Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 27. September bis 11. November 2018 in Sankt Hedwig, Berlin, herausgegeben von Tobias Przytarski, Peter Raue, Georg Maria Roers SJ mit Texten von Thomas Jonigk, Peter Raue, Joachim Sartorius, Georg Maria Roers SJ

Kerber Verlag, Bielefeld / Berlin 2019, ISBN 978-3-7356-0628-0, 136 Seiten, 39 farbige Abbildungen, Hardcover, Format 25,5 x 19 cm, € 35,00 € (D) / 42,98 CHF 

Als Rebecca Horns Ausstellung ›Glowing Core‹ vor einem Jahr in Sankt Hedwig, Berlin zu Ende ging (vergleiche dazu https://www.youtube.com/watch?v=clvHhE-_GBQ und rebecca horn glowing core berlin), war sie zwar nicht von den von den Veranstaltern erwarteten 100 000, aber immerhin von 23 000 Besuchern gesehen und besucht worden und damit der Höhepunkt der Berlin Art Week. Für Horns Berliner Version ihres installativen Spiels mit Spiegeln, Höhen und Tiefen im Raum, den Farben Gold und Blau und dem seit ihrer Performance ›Unicorn‹, (vergleiche dazuhttp://rebeccahornart.blogspot.com/2009/11/unicorn.html) vielfach variierten Speer wurde die Öffnung der Bischofskirche vor dem Altar in die Unterkirche geschlossen (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/maps/uv?hl=de&pb=!1s0x47a84e1e549f0fc7%3A0x147458d5478e7977!3m1!7e115!4shttps%3A%2F%2Flh5.googleusercontent.

com%2Fp%2FAF1QipNXiI1f1Bf1ed5IeQC9DWjSRBR4Y6CuAxZsmI7e%3Dw86-h87-n-k-no!5sst.%20hedwig%20berlin%20-%20Google-Suche!15sCAQ&imagekey=!1e10!2sAF1QipOzEDQ0Wu8BV_fkXm_mpIb1kLKyZXtbp31dhIvV). Deshalb konnte Horn ihren ›Mondspiegel‹ zentral unter der Kuppel von Sankt Hedwig platzieren und den Raum analog zum Pantheon für das Erleben von Unendlichkeit öffnen. 

Was in Sankt Hedwig vom 27. September bis 11. November 2018 jeweils zwischen Sonnenuntergang und 23 Uhr zu erleben und wahrzunehmen war, kann man entweder wie der 1966 in Eckernförde geborene Schriftsteller und Dramaturg Thomas Jonigk als der diskursiven Beschreibung nicht zugängliche unmögliche Möglichkeit begreifen und mit Joseph von Eichendorff zum Geheimnis des Kunstwerks erklären (vergleiche dazu Thomas Jonigk, Rebecca Horn und ich. Im Katalog S. 42 – 44). Oder man greift wie der 1965 in Rees geborene katholische Theologe, Kunstwissenschaftler, Lyriker und seit 2015 in Berlin als Künstlerseelsorger tätige Georg Maria Roers SJ so viele Fäden wie möglich auf und widmet der Künstlerin und ihrem Werk eine ausgewachsene Würdigung (vergleiche dazu Georg Maria Roers SJ, Are You a Lunatic? Swinging between th Sun and the Moon. Im Katalog S. 72 – 93). 

Jonigks Argumentation läuft auf die Auffassung hinaus, dass Kunst Metaphysik braucht. „Kunst braucht die klaffende Wunde eines erfahrenen Verlusts, ohne den keine […] Umdeutung des zeitgenössischen Daseins in Schönheit vorstellbar wäre. Keine Sehnsucht nach Mehr. Was darunter […] zu verstehen beziehungsweise welcher Art der Verlust oder die Wunde sein könnte […], spielt keine Rolle. Ich lausche interessiert einer Stimme, die aus der Tiefe, aus irgendeinem glühenden (strahlendem, leuchtenden) Kern heraus immer und immer wieder die Phrase ›Hier und jetzt. Und zwar auf der Stelle‹ formuliert, erst undeutlich flüsternd, kurz darauf penetrant gut gelaunt (und zunehmend lauter), jetzt im anmaßenden Befehlston. Hier und jetzt. Und zwar auf der Stelle. Gar nicht schlecht. Besser hätte ich es selbst bestimmt nicht sagen können […]. Ein letzter Blick zurück: Gold, Trichter, Spiegelflächen, auch die […] Totenköpfe, die symmetrisch angeordneten Wasserschalen und Kakteen betrachte ich mit herablassender Skepsis. Gleichzeitig langweilen mich meine eigenen Beurteilungs- und Einordnungskriterien: Ich beschließe, mir meine Kritik an ›Glowing Core‹ zu untersagen. Ein unnötiger Vorsatz: Schon jetzt – in diesem Augenblick – habe ich keine mehr. Ich bin süchtig. Und nicht bereit, auf etwas von dem, was ich gesehen beziehungsweise wahrgenommen habe, zu verzichten“ (Thomas Jonigk, a. a. O, S. 44).

Roers erinnert im Schlussteil seines Textes an Rebecca Horns frühe Krankheiten und ihren einjährigen Krankenhausaufenthalt (vergleiche dazu https://www.journal21.ch/fesselung-und-befreiung), der „wohl sehr deutliche Spuren in der Seele der Künstlerin hinterlassen hat. Das wird anhand von ›Passage Interieur‹ (1991) deutlich. Es endet mit der Strophe: ›Unverträglichkeit der Zeichen / die Innereien entflechten / die Trichter der Wunden verlagern / die Kopfhaut neu zusammennähen / auf der Spitze des Himalayas in vertikaler Vereisung erwachen‹. Hier ist von ›Trichtern und Wunden‹ die Rede. Einsamkeit und Selbsterkenntnis, die Erfahrung von Leid und Schmerz fließt in ›Glowing Core‹ ebenso ein wie das Glück sexueller Erfüllung oder die Lust am Leben im Allgemeinen. Manchmal sind es bewusste Provokationen, mit denen die Künstlerin uns BetrachterInnen konfrontiert. Mit ihrer Kunst hat Rebecca Horn uns in einen anderen Rhythmus gebracht. Haben wir uns davon entfremdet? Die Frage am Ende dieses langen Artikels lautet: ›Are you a lunatic?‹ Diese Frage im Englischen setzt im Deutschen eine Menge Assoziationen in Gang. Bist du verrückt? Bist du neben der Spur? Bist du mondsüchtig? Bist du noch von dieser Welt? Der ›Mondspiegel‹ inmitten von Sankt Hedwig hat viele Menschen nachdenklich gemacht und beglückt. Die Warnung im 5. Buch Mose (4,19) trifft mich nicht:›Wenn du die Augen zum Himmel erhebst und das ganze Himmelsheer siehst, die Sonne, den Mond und die Sterne, dann lass dich nicht verführen! Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen. Der HERR dein Gott, hat sie allen Völkern unter dem Himmel zugewiesen‹. Ich lese statt dessen ›Der Mensch im Kosmos‹ (1959) von Pierre Teilhard de Chardin SJ […]. Wer in Berlin etwas erleben will, muss zuweilen wie ein träumerischer Flaneur durch die Stadt wandern, so […] Walter Benjamin […] vor etwa 100 Jahren. Der Flaneur wird im Gewimmel der Großstadt immer etwas Neues entdecken – ausruhen und schauen. Nur den Sternhimmel kann er nicht schauen wegen des Lichtsmogs der Stadt. Die Kunst von Rebecca Horn hat uns Sonne, Mond und Sterne trotzdem in den Stadtraum gebracht. Und noch viel mehr“ (Georg Maria Roers SJ a. a. O. S. 92 f.).

Gunda Bartels hat in ihrer Besprechung der Ausstellung im Tagesspiegel vom 28. 9.2018 darauf aufmerksam gemacht, dass genau dort, wo das Spiegelpodest in der Ausstellung steht, bis vor Kurzem das Loch des Anstoßes klaffte. „Hier führte eine Treppe in die Krypta, die Unterkirche des nach Kriegszerstörungen von Hans Schwippert zu DDR-Zeiten ausgestatteten Rundbaus. Gegen die derzeit nur provisorische Schließung und die Neugestaltung des denkmalgeschützten Kirchraums haben die Nachfahren des Architekten und andere damals beteiligte Künstler – unterstützt von Denkmalschützern und den ›Freunden der Hedwigs-Kathedrale‹ – nach jahrelangem Streit Klage eingereicht. Dass die Kathedrale, deren anstehende Kuppelsanierung sich wegen eines noch ausstehenden Förderbescheids verzögert, nun mit Kunst statt mit katholischer Liturgie bespielt wird, haben einige der Umbaukritiker im Vorfeld sogar als ›Profanierung‹ gegeißelt“ (https://www.tagesspiegel.de/kultur/rebecca-horn-in-sankt-hedwig-wo-der-kirchraum-zum-kunstraum-wird/23117488.html). Allerdings könne es Rebecca Horns „Voodoo mittels ausgeklügelter Apparaturen, Lichtwirkungen und Zeichensysteme nicht mit dem spirituellen Gehalt einer katholischen Messe aufnehmen. Ein Raumerlebnis und Weihespiel, das zudem an etlichen Abenden mit Gratis-Nachtmusiken zelebriert wird, ist es aber allemal“ (Gunda Bartels a. a. O.). 

Ob Rebecca Horn mit ihrer Installation in Konkurrenz zur Liturgie treten wollte, fragt Bartels nicht. Und dass sie mit ihrer Arbeit in den Streit um den Umbau der Sankt Hedwigs-Kathedrale hineingezogen werden könnte, hat sie mutmaßlich weder geahnt noch beabsichtigt: Die 2014 aus dem Wettbewerb für den Umbau von Sankt Hedwig hervorgegangenen Sieger, Sichau & Walter Architekten, Fulda und Leo Zogmayer, Wien wollen den Zugang zur Unterkirche auf Dauer schließen und den neuen Altar genau an die Stelle setzen, an dem Horns Mondspiegel während ihrer Ausstellung stand (vergleiche dazu https://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-mitte-denkmalschutz-contra-liturgie-diskussion-um-st-hedwigs-kathedrale/22985012.html, https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-berliner-kirchenumbau-hauptsache-hedwig.886.de.html?dram:article_id=451128 und Peter Richter in der SZ Nr. 254 vom 4. November 2019 S. 9).

ham, 7. November 2019

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