Neuausgabe 2011 der 1999 bei DVA, Stuttgart veröffentlichen Erstausgabe; Deutscher Taschenbuch Verlag,
München, 2011, ISBN 978-3-423-34669-6, 176 Seiten, über 200 schwarz-weiß-Abbildungen, Broschur,
Format 27 x 20 cm, € 16,90

Rainer Funk
Erich Fromms Konzept der Liebe zum Leben angesichts der faktischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben

In: Wie wollen wir in Zukunft leben? Fromm – Forum 20/2016, herausgegeben vom Vorstand der
Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft e. V., ISSN 1437-0956 Seite 86 – 92

Als Albert Schweitzer im September 1915 auf einer dreitägigen Fahrt auf dem Ogowe die Ehrfurcht vor dem Leben als Leitidee seiner universellen Ethik festschreibt und sie mit dem Satz Ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will begründet, geht der damals 15-jährige Erich Fromm auf das Wöhler-Gymnasium in Frankfurt. Im Jahr davor hatten die Schüler vor den Sommerferien im Englischunterricht die Aufgabe bekommen, die englische Nationalhymne auswendig zu lernen. Damals herrschte noch Frieden. Erich Fromm und seine Mitschüler haben den Eintritt Englands in den Ersten Weltkrieg am 4. August 1914 und den danach verbreiteten >Haß auf England< zum Anlass genommen, das Auswendiglernen „>der Nationalhymne unseres schlimmsten Feindes<“ (Erich Fromm nach Rainer Funk, Liebe zum Leben S. 35) zu verweigern. Fromm hat seinen Englischlehrer noch nach Jahren vor der Klasse stehen sehen, „>wie er mit
einem ironischen Lächeln über unseren Protest ruhig sagte: >Macht euch nichts vor; bis jetzt hat England noch nie einen Krieg verloren.< Hier sprach die Stimme der Vernunft und des Wirklichkeitssinnes inmitten des aberwitzigen Hasses - und es war die Stimme eines verehrten bewunderten Lehrers! Dieser eine Satz und die ruhige, vernünftige Art, in der er geäußert wurde, war für mich eine Erleuchtung. Er durchbrach die verrückte Haßwelle und die nationale Selbstvergötterung und ich begann nachzudenken … <“ (Erich Fromm nach Rainer Funk a. a. O.). Nach Funk war dieser Englischlehrer einer der ersten, der dem am 23. März 1900 in Frankfurt geborenen und im Umfeld des Chassidismus aufgewachsenen Jugendlichen auf die befreiende Kraft selbständigen Denkens aufmerksam gemacht hat, als er es wagte, die eigene Stimme gegen Mehrheitsmeinungen und „das allgemein übliche Kriegsgeschrei zu erheben und so Autonomie und Selbstständigkeit zu zeigen“ (Rainer Funk, a. a. O.). In diese Reihe der Fromm zum selbständigen Denken ermutigenden Vorbilder gehören weiter der galizische Jude Oswald Sussmann, der Fromm mit dem sozialistischen Gedankengut vertraut gemacht hat, der Frankfurter Rabbiner Nehemia Anton Nobel, die Dozenten des von ihm mitbegründeten >Freien Jüdischen Lehrhauses< in Frankfurt, sein aus dem Chabad-Chassidismus kommender Heidelberger Talmudlehrer Salman Baruch Rabinkow und sein Doktorvater Alfred Weber, der Bruder von Max Weber. In seiner Dissertation arbeitet der 22-jährige Fromm heraus, dass die in der Diaspora von den Gesetzestreuen gelebten Ethosformen als „>gesellschaftlicher Kitt<“ fungiert und ein Weiterleben mitten unter anderen Völkern ermöglicht, „>innerhalb und doch außerhalb ihrer Welt stehend< […]. Wenn eine gesellschaftliche Gruppe ihre Lebenspraxis - also ihre Produktionsweise, ihre Vorstellungs- und Beziehungsformen, ihr kulturelles, politisches, ethisches und religiöses Handeln - so gestaltet, dass sie auch bei veränderten Umständen die überkommenen Ethosformen fördert und stabilisiert, ist auch der gesellschaftliche Zusammenhalt dieser Gruppe garantiert. Dass die Ethosformen als psychische Strukturen aufzufassen sind, die eine eigenständig dynamische Kraft darstellen, hat Fromm erst mit Hilfe der Freudschen Psychoanalyse sehen können “ (Erich Fromm / Rainer Funk a. a. O. S. 55 ff.). Unter dem Einfluss des immer und überall zu sich stehenden, bei sich selbst bleibenden und zu anderen unmittelbar offenen Salman Rabinkow hat Fromm seine Mitgliedschaft im zionistisch orientierten Kartell Jüdischer Verbindungen 1923 wieder aufgekündigt, weil er „ >den jüdischen Nationalismus kein Stück besser fand als den der damals aufkommenden
Hakenkreuzer< “ (Erich Fromm nach Rainer Funk a. a. O. S. 40). „ Die Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie muß sich gewiss vor dem Fehler hüten, da psychoanalytische Antworten geben zu wollen, wo ökonomische,
technische, politische Tatsachen die wirkliche und ausreichende Erklärung soziologischer Fragen geben.
Andererseits muß der Psychoanalytiker darauf hinweisen, dass der Gegenstand der Soziologie, die Gesellschaft, in Wirklichkeit aus einzelnen Menschen besteht und dass diese Menschen, und nicht eine abstrakte Gesellschaft als solche, es sind, deren Handeln, Denken und Fühlen Gegenstand soziologischer Forschung ist<“ (Erich Fromm nach Rainer Funk a. a. O. S. 68). Seine „Fähigkeit, Psychoanalyse und historischen Materialismus zu einer eigenen sozial-psychologischen Theorie zu verbinden“ (Rainer Funk. a. a. O. S. 72), machten ihn als Psychoanalytiker für Max Horkheimer und das Frankfurter Institut für Sozialforschung interessant und es kam 1930 zu einer losen und ab 1931 zu einer festen Form der Zusammenarbeit. Diverse Phasen der Erkrankung an Tuberkulose und Differenzen über das den autoritären Charakter am zutreffendsten erklärende sozialpsychologische Modell führten 1939 zur Auflösung der Zusammenarbeit. „> Die Aufgabe scheint mir zu sein<, schreibt Fromm in einem Brief vom 1. Juli 1936, >die Charakter- und Triebstruktur als eine Anpassung an die vorhandenen gesellschaftlichen Bedingungen zu
verstehen und nicht die erogenen Zonen zur >causa< zu machen.< Horkheimer sah gerade in Freuds Triebbegriff die materialistische Begründung psychischer Phänomene gewährleistet. Fromm hingegen kritisierte an der Triebpsychologie Freuds genau die damit einhergehende Sicht > des Menschen als eines Tieres, das durch seine Triebe genötigt und durch die Gesellschaft domestiziert wird … Bei Freud sind alle Phänomene der Spontanität wie Liebe, Zärtlichkeit, Freude, ja selbst sexuelle Lust nur Phänomene der Spannungsreduktion; darüber hinaus gibt es sie nicht.<. Auch für Fromm spielen Triebe eine wichtige Rolle im menschlichen Leben, doch >jene Emotionen, die ganz wesentlich das menschliche Handeln motivieren, sind historisch (gesellschaftlich) bedingt<“ (Erich Fromm /Rainer Funk, a. a. O. S. 93). 1931 hatte sich Fromm von Frieda Reichmann-Fromm getrennt; 1934 war er in die USA emigriert und 1940 hat er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten. Sein nach vielen Umarbeitungen 1941 unter dem Titel Die Furcht vor der Freiheit erschienenes Buch über den bürgerlichen Charakter hat ihn in Amerika bekannt gemacht. Die der Arbeit zugrunde liegenden Annahmen lagen schon im Sommer 1937 fest und lassen sich nach Funk in drei Thesen fassen: „1. >In der psychischen Struktur (sind) zwei Elemente zu unterscheiden: die natural gegebenen physiologischen Triebe und die historischen, sich im gesellschaftlichen Prozess entwickelnden psychischen Impulse.< 2. >Der Lebensprozess, in den die physiologischen Bedürfnisse als ein Moment eingehen, nicht die Physiologie, bildet die materielle Basis, aus der die psychische Struktur des Menschen verstanden werden muss.< 3. >Die Verschiedenheit der Produktions- und Lebensweise der verschiedenen Gesellschaften beziehungsweise Klassen führt zur Herausbildung verschiedener, für diese Gesellschaft typischer Charakterstrukturen.<“ (Erich Fromm nach Rainer Funk, a. a O. S. 95). „Dieser innovative und kreative psychoanalytische Theorieansatz, der vom vergesellschafteten Menschen ausgeht, dessen psychische Struktur sich nicht gemäß einer festgelegten Triebdynamik entwickelt, sondern aufgrund von Erfahrungen der Bezogenheit auf die Wirklichkeit, fiel zwar im Institut für Sozialforschung durch, wurde aber von anderen positiv aufgenommen und führte zu neuen Kontakten Fromms“ (Rainer Funk S. a. a, O. S.102), so zu Harry Stack Sullivan und der Washington School of Psychiatrie. 1944 heiratete Fromm Jenny Gurland und zog mit ihr 1950 vor allem aufgrund ihrer Krankheit nach Mexiko, „aber auch mit dem Interesse, mexikanische Psychiater auszubilden“ (Rainer Funk a. a. O. S. 128). Nach dem Tod von Jenny im Juni 1952 heiratet Fromm im Dezember 1953 Annie Freeman. „Zweifellos haben sich die Erfahrungen ihrer Liebe in Fromms (1956 veröffentlichtem Buch) Die Kunst des Liebens niedergeschlagen […]. >Liebe ist nur möglich, wenn sich zwei Menschen aus der Mitte ihrer Existenz heraus miteinander verbinden, wenn also jeder sich selbst aus der Mitte seiner Existenz heraus erlebt. Nur dieses >Leben aus der Mitte< ist menschliche Wirklichkeit, nur hier ist Lebendigkeit, nur hier ist die Basis für Liebe<“ (Rainer Funk / Erich Fromm, a. a. O S. 138). Im Rahmen eines Seminars mit dem Zen-Buddhisten Daisetz T. Suzuki im August 1957 referierte Fromm über >>Psychoanalyse und Zen-Buddhismus<< und legte dar, wie sich in der Erfahrung des Einsseins mit der inneren und äußeren Wirklichkeit die Ich-Grenzen überwinden lassen, ohne dass es zu einer psychotischen Auflösung der Ich-Funktionen kommt. Die schon in den mystischen Strömungen der Religionen und bei Plotin und Pseudo- Dionysos Areopagita beschriebenen Erfahrungen des Einsseins und des EINEN sah er im Humanismus der Renaissance zur Blüte gekommen. „>Der wichtigste Gedanke des Humanismus ist die Idee, dass die gesamte Menschheit in jedem Menschen enthalten ist und der Mensch seine humanitas im historischen Prozess entwickelt<“ (Erich Fromm 1963 f. nach Rainer Funk a. a. O. S. 134). 1976 erscheint Haben oder Sein. Die Alternative „bezieht sich auf Existenzweisen und kennzeichnet deren produktive oder nicht-produktive Wirkung für das auf Wachstum angelegte System Mensch. Psychologisch gesehen geht es um die Stärkung und Behinderung dieses Wachsenwollens der im Menschen selbst liegenden Eigenkräfte […]. Es geht nicht primär um die Frage, was ein Mensch hat oder nicht hat, sondern um die Frage, ob der Mensch mit dem, was er zum Vollzug seines Lebens hat und sich zugeeignet, sein Sein begründet“ (Rainer Funk a. a. O. S.158). In seiner nun weltweiten Vortragstätigkeit wird ihm der humanistische Sozialismus zur wichtigsten Alternative zum westlichen Kapitalismus und sowjetkommunistischen Sozialismus. Mit Albert Schweitzer verbindet ihn „der Kampf gegen die atomare Bedrohung und sein Konzept der >Ehrfurcht vor dem Leben<, das in vielem Fromms Anfang der sechziger Jahre entwickeltem Konzept der Liebe zum Leben (Biophilie) entspricht […]. Anders als Freud, der in seiner 1924 formulierten Triebtheorie das Destruktive einem dem Lebenstrieb gegenüberstehenden, gleich ursprünglichen Todestrieb zuschrieb, hielt Fromm aufgrund biologischer Überlegungen - weil >die Lebenserhaltung das biologisch oberste Prinzip< ist - an der humanistischen Erfahrung und Überzeugung fest, dass alles Lebendige eine primäre Tendenz hat, zu wachsen und sich zu entfalten, und dass das Destruktive beim Menschen seine Wurzeln in der Behinderung und Vereitelung dieser Eigengesetzlichkeit des Lebendigen hat. >Man kann nämlich zeigen, dass die zerstörerischen Tendenzen, also die Todestriebtendenzen, Resultate eines Versagens der Kunst des Lebens sind, des Nicht-richtigen-Lebens>“ (Rainer Funk / Erich Fromm, a. a. O. S. 150).

Rainer Funk greift in seinem 35 Jahre nach dem Tod von Erich Fromm veröffentlichten Aufsatz über Fromms Konzept der Liebe zum Leben die Frage nach den Ursachen des „Nicht – richtigen- Lebens“ wieder auf und fragt, warum die Liebe zum Leben oft keine Wirkung zeigt, warum „es viele von uns kalt lässt, obwohl es immer wärmer wird“, warum „der >Kopf< etwas anderes als das >Herz< will“ und warum sich die Medien „über die nicht zielgenauen Sturmgewehre G 36 von Heckler und Koch“ aufregen, „nicht aber über die Produktion von Waffen und die illegalen Exporte dieser Firma“ (Rainer Funk, Erich Fromms Konzept, a. a. O. S. 86). Er erinnert an Fromms Unterscheidung zwischen bewusstem Wollen und Denken und unbewusstem Streben und an Jesu Grundsatz aus Matthäus 7, 16 An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen als ersten Zugang zum sozialen Unbewussten. Einen zweiten Zugang eröffnen nicht kontrollierbare Situationen, in denen wir etwas tun, das andere unabsichtlich verletzt, kränkt oder zu Schaden bringt. Einen dritten Zugang bieten die stark abwehrenden Reaktionen bei Einzelnen oder gesellschaftlichen Gruppierungen, wenn sie auf die schädigenden Wirkungen ihrer Handlungen hingewiesen werden. Jeder politische, religiöse und moralische Fanatismus geht mit „einer starken Spaltung von Gut und Böse einher“, die die eigene Destruktivität im Unbewussten lässt und ungeniert im fanatischen Kampf für das Gute auslebt (Rainer Funk a. a. O. S. 87). Mitten in der Hochphase des Kalten Krieges kommt Fromm zur Auffassung, dass „eine meist unbewußte Gleichgültigkeit Menschen daran hindert, das Leben und das Lebendige effektiv zu lieben“ und dass diese unbewusste Gleichgültigkeit unter anderem mit einer autoritären, nekrophilen oder Marketing - Orientierung verbunden ist. Bei seiner Erklärung von Nekrophilie kommt noch einmal Albert Schweitzer ins Spiel: „>Dieses Sich-Angezogenfühlen vom Nicht-Lebendigen (…) führt selbst in seiner weniger dramatischen Form zu einer Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, die an die Stelle der ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ tritt<“ (Rainer Funk / Erich Fromm 1968, a. a. O. S. 92). ham, 4. 1. 2016 Download

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