Winkler in: Kerber Blog.
musée des matériaux | 5 Fragen an Sebastian Winkler. Siehe http://kerber-blog.com/5-fragen-an-sebastianwinkler/).

ham, 8. April 2016
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