Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 19.10.2013 – 06.01.2014 in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen, hrsg. vom Kultur- und Sportamt Bietigheim-Bissingen – Städtische Galerie mit einem Vorwort und einem Text von Isabell Schenk – Weininger
Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, 2013, ISBN 978-3-927877-81-8, 104 S., zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 24,5 x 17,5 cm, € 18,–
Nach Prediger 3,1 ff hat „Ein jegliches … seine Zeit, und alles Vorhaben hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit… lieben hat seine Zeit …“ Demnach hätte auch Gläser malen seine Zeit; seinen Freunden die Nachricht geben, dass man noch lebt, hätte seine Zeit; und in einem Reisetagebuch festhalten, was man in Kenia erlebt hat und visuelle Tagebücher in seine persönlichen Webseiten stellen hätte seine Zeit… Anders als die kultur- und kunsthistorisch angelegte Ausstellung zur Milleniumswende ‚Zeit/Los‘ im Jahr 1999 in der Kunsthalle Krems versucht das Bietigheimer Ausstellungsprojekt keinen Gesamtüberblick über das Phänomen Zeit in der abendländischen Geschichte. Sie stellt auch nicht das in Tagebüchern üblicherweise dominierende Autobiografische wie die Ausstellung ‚Ego Documents‘ im Kunstmuseum Bern im Jahr 2008/2009 in den Vordergrund. Ihr geht es vielmehr um die tägliche Strategie und die Kulturpraxis der Taktung, mit der zeitgenössische Künstler die Zeit ins Werk setzen. gezeigt werden unter anderen Peter Dreierhaus Langzeitprojekt ‚Tag um Tag guter Tag´. Dreher setzt seine 1974 begonnene Serie bis heute fort und versucht, jeden Tag ein schlichtes Glas zu malen. „Damals dachte ich, ich mache fünf, sechs Bilder in dieser Art, ohne das Motiv zu wechseln, damit man versteht, was gemeint ist. Zuerst waren es also sechs, und dann hatte ich Lust, noch eines zu malen und noch eines – und heute sind es 5000. Ich hatte mir das nicht vorgenommen“ (Peter Dreher, 2012). „Wie in einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung wird das Glas in immer gleichem Abstand auf einer hellen Fläche und vor einer weißen Wand in seinem Atelier platziert und sorgfältig abgemalt… Dabei strebt …Dreher keinen virtuosen Illusionismus an, auch eine Stilentwicklung ist über die Jahre und mittlerweile Jahrzehnte nicht wirklich auszumachen. Technik und Format bleiben ebenso die gleichen wie der dargestellte Gegenstand. Grundlegende Unterschiede bestehen lediglich darin, dass der Künstler seit 1982 auf Leinwand anstelle von Malpappe bzw. Pressspan malt und die Werke seither ungerahmt präsentiert…“ (Isabell Schenk-Weininger). Die 1953 in Ostberlin geborene Cornelia Schleime nützt dagegen ihre Reisen unter anderem nach Hawaii, Gomera und Kenia für die Erstellung von Reisetagebüchern. „Das, was sich in meinem Gepäck befindet, wenn ich einen mir fremden Ort aufsuche, ist ein leeres Buch. Es wird für mich zum Bildtagebuch – es fungiert als eine Art Zettelkasten von Bild und Sprache. Mich interessiert u.a. wie sich ein Ort gegenüber sich selbst und seinen Besuchern darstellt, welche Nähe und Ferne ich selbst gegenüber diesen Orten einnehme“ (Cornelia Schleime, 2010). So entstehen Tagebücher und Leparellos, „in denen sie meist handgeschriebene Texte mit Fotografien kombiniert, die sie wiederum übermalt“ (Isabell Schenk-Weininger). Florencia Serrot stellt „persönliche Webseiten und Blogs von elf Fotografinnen zu einem internationalen Projekt unter dem Motto ‚Visual Diaries/Girls‘ zusammen… Die am Projekt …Beteiligten unterhalten recht unterschiedliche Webseiten, der Schwerpunkt liegt jedoch bei allen eindeutig auf den Fotografien: Dabei überwiegen Porträts von
Freundinnen und Freunden, intime Momente und private Innenräume, Stadt- und Landschaftsimpressionen. Darunter gibt es zwar unprätentiöse Schnappschüsse, doch viele Aufnahmen sind höchst ästhetisch und stilisieren ihr Motiv“ (Isabell Schenk-Weininger). Wolf Nkole Helzle hat mit seinem globalen Netzkunstprojekt ‚I am we__ interactive image‘ eine globale Plattform für visuelle Tagebücher geschaffen, an der sich rund 350 User aus mehr als 50 Ländern beteiligen, „die nicht nur ihre Bildertagebücher ins Netz stellen, sondern sich auch rege gegenseitig kommentieren… Ein >>Nebenprodukt<< , welches die Ästhetik des Gesamtprojekts maßgeblich prägt, ist das Mosaikbild auf der Startseite, dessen Motiv das Profilbild eines Teilnehmers ist. Dieses wird zusammengesetzt und berechnet aus den visuellen Tagebucheinträgen aller User, verändert sich also beständig. Die >>Entwicklung eines neuen Bewusstseins im Umgang mit sich und den anderen<< ist das ambitionierte Ziel von Wolf Nkole Helzle…“ (Isabell Schenk-Weininger). Hocheindrücklich schließlich ist Susanna Herderichs 2011 fertiggestellter ‚Chrono Shredder‘, ein Automat mit den Funktionen von Kalender und Uhr, der fortlaufend und in Echtzeit Kalenderblätter shreddert. „Während die Daten der letzten vergangenen Tage noch entzifferbar sind, werden die Daten der schon länger dem Shredder zum Opfer gefallenen Blätter völlig unkenntlich, vermischen sich mit den anderen Überresten auf dem Haufen… Chrono-Shredder führt dem Betrachter die Fragilität jedes Momentes vor Augen und stimuliert so eine sehr persönliche Reflektion über die eigene Lebenszeit“ (Isabell Schenk-Weininger). Hertrich bestätigt damit auf ihre Weise die Rätselhaftigkeit der Zeit und Reflexionen des Kirchenvaters Augustin: „Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären soll, weiß ich es nicht. Mit Zuversicht aber kann ich sagen, dass ich weiß, dass, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe…“ (Augustinus, Confessiones XI, 14).
ham, 11.11.2013
Download: Von Tagebuch bis weblog, Tägliche Strategien in der Gegenwartskunst
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