Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Schweizer Pavillon auf der 57. Internationalen Kunstbiennale
– La Biennale di Venezia vom 23. Mai bis 26. November 2017, herausgegeben von Philipp Kaiser mit Texten
von Sabeth Buchmann, Marianne Burki, Philipp Kaiser und Gesprächen zwischen Philipp Kaiser und Carol
Bove und zwischen Philipp Kaiser, Teresa Hubbard und Alexander Birchler
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2017, ISBN 978-3 85881-549-1, 96 Seiten, 29 farbige und 17
schwarzweiße Abbildungen, in Leinen gebunden, Format 27,5 x 18,5 cm, € 19.00 / CHF 19.00
Mit Philipp Kaiser wurde in diesem Jahr erstmals kein Künstler, sondern ein Kurator für die Ausstellung im
Schweizer Pavillon während der Kunstbiennale nominiert. Kaiser hat sich von der lebenslangen Weigerung
des 1901 in Borgonovo im Bergell geborenen Schweizer Bildhauers, Malers und Grafikers Alberto
Giacometti, die Schweiz auf der Kunstbiennale in Venedig zu vertreten, inspirieren lassen, über das
nationalstaatliche Identitätskonzept des Biennale-Pavillons und die transnationale Einstellung des Künstlers
zu reflektieren. „An jedem anderen Ausstellungsort würde dies keine Frage aufwerfen – in Venedig […]
jedoch schon: Wie ist die Beziehung der Kunstschaffenden zu ›ihrem‹ Land? Müsste ein erfolgreicher
Künstler wie Giacometti nicht zwingend einmal die Schweiz repräsentiert haben?“ (Marianne Bürki S. 5).
Die unter dem Ausstellungstitel Women of Venice (vergleiche dazu etwa http://www.3sat.de/page/?source=/
kulturzeit/themen/192653/index.html, abgerufen am 23.8.2017) zusammengefassten Beiträge der für die
Biennale ausgewählten Künstlerinnen und Künstler Carol Bove, Teresa Hubbard und Alexander Birchler
referieren auf Alberto Giacomettis 1956 im französischen Pavillon ausgestellte zehnteilige Figurengruppe
Femmes de Venise und sind zugleich eine Hommage an den nach Meinung des Kurators immer noch
unterschätzten Künstler.
Carol Bove wurde 1971 in Genf geboren und lebt und arbeitet heute in Brooklyn. Sie ist mit Arrangements
aus Fundstücken und gefertigten Objekten bekannt geworden, mit denen sie eine Art emotionale Komplexität
heraufbeschwört, „die sich der singulären und empirischen Deutung entzieht“ (Johanna Burton). Boves
Werk reflektierte die Gesellschaft und Kunst der 1960er- und 70er-Jahre, die Literatur, Architektur, die
Musik und das Design. Die eigens für Venedig erarbeiteten anthropomorph wirkenden blauen Skulpturen
ihrer Skulpturengruppe Les Pléiades treten nach Kaiser direkt in eine Beziehung zum Betrachter. Deshalb
fragt er, ob das eine Anspielung auf die Giacometti-Skulpturen ist oder eine Möglichkeit, eine Verbindung
mit dem Pavillon, mit seinen Säulen und dem riesigen Baum herzustellen (vergleiche dazu Philipp Kaiser S.
38). Bove antwortet, dass ihre Skulpturengruppe für sie die Möglichkeit einer Substitution von Giacomettis
Skulpturen war. „Er dachte über die Figuren nach. In welchem Verhältnis stehen sie zum Raum? Es gibt
etwas sehr Signifikantes in ihrer fehlenden Interaktion. Sie verteidigen ihren eigenen Raum und sie nehmen
einander nicht wahr, doch gleichzeitig … […] blickten alle gerade aus. Doch es gibt einige, wie etwa die
Platzhalterskulpuren, bei denen man einen Hinweis darauf erhält, was er dachte. Bei den Femmes de Venise
wissen wir nicht, wie zufällig es war, dass sie nebeneinander standen und sich gegenseitig
ignorierten“ (Carol Bove S. 37).
Die seit 1990 als Künstlerpaar arbeitenden Teresa Hubbard und Alexander Birchler haben sich für Kaiser
durch ihr Interesse an archäologischen Schichten und Tiefen filmischer Realität für das Biennaleprojekt
empfohlen. Sein Hinweis, bei der Projektierung ihres Beitrags an 1952 und Alberto Giacomettis Absage
einer Ausstellung im von seinem Bruder Bruno gebauten Biennale-Pavillon zu denken, „war genau die
richtige Herausforderung für uns, auf die Randbereiche des Sujets zu blicken, um unseren Ausgangspunkt zu
finden. Wir stießen zunächst durch ein Buch von James Lord, eine Biografie Alberto Giacomettis, auf die
Figur der Flora Mayo […]. Lord bespricht sie als Nebenfigur“ (Alexander Bircher S. 59). „Flora war eine
amerikanische Künstlerin aus Denver, Colorado. Sie studierte in New York Kunst, bevor sie nach Paris ging.
Sie und Alberto waren Studienkollegen, Freunde und ein Liebespaar während ihrer Studienzeit […]. In dem
Buch gibt es eine Fotografie von Flora und Alberto […]. Auf dem Bild sitzen sie zu beiden Seiten einer
Tonbüste, die sie von Alberto modelliert hatte. In dem Moment […] ist Flora Mayo die Künstlerin und
Alberto Giacometti das Modell“ (Terese Hubbard a. a. O.). Das Foto wurde zum Ausgangspunkt einer
filmisch-fiktionalen Rekonstruktion eines Gesprächs zwischen Flora Mayo und ihrem Sohn David Mayo.
„Wir stellen uns vor, wie diese beiden Seiten theoretisch, konzeptionell, emotional und narrativ miteinander
kommunizieren. David spricht über seine Mutter, ihr Leben und darüber, wie er etwas über Alberto
Giacometti in Erfahrung brachte“ (Alexander Birchler S.60). „Das Bild von Flora und Alberto und die Büste,
die sie von ihm gemacht haben, bildet die Brücke zu den anderen Komponenten, die wir im Pavillon zeigen,
in dem Nachbarraum, der ursprünglich als grafisches Kabinett geplant war. Dort präsentieren wir eine
Skulptur und eine Fotografie […]. Wir betrachten diese Arbeit genauso wie die Filminstallation als Re-
Imagination, als Rekonstruktion“ (Teresa Hubbard S. 60).
„Keines von Floras Werken aus Paris, auch nicht die Büste, die sie von Alberto schuf, hat sich erhalten. Sie
zerstörte ihr gesamtes Werk 1933, als sie Paris verließ. Die Fotografie wirft Fragen über die Abwesenheit auf
– Floras Abwesenheit, die Abwesenheit ihrer Arbeiten. Wir haben uns daran gemacht, die Büste, das Porträt
von Giacometti neu zu erschaffen, wieder zu erzeugen. Eine Reproduktion der historischen Fotografie von
Flora und Alberto wird ebenfalls Teil des Stücks“ (Alexander Birchler a. a. O.).
Sabeth Buchmann geht in ihrem Essay unter anderem der Frage nach, was Giacometti zu der Auffassung
gebracht hat, dass Europa nur dann eine wirkliche Zukunft hat, wenn es Teil eines gesamteuropäischen
kommunistischen Regimes ist und die europäischen Staaten ebenfalls zu sozialistischen Republiken werden:
„Mit den alten Nationen Europas, mit ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit, ihrer Hegemonie ist es für alle
Zeiten vorbei, vorbei mit den imperialistischen und kolonialistischen Staaten“ (Alberto Giacometti,
›Eurasien‹, zitiert nach Sabeth Buchmann S. 13).
ham, 23. August 2017