Essay- und Katalogband zur gleichnamigen Ausstellung im Diözesanmuseum Freising vom 5.3. bis 29.5. 2023, mit insgesamt 670 Seiten und 277 Abbildungen in Farbe

Herausgegeben von Marc-Aeilko Aris, Christoph Kürzeder, Steffen Mensch, Carmen Roll, mit Beiträgen von 

M.-A. Aris, F. X. Bischof, C. Breitsameter, J. Deckers, R. Götz, Ch. Hecht, D. Henderson, M. Hildebrandt, M. KLeimgruber, H. Lutterbach, H. Melzer, U. Pfisterer, W. Pulz, T. Raff, A. Riether, A. Tacke, B. Vinken, H. Wolf, I. Zwinglerurzel-Runtscheiner, U. 

Essayband: Hirmer Verlag, München, Auflage 2023, ISBN 978-3-7774-3608-1, 216 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 29,5 x 24,8 cm, € 39,90 (D) / € 41,10 (A).

Katalogband: Hirmer Verlag, München, Auflage 2023, ISBN 978-3-7774-3604-3, 474 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 39,5 x 24,8 cm, € 49,90 (D) / € 51,30 (A).

Beim Kauf beider Bände als Paket beim Hirmer Verlag, München (ISBN: 978-3-7774-4233-4) € 80,00

Dass die bereits 2018 vom Erzbischof von München und Freising Reinhard Kardinal Marx gemeinsam mit dem damaligen Generalvikar Peter Beer angeregte kunst- und kulturgeschichtliche Ausstellung und der sie begleitende Katalog- und Essayband das Thema Sexualität neutral und wissenschaftlich objektivierend aufarbeiten wie die beiden 1948 und 1953 erschienen Bände des Kinsey-Reports ›Sexual Behavior in the Human Male‹ und ›Sexual Behavior in the Human Female‹ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kinsey-Report), kann man schwerlich behaupten. Dagegen spricht der unmittelbare Anlass, die in der Katholischen Kirche viel diskutierten Missbrauchsfällen, aber auch der „Sündenfall des Augustinus“ (Christof Breitsameter S.19), der den Mythos von Adam und Eva in Richtung Erbsünde gedreht hat, obwohl es eigentlich um die Differenz von Gut und Schlecht geht:

„Es ist innerhalb der Theologiegeschichte ein schier unausrottbares Missverständnis, der Mythos von Adam und Eva beschreibe den Sündenfall des Menschen, weil die beiden von der verbotenen Frucht der geschlechtlichen Lust kosten. Dabei ist im biblischen Text weder von Sünde noch von Lust die Rede. In Wirklichkeit geht es um die Idee der Moral, um die Unterscheidung von Gut und Schlecht, genauer um einen guten Gott, dem an einem guten Menschen gelegen ist … Durch die Einführung der Differenz von Gut und Schlecht wird Gott selbst zu einer moralisch qualifizierbaren und immer auch qualifizierten Größe. Wo er sich für die menschliche Moral engagiert, wird der Code der Moral auf ihn selbst angewandt: Er muss ein guter und darf kein schlechter bzw. böser Gott sein. Dadurch muss die Einheit Gottes selbst als Differenz gedacht werden: als Gutheit des Handelns, welche die Möglichkeit der Unterscheidung von Gut und Schlecht bzw. Böse schafft, ohne damit allerdings Schlechtes zu tun oder Böses zu wollen. Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, zieht eine Grenze und eröffnet damit die Möglichkeit, diese Grenze zu überschreiten und das Verbotene zu tun … Der Mensch, der vom Baum der Erkenntnis isst und zum Bewusstsein seiner selbst als eines Wesens, das begehrt, gelangt …, wird durch eben diesen Akt zum kulturellen Wesen“ (Christof Breitsameter S.18). Er weiß jetzt, dass er für seine Nahrung, seine Kleidung und seine Nachkommen sorgen muss und dass er sterben wird. 

In der Spekulation der frühen Kirche über die Frage, ob sich das erste Menschenpaar im Paradies auf geschlechtliche Weise vermehrt hat oder nicht, entscheidet sich Augustin für die sexuelle Vermehrung, „womit in seinen Augen die geschlechtlichen Kräfte des Menschen den Schöpfer selbst als Rückhalt haben und deshalb nicht grundsätzlich verderbt sein können. Dennoch stellt sich für ihn die Natur der geschlechtlichen Lust als versehrt dar, und zwar durch den Sündenfall. Damit begegnet er dem Einwand, Gott selbst habe doch das Begehren des Menschen geschaffen, wie könne die Lust dann so stark abgewertet werden. Den Widerspruch in der Aussage, die geschlechtliche Lust, die den Menschen zur Sünde verführen könne, sei von Gott selbst geschaffen, beseitigt Augustin durch die Theorie von der doppelten Einsetzung der Ehe. Danach ist zu unterscheiden zwischen der Ehe im Paradies und der Ehe nach dem Sündenfall. Der Zweck der Paradiesehe war die Erzeugung von Nachkommenschaft. Dies geschah, so vermutet Augustin, ohne geschlechtliche Lust (oder vielleicht auch mit einer durch den Willen vollkommen beherrschten Lust). Denn die geschlechtlichen Kräfte und Regungen waren im Paradies ganz dem Willen unterworfen … Erst mit dem Sündenfall ist die Lust (libido) als eine Kraft, die mit dem Willen (voluntas) im Streit liegt, in die Welt gekommen, sie stellt einen Fehler der an sich guten Natur (vitium substantiae bonae) dar. Das Begehren (concupiscentia) ist eine Strafe für die gefallene Menschheit. Ebenso wie der Mensch Gott gegenüber ungehorsam war, kündigt der Körper dem Geist den Gehorsam auf. Die conpupiscentia, die den Menschen wie eine Passion zu überfallen und zu beherrschen pflegt, bezeichnet Augustinus als Übel (malum) oder auch als Irrtum (peccatum). Die Begriffe vitium, malum und peccatum sind freilich eher im Sinn eines ontologischen Mangels denn im Sinn eines sittlichen Vergehens zu verstehen. Erst allmählich wird sich diese Einsicht so umkehren, dass … ein sittlicher Fehler beklagt wird“ (Christof Breitsameter S. 19 f.).

Nun soll der Mensch nach Augustin seine Nachkommen so zeugen, dass er von dem Übel der Konkupiszenz nicht überwältigt wird. „Der eheliche Akt, in dem der Mensch die Lust beherrscht, anstatt sich von ihr beherrschen zu lassen, wird als erlaubt angesehen, wenn er in der Absicht geschieht, Nachkommen zu zeugen … Erst wo der Mensch die Lust … auch will, begeht er einen sittlichen Fehler … Das Abweichen von der rechten Absicht stellt allerdings nur eine lässliche Sünde dar … Alle Akte hingegen, die außerhalb der Ehe bzw. gegen die eheliche Bindung vollzogen werden, stellen schwere Sünden dar … Erstaunlich … ist, dass Augustinus (und nicht nur er) die Lust, nicht die Geschlechtlichkeit des Menschen als etwas begreift, was dem ursprünglichen Bild des Schöpfers widerspricht … Blickt man allerdings auf die biblische Tradition, ist die Abwertung der Lust durch die christlichen Theologen eigentlich unbegreiflich. Sie übernehmen ja nicht nur die pagane Haltung, nach der sich der Mensch der Lust nicht ergeben soll …, vielmehr erkennen sie in der Lust selbst einen Makel … Die … denkbare Vorstellung, im Paradies habe es zwar geschlechtliche Lust gegeben, allerdings nur in einer durch die Vernunft vollkommen beherrschten Form, lehnt erkennbar an die Aussagen paganer Philosophie an. Auf diese Weise arbeitet Augustinus … ein Motiv aus, das sich weder in den biblischen Schriften noch in der paganen Philosophie findet, nämlich das Motiv der erbsündlichen Verkehrtheit der menschlichen Natur … In seiner Auslegung des Genesistextes … sieht er … in Adam die geistige Seite des menschlichen Wesens und in Eva die Sinnlichkeit verkörpert. Im Paradies fand das Böse dadurch Zugang, dass die Begierde jenen Teil der Seele durchdrang, welcher der Vernunft untertan hätte sein müssen wie die Gattin dem Gatten. Durch die Ehe kann die ursprüngliche Rangordnung, die Herrschaft des Geistes über das Fleisch, wieder aufgerichtet werden – vorausgesetzt allerdings, dass der Mann nicht die Schwäche Adams zeigt, sondern der Herr seiner Frau bleibt“ (Christof Breitsameter S. 20 f.).

Ob sich in der Abwertung des Fleisches und der Sinnlichkeit nicht doch die von dem Gründer des Manichäismus Mani (2016 – 276/277; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Manichäismus) gelehrte Eigenständigkeit des Bösen, mit der Augustin in seiner Zeit als „Hörer“ bei den Manichäern bekannt geworden war (vergleiche dazu Sara Antonietta Luisa Arnoldi, Manichäismus und Bibelexegese bei Augustinus: De Genesi contra Manichaeos, München 2011) und / oder orphisch-gnostische Elemente der Leibverachtung spiegeln (vergleiche dazu Richard Schwarz, Die leib-seelische Existenz bei Aurelius Augustinus. In: Philosophisches Jahrbuch 63, S. 343 f.), muss an dieser Stelle offen bleiben. Weitgehend unbestritten ist dagegen, dass mit Augustins Erbsündenlehre eine Leib- und Lustverachtung in die Welt kam, die er selber nicht mehr aus der Welt schaffen konnte: Sie hat die christliche Wertung von Sexualität bis weit in die Neuzeit hinein geprägt. Deshalb fragen die Herausgeber des Begleitbandes ›Verdammte Lust!‹ zurecht, ob Augustinus an allem schuld ist (vergleiche dazu a. a. O. S. 15). In den weiteren Beiträgen des Bandes diskutiert die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken die These, dass Keuschheit vielleicht doch ein Mehr und eine Liebessteigerung sein könnte, der Kirchenhistoriker Hubert Wolf die mit der Verdammung der Körperlichkeit verquickte Vergeistigung des Priesterbildes und die Pastoraltheologin Ute Leimgruber die Wechselbeziehung zwischen kulturellen Wissensbeständen und Vorstellungen von Begehren und Aufbegehren:

„Frauenkörper und Sexualvorstellungen sind nie einfach nur privat. Sie sind Teil der verborgenen Matrix aus Normen und Idealen, die religiös und kulturell verankert ist und immer in einem breiten Spektrum von subtil bis gewalttätig durchgesetzt wird. Frauen und Sex stehen in einem Verhältnis, das im christlich geprägten Kulturkreis jahrhundertelang von Männern definiert und reguliert wurde. Es ist ein Verhältnis voller Verbote, Normen, voller Gewalt und Fremdbestimmung. Doch dagegen und gegen die patriarchalen Zuschreibungen und Ordnungen, gegen die Kontrolle ihrer Lust, ihres Begehrens und ihrer Körper haben sich Frauen stets auch gewehrt. Das Eintreten für körperliche, reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung gehört zu den zentralen Punkten feministischer Befreiungskämpfe. Dass es viele Kunstschaffende sind, die die stummen Normen und verborgene Muster offengelegt haben, sei ausdrücklich erwähnt. Sie brechen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die moralischen Vorgaben religiös begründeter Geschlechterrollen auf und antworten kreativ, provokativ und lustvoll auf die verborgenen Skripte. Dass Frauen ihr eigenes Begehren, ihre eigene Sexualität aktiv und positiv rezipieren, ist Teil ihres Kampfes um Autonomie. ›Körper begehren auf. Wogegen? Gegen Traditionen, die sie auf Muster festlegen, zu Beispielen erniedrigen. […] Begehren, könnte doch sein, ist auch ein Aufbegehren.‹“ (Ute Leimgruber S. 203).

Die im Katalog zur Ausstellung zusammengetragenen Gemälde, Kupferstiche und Dokumente (vergleiche dazu die Abbildungen in https://www.hirmerverlag.de/de/titel-1-1/verdammte_lust-2089/ und  https://fourtyforever.com/die-verdammte-lust-dioezesanmuseum-freising/) setzen mit Albrecht Dürers Kupferstich ›Adam und Eva (Der Sündenfall)‹ von 1504 ein (vergleiche dazu https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Albrecht-Dürer/Adam-und-Eva/3828E0274BCF1ADC14F4E3B4A5F51B04/) und lassen weder Hans Memlings ›Allegorie der Keuschheit‹ von 1479 /80 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Keuschheit) noch Artemisia Gentileschis ›Susanna und die beiden Alten‹ von 1610 außen vor (vergleiche dazu https://www.singulart.com/de/blog/2020/01/08/meisterwerke-susanna-und-die-aeltesten-von-artemisia-gentileschi/). Diese und Werke von Leonardo da Vinci, Tintoretto, Cranach, Guido Reni und anderen mehr machen deutlich, wie Künstlerinnen und Künstler die Grenzen christlicher Ikonografie ausgelotet haben, „um einerseits Sinnlichkeit und Erotik lustvoll-positiv, bisweilen heiter und spielerisch darzustellen, und andererseits, um Doppelmoral zu entlarven und die Tragik des menschlichen Scheiterns ins Bild zu setzen. Dieser Blick auf den Menschen in verschiedenen markanten Körpererfahrungen, ob in biblischen Erzählungen, Heiligenlegenden oder antiker Mythologie, hat den Betrachtenden immer die Möglichkeit zur Identifikation und subtilen Selbstreflexion als sexuelle Wesen gegeben, was im öffentlichen Diskurs nicht denkbar war … Dabei kommen biografische Aspekte von Künstlerinnen und Künstlern, Dargestellten sowie Auftraggeberinnen und Auftraggebern zur Sprache. Sie zeigen, inwieweit vordergründig nach kirchlicher Lehre gestaltete Darstellungen von persönlichen Erfahrungen und der eigenen sexuellen Identität geprägt sind … 

Die Auswahl der Objekte konzentriert sich bis auf wenige Ausnahmen bewusst auf die Zeit vom ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die im Bild geführten Körperdiskurse sind in diesem Zeitraum klar von religiösen Ideen dominiert, jedoch in vielen Kunstwerken nur vordergründig dogmatisch repräsentiert und bieten damit einen Interpretationsfreiraum. Damit sind sie ein sehr individueller Ausdruck emotionaler, intellektueller und künstlerischer Auseinandersetzung mit den großen Themen menschlicher Existenz“ (Marc-Aeilko Aris, Christoph Kürzeder, Steffen Mensch, Carmen Roll S. 9).

ham, 18. April 2023

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