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Publikation zu den Ausstellungen vom 24. 8. bis 19.10. 2013 im Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg im Breisgau, vom 15.9. bis 31.10. 2013 im Schloss vor Husum, vom 17.1. bis
28. 2.2014 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München und vom 20.9. bis 16.11.2014 in der Städtischen Galerie Reutlingen mit Texten von Peter Lodermeyer, Alexander Johannes Kraut und Rodolphe Gasché
Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg / Revolver Publishing Berlin, 2013, ISBN 978-3-86895-314-5, 146 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, Hardcover gebunden,
Format 26,8 × 21,4 cm, 28 €

Alexander Johannes Kraut
Feldverzeichnis

Bilderbuch zur parallelen Vitrinen-Installation von Alexander Johannes Kraut mit einem Text von Katja-Elisabeth Pfrommer
Morat – Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg / Revolver Publishing Berlin, 2013, ISBN 978-3-86895-333-6, 42 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Broschur mit Rückstichheftung,
Format 31 × 19 cm,10 €

Rudolf Schoofs und Marianne Eigenheer zählen im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert zu den namhaften Zeichnern und Malern. Beide hatten Professuren an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart inne, Schoofs zwischen 1976 und 1996, Eigenheer zwischen 1997 bis 2007 . Für den 2009 in Stuttgart verstorbenen Schoofs war Zeichnen ein Vereinnahmen von Welt. Er vertrat die Auffassung, dass eine künstlerische Form dann Qualität hat, wenn sie nicht mehr verrück- oder ergänzbar ist. Als Lehrer ließ er in seiner niederrheinischen Offenheit aber auch andere Haltungen zu. Davon haben unter anderen Thomas Müller, Peter Riek und Alexander Johannes Kraut profitiert. Letzterer hatte sich weder durch seine Ausbildung als Kfz-Mechaniker noch durch die als Holzbildhauer davon abhalten lassen, sich an der Stuttgarter Akademie ein drittes Mal und annähernd sieben Jahre lang den Interventionen seiner Lehrer Schoofs und Eigenheer auszusetzen und sich an ihnen abzuarbeiten. Seine Stuttgarter Zeit gab ihm die Chance, sich eine offene und zugleich öffnende Form des Zugriffs auf die Welt zu erarbeiten, die die gefundene Bilder im Auge des Betrachters changieren lässt. Genau dieses Changieren unterscheidet ihn heute von seinem Lehrer Schoofs.
Dieses Changieren ist auch der bildimmanenete Grund dafür, dass sich sein in den letzen 20 Jahren entstandenes zeichnerisches Werk und seine Linolschnitte kaum im Ton des „Bescheidwissens“ (Peter Lodermeyer) beschreiben lassen. „Ihre besondere Erscheinungsweise lässt sich eher aus einer Haltung des entdeckenden Staunens heraus umreißen, wie sie jemand einnimmt, der … den sich permanent wandelnden Wolken zusieht. Für die Beschreibung der nicht weniger veränderlichen Bilder Krauts gibt es keinen privilegierten Standpunkt, von dem aus man definieren könnte, was sie an sich sind“ (Peter Lodermeyer). Der jeweils gewählte Standpunkt, der angetroffene Lichteinfall und die herrschende Stimmung bestimmen das jeweils gesehene Bild mit. Lodermeyer kennzeichnet diese vielperspektivische Lesbarkeit als den Möglichkeitsüberschuss der Bilder, Zeichnungen, Fotografien und Linoldrucke von Alexander Johannes Kraut. Kraut generiert diesen Möglichkeitsüberschuss beim Zeichnen mit den Bewegungen seiner Hand und und tritt über sie mit der Welt in Kontakt. Er zeichnet nicht, was er sieht; er sieht was er zeichnet. „Die eigentümlichen Schwierigkeiten und der Widerstand seines Materials – Bleistift, Papier, Druckfarbe und Linoleum – ermöglichen ihm, im schöpferischen Kontakt mit Inhalten und Bildern zu kommen, die seine Einbildungskraft fortwährend in ihm erzeugt. Seine Arbeiten erinnern an Gebilde, wie sie durch formschaffende Prozesse in der Natur erzeugt werden: durch Strömungsvorgänge im Wasser und in der Luft, durch Sedimentierung, Erosion, Wachstum und Zersetzung im Makro-und Mikrokosmos. Alexander Johannes Kraut ist ein nachdenklicher Künstler, der zeichnend, im Tun, sich und seinem Verhältnis zu Welt und Natur nachspürt“ (Richard Vogl).

Seine Ausbildung als Holzbildhauer mag ihm dabei geholfen haben, die für ihn typischen Zeicheninstrumente zu entwickeln, zu denen neben „kantigen, mit dem Messer grob zugeschnittene(n), ungespitzten(n) Bleistiften und einem Häuflein Sand… Zeichenstöcke, d.h. Metall-bzw. Holzstäbe (gehören), denen dünne Kerben und Riffeln eingeschnitten sind. An diesen Stücken entlang zieht der Künstler mit großer Geschwindigkeit seinen Bleistift, so dass ein vibrierendes Feld aus porösen, oszillierenden Linien entsteht. So zeigt die „Zeichnung ‚26. Juli 2012’ …links oben einen vertikalen <> solcher Linien. Dort kann man auch sehr gut die gebogenen Anschlagslinien erkennen, die sich abzeichnen, bevor der Bleistift den Zeichenstock berührt. Der Sand ist ein weiteres wichtiges Utensil für den Zeichenprozess. Seit Jahren hat es sich A. J. Kraut zur Gewohnheit gemacht, die Zeichenfläche mit … extrem feinkörnigen Saharasand… zu bestreuen, bevor er mit kreisenden und schwingenden Bewegungen zu zeichnen beginnt. Der Sand setzt den Bewegungen der Bleistiftmine eine zarte Reibung entgegen und verhindert so, dass sich der Zeichnungsvorgang motorisch vollständig kontrollieren lässt. Ein weiterer wichtiger Grund für die Benützung der Stücke und des Sandes besteht in der Absicht, beim Zeichnen etwas Materielles so weit als möglich an das offene, eigenschaftslose Blatt Papier heranzuführen, dem Zeichenvorgang somit etwas konkret Wirkliches und Widerständiges hinzuzufügen“(Peter Lodermeyer). Farbliche Einsprengsel aus Lapislazuli-Pigmenten, Kuhdung , Pflanzensaft und Ziegelstaub irritieren das Auge zusätzlich und eröffnen weitere Optionen und zusätzliche Sichtweisen.

Seit 2013 entstehen neben den Bleistift- auch Sepiazeichnungen und schon vorher und immer noch Fotografien. „Sepia ist eine sehr merkwürdige Farbe, in viele Richtungen changierend. Ich dachte mir, ob der Künstler ganz allgemein verwandt ist mit dem Tintenfisch, indem er ein Bild ins Wasser malt, das den Betrachter ablenkt, damit er fliehen kann?“ ( Alexander Johannes Kraut). Mit den Fotografien hält er Bilder fest, „die sich im Medium der Zeichnung oder des Linoldrucks nicht vermitteln lassen. Licht und Schatten und ihre irritierenden Spiele sind dabei die wichtigsten Motive“( Peter Lodermeyer). Im Jahr 2002 waren seine im Hospitalhof Stuttgart gezeigten großformatigen Linoldrucke noch dem Linoleum abgerungene, sich aus Graphismen entwickelnde schwarz-weiße landschaftliche Gebilde, die an aus großer Höhe gesehene Kontinente oder an Schneegestöber erinnert haben. Zwischenzeitlich hat die Farbe auch in den Linoldrucken Einzug gehalten. Man kann heute Gärten in ihnen sehen, Ufer, urwüchsige Landschaften oder den Schöpfungsvorgang überhaupt.

Der inmitten der Zeichnungen, Linoldrucke und Fotografien präsentierten und fast noch stärker als sie irritierenden Vitrinen-Installation „Feldverzeichnis“ ist ein eigenes Heft gewidmet. In Vitrine 6 werden neben einem mit Bindfäden verschnürtem roten Skizzenbuch Jakob Böhmes ,Eine Lilie blüht über Berg und Tal’, Carl Seeligs ,Wanderungen mit Robert Walser’, farbgetränkte Papiere, ein Steckpfahl für elektrische Weidezäune und eine auf ein Holzstück collagierte grundierte Schrankfüllung aus einem roten Reflektor, einer Platte Bienenwachs und zwei Farbfotografien gezeigt. In Vitrine 9 eine Notiz aus der Süddeutschen Zeitung mit verschiedenfarbigen Eiern des Singvogels Prinia subvlava, der sich vor Brutparasiten durch die variable Gestaltung seiner Eier schützt; weiter zwei Fotografien einer Katze, die Jagdtrophäen anschaut, eine Federzeichnung, Wolfgang von Buddenbrocks ,Wie orientieren sich Tiere?’ und schließlich eine Tiertrophäe, ein Wurzelholz, ein Hirschhornknopf und der Stachel eines Stachelschweins. Nach Katja-Elisabeth Pfrommer erlaubt diese Installation von 19 Vitrinen dem Betrachter „einen Einblick in die verwandelte Welt des Künstlers… Was auf den ersten Blick als wildes Sammelsurium (von) allerhand Kuriositäten, Fund-wie Erbstücken, Lieblingsbücher(n), Familienfotos und Kunstpostkarten, eigene(n) Zeichnungen, Drucke(n), handgeschriebenen Zettelwerks erscheinen mag, ist bei näherer Betrachtung von einer reizvollen Tiefe, in der sich Künstler, Werk und Betrachter treffen, um, befreit von institutionalisiertem, ideologischem, auf kleine und kleinste Spezialgebiete fixiertem Denken spielerisch, ja kosmopolitisch und weniger professionell (im Sinne einer von Außenstehenden unverständlichen Fachbezogenheit) zu resümieren. Scheinbar Unzusammenhängendes… schafft im Zusammenspiel die Verwandlung einer Welt der Regeln und institutioneller Verfestigungen in eine neue, andere, in die Welt in sich selbst“ (Katja-Elisabeth Pfrommer).

Dass das Kraut nach zahlreichen anderen Preisen 2012 zugesprochene Karl-Rössing-Reisestipendium der Bayrischen Akademie der Schönen Künste mit einer Ausstellungsfolge in vier renommierten Häusern und zwei Publikationen verbunden werden konnte, darf als Glücksfall bezeichnet werden.
ham, 28.9.2014

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