Herausgegeben von Lindy Scheffknecht und Ernst Strouhal. Mit Beiträgen von Ernst Strouhal, Verena Kaspar-Eisert, Liddy Scheffknecht, Helga Kromp-Kolb und Philipp Blom zur gleichnamigen Ausstellung im Kunst Haus Wien vom 12. März bis 28. August 2022

Edition Augenweide – Buchreihe der Universität für angewandte Künste Wien, herausgegeben von Gerd Bast

Walter de Gruyter, Berlin / Boston, Kunst Haus Wien, 2022, ISBN 978-3-11-078520-3, 232 Seiten, 65 s/w und 125 farbige Abbildungen, Broschur mit Schutzumschlag, Format 30 x 24 cm, 48,00 €

Der Wind hat die Fantasie schon immer bewegt. Geschichten wie Heinrich Hoffmanns ›Geschichte vom fliegenden Robert‹ (vergleiche dazu https://de.wikisource.org/wiki/Der_Struwwelpeter/Die_Geschichte_vom_fliegenden_Robert) und Märchen wie ›Hänsel und Gretel‹ (vergleiche dazu https://kurzemaerchen.de/maerchen/fuer-kinder/haensel-und-gretel/) verstärken sie noch und geben ihr eine Richtung. Als Hänsel und Gretel an das Haus der Hexe kommen, stellten sie fest, dass es aus Brot gebaut und mit Kuchen gedeckt ist. Die Fenster sind aus hellem Zucker. „›Da wollen wir uns dran machen‹, sprach Hänsel, griff in die Höhe und brach etwas vom Dach ab. Gretel stellte sich an die Scheiben und knusperte daran. Da rief eine dünne Stimme aus der Stube heraus: ›Knusper, knusper, Knäusschen, wer knuspert an meinem Häuschen?‹ Die Kinder antworteten: ›Der Wind, der Wind, das himmlische Kind‹” (a. a. O.).

Der österreichische Autor, Kulturgeschichtsforscher und Professor an der Universität für angewandte Künste Wien Ernst Strouhal verbindet seine religions-, kunst-, literatur- und kulturhistorischen Einführung ›Geschichten vom Wind‹ nicht mit ›Hänsel und Gretel‹, sondern mit dem fliegenden Robert. Er erinnert an Kosmogonien wie die der prähellenischen Pelasger, nach der der Wind am Anfang aller Dinge steht und die Urgöttin Eurynome, eine Ahnin der griechischen Rhea, einsam im Nichts tanzt, „bis der Nordwind Ophion sie umschlingt und befruchtet; danach legt sie nach Verwandlung in eine Taube das Weltei, das Ophion ausbrütet. Aus dem Ei schlüpfen alle Dinge und lebendigen Wesen, der Wind aber, der selbstbewusst beansprucht, der eigentliche Weltschöpfer zu sein, wird von Eurynome in die dunklen Höhlen unter der Erde verbannt. Der Mythos setzt sich bei Appolodoros und bei Ovid in den Erzählungen über den stets lüsternen und gewalttätigen Nordwind Boreas fort“ (Ernst Strouhal S. 17). Weitere Kapitel widmen sich dem Haschen nach Wind beim Prediger Salomonis, magischen Praktiken zur Abwehr des Windes und dem Wind in Romanen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts wie Joseph Conrads ›Taifun‹, Herman Melvills ›Moby Dick‹ und Katsushika Hokusai ›Ejiri in Suruga Province ⟨Sunshu Ejiri⟩, ca. 1830 -1832 (vergleiche dazu https://ukiyo-e.org/image/scholten/10-2180).

Nach Verena Kaspert-Eifert und Liddy Scheffknecht setzen sich die in derAusstellung und dem Katalog präsentierten Künstlerinnen und Künstler „mit dem Lebensatem, mit Luftverschmutzung und Klimawandel, mit dem Fliegen und mit Geoengineering auseinander, sie nützen Luft als (Antriebs-)Kraft, reflektieren wissenschaftliche, experimentelle und alchimistische Zugänge zur Luft – von der leichten Brise bis zu Stürmen und Hurrikans. Die große Herausforderung bei der künstlerischen Bearbeitung von Luft stellt deren Unsichtbarkeit dar. Wie schaut Luft aus? Wie gelingt die Darstellung von etwas, das sich der visuellen Wahrnehmung entzieht? Wie zeichnet man Wind, macht das Unsichtbare sichtbar? Die verschiedenen Strategien und Ausdrucksformen zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren und die skulpturale Arbeit mit Luft als Medium interessieren … dabei genauso wie die ambivalente Metaphorik des Elements“ (Verena Kaspert-Eifert und Liddy Scheffknecht S. 61 f.). 

So schafft Sjoerd Knibbeler in seiner Serie  ›Current Studies‹ (2013 – 2016) in laborähnlichen Situationen und Rauchexperimenten fotografische Bilder, die sich dem Unsichtbaren annähern (vergleiche dazu https://www.mkdw.de/de/ausstellung/sjoerd-knibbeler-elements). Susan Walsh bringt fein zerriebene Holzkohle in vertikalen Strichen lose auf Papier auf, setzt die Blätter dem Wind aus und der malt sie weiter (vergleiche dazu ihre ›Wind Drawings‹, 2018, unter https://www.susanwalshstudio.com/winddrawings). Marina Abramović / Ulay sind mit ihrer Arbeit ›Breathing in – Breathing out‹ von 1977 vertreten (vergleiche dazu https://zkm.de/de/werk/breathing-in-breathing-out), das Dusts Institut mit ›Dusts-free-Chambers‹, 2021 (https://basiskultur.at/bk-events/dusts_chambers_mq/), Julius von Bismarck mit ›Irma to Come in Earnest‹, 2017 (https://juliusvonbismarck.com/bank/index.php/projects/irma-to-come-in-earnest/) und Bigert & Bergström mit ›The Weather War, 2012 (https://bigertbergstrom.com/works/the-weather-war).

Im Gespräch mit Helga Kromp-Kolb unterstreicht Philipp Blom, dass die Frage des Klimawandels eine des sozialen Klimawandels ist. „Das Klima in der Gesellschaft ändert sich: Man kann über das Thema reden. Die Diskussion zeigt, dass wir nicht durch kluge Argumente, sondern durch Erfahrungen lernen, Erfahrungen, die Erklärungen so weit aufbrechen, dass neue Argumente zugelassen werden … Die längste Zeit war das Wissen über Klima und Umweltveränderungen Sache weniger Spinner, Alternativer, Ökofreaks … Das ändert sich jetzt … Das hat noch längst nichts mit der politischen Umsetzung des Wissens zu tun, aber die Themen werden ernsthaft und breit diskutiert … [und] man ist sich inzwischen bewusst geworden, dass man dem Thema Aufmerksamkeit schenken muss“ (Philipp Blom S. 193).

ham, 16. Juni 2022

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