Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 18.03.–23.07-2023 im Museum Ludwig, Köln.
Hrsg. von Stephan Diederich, mit Beiträgen von Patricia Allmer, Stephan Diederich, Yilmaz Dziewior, Helena Kuhlmann, Chus Martínez und Elizabeth A. Povinelli
Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König / Museum Ludwig, Köln 2023,
ISBN 978-3-7533-0405-2, 400 Seiten, 260 meist farbige und teilweise ganzseitige Abbildungen, Chronologie und Lebenslauf, gebunden, Format 27 x 22 cm, € 38,00
Derzeit werden Frauen in Literatur, Kunst und Kultur vermehrt berücksichtigt und wiederentdeckt. So hat Ralph Rugoff, der Chefkurator der 58. Biennale von Venedig, 2019 mit 42 Künstlerinnen von 79 Berufenen mehr Frauen eingeladen als Männer. Die lange nur in Fachkreisen bekannten Hilma af Klint wurde 69 Jahre nach ihrem Tod mit Ausstellungen im Moderna Museet Stockholm, im Hamburger Bahnhof, im Museo Picasso, Málaga und im Louisiana Museum of Modern Art Hilma als Pionierin der Abstraktion gewürdigt; 2023 ist sie in der Tate Modern in London und im Kunstmuseum Den Haag zusammen mit Mondrian und 2024 im K20 in Düsseldorf zusammen mit Wassily Kandinsky zu sehen. Die 1915 in Havanna geborene kubanisch-amerikanische Malerin Carmen Herrera konnte ihre Retrospektive im New Yorker Whitney Museum im Jahr 2016 noch mitfeiern. Sie wurde 106 Jahre alt.
Ursula Schultze-Bluhm (1921 –1999 vergleiche dazu https://www.ursula-schultze-bluhm.org) hat 1950 mit dem Malen und Zeichnen angefangen und wurde ab 1959 von der Galerie Daniel Cordier, Paris und Frankfurt am Main vertreten. Sie hatte Erfolg, konnte 1967 in der Galerie Dieter Brusberg, Hannover, 1987 im Museum Folkwang Essen, 1977 auf der documenta 6 und 1979 auf der Sydney Biennale ausstellen und hat 1992/1993 eine Retrospektive und Tournee im Von der Heydt-Museum, Wuppertal, im kölnischen Stadtmuseum und in der Kunsthalle Bremen erhalten. Aber nach ihrem Tod ist es still um sie geworden. Deshalb kommt die jetzt vom Museum Ludwig ausgerichtete und von dem fulminanten Katalog ›Ursula‹ begleitete Ausstellung einer Wiederentdeckung gleich (vergleiche dazu https://www.museum-ludwig.de/de/ausstellungen/ursula-das-bin-ich-na-und.html).
Für Yilmaz Dziewior zählt Ursula zu den bedeutenden deutschen Künstlerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dass sie sich einer eindeutigen Zuordnung entzieht, zeigt sich unter anderem auch an der Vielzahl auffallend poetischer Texte zu ihrem Werk. Ursula „scheint Phantasie und Feder geradezu beflügelt zu haben, mancher Kritiker hat sich angesichts ihrer Arbeiten tiefverborgene Gedanken von der Seele geschrieben. Die Analyse ihrer Bilder wurde zur Analyse der Träume der Beschreibenden, ein fast unheimlicher Vorgang […]. Die psychogene Ladung ihrer Bilder aktiviert Verschüttetes, Vergessenes, Geträumtes, Gewünschte, Gefürchtetes“ (Evelyn Weiss nach Stephan Diederich S. 11). Weiss hält die drastische Mutmaßung von Heinz Off ebenso wie Wieland Schmid für angemessen, dass Ursula im Mittelalter nicht hätte malen dürfen, weil sie sonst verbrannt worden wäre (vergleiche dazu Stephan Diederich ebd.).
Die Texte des Katalogs ›Ursula‹ liefern Denkanstöße und erschließen neue Zugänge zu ihrem Werk. „Grundlegend verortet Patricia Allmer Ursulas Werke in der Zusammenschau mit relevanten Wahrnehmungsperspektiven ihrer Zeit und deren künstlerischer Umsetzung innerhalb der Moderne. Das in Ursulas Œuvre zentrale Phänomen der Metamorphose als Prinzip ihrer Weltsicht beleuchtet Helena Kuhlmann im Spektrum historischer wie zeitgenössischer Theorien. Ursulas
lebenslanges Bestreben, sich Realität neu vorzustellen, wertschätzt Chus Martínez als beständigen Ort für die kollektiven Traum-Bilder einer ihr verbundenen Gemeinschaft. Elizabeth A. Povinelli
verknüpft die Betrachtung von Ursulas Kunst mit einer in aktuellen Auseinandersetzungen präsenten kritischen Hinterfragung mythologischer Traditionen des Westens und ihrer Zurschaustellung.
Parallel zur Ausstellung strukturiert, verweisen die kurzen Texte zu den Themenfeldern im Werkteil auf einzelne Charakteristika in Ursulas Bildkosmos, von denen viele bereits in den frühen Arbeiten
der 1950er Jahre angelegt sind“ (Stephan Diedederich S. 11 f.). Diederichs Einführung lässt
maßgeblich die Künstlerin selbst wie auch einige kenntnisreiche Zeitzeug*innen zu Wort kommen, wirft einen Blick auf ihr Werk im Spannungsfeld zwischen Persona, dem sich in ihren Arbeiten
spiegelnden Selbstbild sowie dem Verhältnis der Künstlerin zu der sie umgebenden Welt.
Ursulas in den Katalog aufgenommene Malereien, Zeichnungen und Skulpturen setzen mit Arbeiten aus den 1950er Jahren zu ihrer Biografie ein (vergleiche dazu die Arbeit ›Ursula, Karneval in Frankfurt‹, 1951 unter https://www.siebers-auktionen.de/auktionen/kuenstlerverzeichnis/s/schultze-bluhm-ursula). Das ›Gedankenwelten‹ überschriebene zweite Kapitel der Bilder wird so zusammengefasst: „Ursulas gesamtes Werk speist sich aus ihrer immensen kreativen Kraft und ist von dieser sichtbar durchdrungen.Ihre blühende Fantasie thematisiert sie in einigen Werken als konkretes materielles Phänomen, so wenn Erinnerungen, Träume und Gedanken ihr geradezu aus dem Kopf zu wachsen scheinen.
Die Malerei eröffnet ihr die Möglichkeit, geistig-seelische Vorgänge zu verbildlichen: ›Das Bild sitzt im Gehäuse meines Kopfes und wartet in die Aussenwelt, auf die Leinwand entlassen zu werden‹. Ihren Kopf beschreibt die Künstlerin als Sitz einer komplexen Innenwelt: ›Mein ,Kopf‘, mein eigenes Ich ist bevölkert mit Kreaturen aus hiesigen und vergangenen Welten …, doch unterschwellig hausen die Tempelwächter und Monstren lautlos zwischen Kopf- und Realitätswelt.‹ Im durchlässigen Grenzbereich zwischen den zwei Welten erscheinen immer wieder Wächterfiguren. In deren Doppelansichtigkeit spielt Ursula mit dem feinen Grat zwischen Innen und Außen, Beschützen und Bewachen als wandelbare Teile“ (Katalog S. 113. Vergleich dazu etwa die Arbeit ›Ursula, Die beiden Wächter, 1986 unter https://www.van-ham.com/de/kuenstler/ursula-ursula-schultze-bluhm/ursula-ursula-schultze-bluhm-die-beiden-waechter.html).
Im zwölften und letzten Bilder-Kapitel ›Selbstbildnis und Identifikation‹ schaut Ursula in ihrem Selbstbildnis auf beinahe ein halbes Jahrhundert eigene künstlerische Arbeit zurück und bemerkt dabei herausfordernd: ›Das bin ich. Na und?‹ (vergleiche dazu das Selbstbildnis mit den blauen Augen von 1995, im Katalog S. 351: https://www.museum-ludwig.de/de/ausstellungen/ursula-das-bin-ich-na-und.html).
ham, 19. Mai 2023