Benevento Publishing, Wals bei Salzburg, neunte Auflage 2015, ISBN 978-3-7109-0000-6, 56 Seiten,
Hardcover, Format 19,7 x 10,7 cm, € 4,99

Wer mit Friedrich Schleiermacher unter Religion „das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ versteht und
die Religion in jedes Menschen Herzen angesiedelt sieht, wird sie auch als Größe auffassen, die die
Menschheit verbindet. „Die Religion wächst in jedes Menschen Herz. Das ist gerade das, was uns in der
Menschheitsfamilie verbindet“ (Wilhelm Gräb). Religion bindet den Menschen an das zurück, was er für
wesentlich hält, sei es Gott oder die kosmische Energie, die allem zugrunde liegt. „Wenn die umfassende
Energie als das Eine, Wesentliche verstanden werden kann, das allem zugrundeliegt, wird der Rückbezug
darauf zur Basis einer säkularen Religiosität. Sie ist nicht an eine Religionsgemeinschaft gebunden, muss
aber auch nicht gegen sie abgeschottet werden. Ich kann Gotteshäuser als Transmitter verstehen, das Gebet
als eine Meditation, die Feier der pfingstlichen Flamme als Gelegenheit, mich für den göttlichen, den
kosmischen Raum der Energie zu öffnen, mich von Neuem beseelen und inspirieren zu lassen […]. Jede
Kreativität ist säkulare Religiosität, weltlicher Gottesdienst, denn sie hat immer mit dem unendlichen
Horizont von Möglichkeiten zu tun. All das ist Religion“ (Wilhelm Schmid, Man kann auch säkular glauben.
In: Die Zeit Nr. 21, 17. Mai 2018, S. 56).

Wenn man Religion aber als „Lehre“ begreift, die zu anderen Religionen in Konkurrenz tritt und ihre
Auffassung von Mensch, Gott und Welt mit Intoleranz und Gewalt gegen andere Religionen durchsetzen
will, wird man wie der Dalai Lama eher auf Spiritualität und eine säkulare Ethik setzen. Spiritualität ist nach
seiner Auffassung wesentlicher als Religion. „Das ist eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe,
Güte und Zuneigung – unabhängig davon, welcher Religion wir angehören. Nach meiner Überzeugung
können Menschen zwar ohne Religion auskommen. Aber nicht ohne innere Werte, nicht ohne Ethik“ (Dalai
Lama S. 9). Für den Dalai Lama ist der Mensch definitiv nicht „des Menschen Wolf“ (Maccius Plautus /
Thomas Hobbes). Er muss deshalb nicht vor anderen beschützt werden; es braucht deshalb auch keine Ethik
im Sinne von Geboten und Verboten, die es zu befolgen gilt. Der Mensch neigt nach der Auffassung des
Dalai Lama von Natur aus zu Güte, Harmonie und einem friedlichen Leben. Ethik wird dann zu einem
natürlichen, inneren Angebot, „das uns zu Glück und Zufriedenheit mit uns selbst und anderen führen kann
[…]. Ethische Bildung ab etwa 14 Jahren ist wichtiger als Religion. Bildung verändert alles. Menschen sind
lernfähig. Das zeigt in Deutschland der Fall der Mauer in Berlin, den ich, unvergesslich für mich, miterlebt
habe, oder auch die Politik der Europäischen Union. Ehemalige Kriegsgegner bauen heute gemeinsam ein
friedliches Europa auf. Dafür hat die EU sogar den Friedensnobelpreis erhalten. Zu Recht!“ (Dalai Lama S.
21 f.).

Neuere und neueste neurowissenschaftliche Studien lassen den Dalai Lama annehmen, dass wir unser Gehirn
positiv beeinflussen, zum Besseren verändern und bewusst Gutes und Schönes in uns aufnehmen können.
Deshalb ist für ihn Meditation nicht nur für Zufriedenheit, Wohlbefinden, die körperliche und psychische
Gesundheit gut, sondern auch wichtiger als ritualisierte Gebete. „Wir brauchen positive Geisteszustände. Ich
übe das täglich vier Stunden“ (Dalai Lama S. 26). Nach seiner Auffassung messen wir den materiellen
Werten zu viel Aufmerksamkeit bei. „Sie sind zwar wichtig, aber sie können unseren psychischen Stress,
unsere Furcht, Wut oder Frustration nicht verringern […]. Dafür brauchen wir eine tiefere Ebene des
Denkens. Das ist die Achtsamkeit […]. Achtsamkeit ist unabhängig davon, ob jemand gläubig oder
ungläubig ist. Das spielt keine Rolle, wir sind alle nur Menschen mit den gleichen Gefühlen und einer
ähnlichen Intelligenz. Einige unserer Gefühle sind sehr, sehr zerstörerisch […]. Deshalb ist ein ruhiger Geist
so außerordentlich wichtig. Ich sage stets: Es gibt sieben Milliarden Menschen, und alle haben das gleiche
Potenzial, alle sind mental, emotional und physisch gleich. Deshalb haben alle die Möglichkeit, ihre
Intelligenz angemessen einzusetzen. Es geht immer um die Klarheit des Geistes. Wir sollten analysieren:
Was ist gut für unsere Gesundheit, was ist schädlich? Dann gilt es, unser Wissen zu sortieren: Dies ist
gesund, dies ist schädlich. Ähnliches gilt für unsere Emotionen“ (Dalai Lama S. 33 f.).

Daraus ergeben sich sechs für den Dalai Lama fundamentale Prinzipien: erstens die Gewaltlosigkeit.
Zweitens die Toleranz. Drittens die Einzigartigkeit jeder Religion, die zu respektieren ist, viertens die
Einsicht, dass heute religiös ist, wer an der Bewahrung der Schöpfung mitarbeitet. Fünftens geht es um das
Erlernen der Geduld. Damit habe er selbst, so der Dalai Lama, gelegentlich Probleme. Aber im Umgang mit
chinesischen Politikern könne er sich ja in Geduld üben. „Selbst über sein sechstes Prinzip, Tod und
Wiedergeburt, kann er Witze reißen. Er habe eine Ahnung, was nach dem Tod komme: ›Wenn ich in die
Hölle komme, werde ich auf jeden Fall Urlaub beantragen, denn ich will unbedingt wissen, wie es auf der
Erde weitergeht‹“ (Franz Alt / Dalai Lama S. 49).

Der Buddhismus ist für ihn wie für die meisten Buddhisten zwar auch eine Religion, aber keine Religion im
Sinne eines auf missionarische Ausbreitung angelegten dogmatischen Lehrsystems, sondern eher eine
Religion mit den Elementen der Wissenschaft und der Philosophie, ein praktisches Meditationssystem und
vor allem ein Lebensweg. Deshalb legt schon sein Verständnis der Religion, der er angehört, nahe, dass Ethik
wichtiger ist als Religion.

ham, 25. Mai 2018

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