Für das Hessische Landesmuseum Darmstadt herausgegeben von Martin Faass und Jessica Schmidt mit einem Vorwort von Martin Faass und Jessica Schmidt und Beiträgen von Richard Kuba, Jessica Schmidt, Fabienne Eggelhöfer, Harald Floss und Gabriele Mackert.
E.A. Seemann Verlag Leipzig, 2023, ISBN 978-386502-494-7, 160 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover, gebunden, Format 28,2 x 24,2 cm, € 35,00
Wer schon einmal von der „Venus vom Hohle Fels“ im Achtal bei Schelklingen auf der Schwäbischen Alb, vom Löwenmenschen im Hohlenstein-Stadel im Lonetal, vom Mammut aus der Vogelherdhöhle und der Flöte aus Schwanenknochen im Geißenklösterle im Achtal bei Blaubeuren gehört oder eines der Werke im Original gesehen hat (vergleiche dazu https://www.planet-wissen.de/kultur/mittelgebirge/schwaebische_alb/pwiekunstwerkeausdereiszeit100.html), wundert sich nicht darüber, dass in anderen Vorzeithöhlen wie der von Altamira (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Höhle_von_Altamira) oder der von Lascaux (vergleiche dazu https://lascaux.fr/fr/) und in vom Wetter begünstigten Felsformationen wie in der Valltorta-Schlucht bei Castellón (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Cova_dels_Cavalls) prähistorische Höhlenmalereien und Felsbilder zu finden sind. Offensichtlich gehört Kreativität zum Menschsein hinzu.
Über Fachkreise hinaus weniger bekannt dürfte sein, dass der deutsche Ethnologe, Afrikaforscher und Direktor des „Instituts für Kulturmorphologie“ in Frankfurt am Main Leo Frobenius (1873–1938, vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Frobenius) auf seinen von ihm geleiteten und von ihm veranlassten Forschungsreisen in Afrika, Frankreich, Skandinavien, Spanien, Italien und Westpapua ab Ende der 1920er Jahre Malerinnen und Maler engagiert hat, die die dort erhaltenen prähistorische Werke detailgenau nachzeichnen sollten. Frobenius erklärte das Nachzeichnen als einen Akt des Verstehens und der Ermittlung der Geistigkeit, die die Werke entstehen ließ. „Die Felsbilder wurden in prestigeträchtigen und reich illustrierten Bänden veröffentlicht. Doch erst durch etwa 60 Ausstellungen in Europa und den Vereinigten Staaten erreichte Frobenius ein breites Publikum. Für die Anerkennung der prähistorischen Felsbilder als Kunst war es essenziell, diese mithilfe von Nachschöpfungen durch Künstlerinnen und Künstler transportabel zu machen. Nur als zweidimensionale Kopien konnten diese Bilder ihre oftmals schwer zugänglichen Eiszeithöhlen, die Savannen des südlichen Afrikas oder die zentrale Sahara verlassen. Nur als rechteckiges Bild konnten sie an Museumswände gehängt werden. Und nur durch diese Transformation konnten die bis dahin ungesehenen Bilder im westlichen Kunstkanon ankommen und eine ganze Künstlergeneration inspirieren“ (Richard Kuba, S. 16).
Der vom hessischen Landesmuseum herausgegebene Band geht der Frage nach, was Höhlenmalerei und moderne Kunst gemeinsam haben und stellt das Interesse von Pablo Picasso, Joan Miró, Willi Baumeister, Paul Klee und Josef Beuys an der Vorzeitkunst und Arbeiten vor, die aus der Begegnung mit ihr entstanden sind. So hat Joan Miró bereits Ende der 1920er Jahre seine Bewunderung für die Kunst der Grotten erklärt, die Felsbilder von Frobenius wohl schon früh durch Zeitschriften gekannt und die Höhle von Altamira im Jahr 1957 besucht.
Nach Harald Floss und Juan Francisco Ruiz López stand Willi Baumeister mit Leo Frobenius in einer nachweislichen Verbindung, ohne dass sie eine direkte Bekanntschaft hatten. Für Willi Baumeister war die prähistorische Kunst eine wichtige Quelle der Inspiration. In derselben Zeit, in der Baumeisters Hinwendung zum Archaischen entstand, war Leo Frobenius der herausragende Vertreter im deutschsprachigen Raum, der prähistorische Kunst dokumentierte und bekannt machte (vergleiche dazu den Bogenschützen aus der Cova dels Cavalls unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Escena_de_caça_de_la_cova_dels_Cavalls,_arquer,_reproducció_del_museu_de_la_Valltorta.JPG mit Willi Baumeisters Läufer Valltora unter https://willi-baumeister.org/de/werk/läufer-valltorta). Verdichtet durch gemeinsame Kreise in Frankfurt ist somit die Bezugnahme Baumeisters auf Frobenius zwar konkret schwer nachzuweisen und wirkt im Detail zuweilen konstruiert, ist im Gesamtbild aber dennoch von unzweifelhafter Evidenz (vergleiche dazu H. Floss und J. F. R. Lopez im Katalog, Seite 48). Paul Klee sah die Notwendigkeit, das Formspektrum der akademischen Kunsttradition über gegenständliche Darstellungen hinaus zu erweitern. Dafür schien ihm die Kunst der Vorzeit und ihre erstaunlich naturalistische und gleichzeitig reduzierte Bildsprache geeignet. Als solche ließ er sie in seine künstlerischen Arbeiten einfließen. Er überführte das Gesehene in eigens erdachte Formen, wofür er sich der bewussten Reduktion bediente. Hier lag für ihn das Schlüsselmoment, dass seine moderne Bildsprache klar von derjenigen der Vorzeitkunst unterschied (vergleiche dazu Paul Klee Works 1934 unter https://paulklee.fr/html/1934a.html). Bei Pablo Picasso meint man in der stufenweisen Reduktion seines Stiers in seiner elfteiligen Lithografie-Serie Le Taureau von 1945/46 einen Nachhall seines Besuchs in Lascaux zu spüren(vergleiche dazu http://mourlot.free.fr/english/fmtaureau.html). Und Joseph Beuys zeigt sich selbst als „wiedergeborener Höhlenzeichner“. Für ihn lag in der Kunst der Vergangenheit eine Voraussetzung für das Zukünftige (Jessica Schmidt, S. 27; vergleiche dazu https://www.kettererkunst.de/image-max.php?obnr=115001774&anummer=429&ebene=0&ext=0). Auch für zeitgenössische Künstlerinnen wie Hito Steyerl haben die Höhlenmalereien ihre Inspirationskraft nicht verloren. So setzt sie in ihrer Installation Animal Spirits von 2022 animierte Projektionen von Höhlenmalereien ein, um ein aktuelles gesellschaftsrelevantes Thema zu kontextualisieren, in diesem Fall den Energieverbrauch durch den globalen Datentransfer in der (Bild-)Kommunikation (Jessica Schmidt S. 27; vergleiche dazu https://www.estherschipper.com/artists/102-hito-steyerl/works/26517/).
ham, 11. Februar 2025