Mai 17

Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 31. März bis 26. November 2023 im Humboldt Forum Berlin 

Herausgeben von der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss. Mit Beiträgen von Klaus Bo, Cristina Cattaneo, Stephan Cave, Dipesh Chatkrabarty, Robin Wall Kimmerer und vielen anderen mehr

Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss / E.A. Seemann Verlag in der E.A. Seemann Henschel GmbH & Co.KG, Leipzig, 2023, ISBN 978-3-86502-506-7, 200 Seiten,110 Farbabbildungen, Hardcover, gebunden, Format 27 x 22 cm, € 29,90 (D) / € 30,80 (A)

Mit Sterben und Tod müssen Menschen über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg leben. Gleichwohl werden das Sterben und der Tod in unseren Breiten in aller Regel verdrängt. Das von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders 1967 in Sydenham im Südosten von London eröffnete St. Christopher’s Hospice (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/St_Christopher’s_Hospice) und die von ihr unter dem Namen Palliative Care ins Leben gerufene multidimensionale Sterbebegleitung hat zwar in Teilen der Öffentlichkeit eine Diskussion über die Frage ermöglicht, was selbstbestimmtes und schmerzfreies Sterben sein und heißen könnte und in Deutschland zur Gründung von rund 1500 ambulanten Hospizdiensten, circa 260 stationären Hospizen für Erwachsene sowie 19 stationären Hospizen für Jugendliche und junge Erwachsene geführt, in denen im Jahr etwa 35000 Menschen versorgt werden. Aber das vorzeitige Sterben geht nicht nur in Kriegen und im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa, sondern auch auf Äckern, Wiesen und Wäldern weiter.

Die im Humboldt Forum Berlin gezeigte Ausstellung ›Un_endlich leben mit dem Tod‹ und der sie begleitende Katalog greifen mit dem Tod verbundenen Fragen wie die nach den Jenseitsvorstellungen der Gegenwart, dem Tod in nicht westlichen Kulturen, dem Geschehen im letzten Moment, n der Menschenwürde über den Tod hinaus und nach dem Sterben der Arten auf und nehmen damit ein mögliches Ende der Evolution in den Blick.

Unter den Autoren des Bandes rät die Ärztin in der Palliativpflege Noreen Chan, Singapur, nicht dem ›Dogma vom guten Tod‹ zu verfallen (vergleiche dazu https://www.nuhs.edu.sg/For-Patients-Visitors/Pages/find-a-doctor-details.aspx?docid=Noreen_Chan). „Alle haben ihre Vorstellungen davon, wie ein guter Tod aussehen könnte. Für viele Menschen ist das ein friedlicher, schmerzfreier Tod, im eigenen Bett, zu Hause, im Kreis der Familie. Aber diese Vorstellung teilen nicht alle. Es gibt Menschen, die es einfach gern übertreiben, und die wollen mit einem großen Knall abtreten. Ein guter Tod ist also, was man daraus macht. Aber das herauszufinden ist nicht einfach […]. Das Leben wird immer länger, aber nicht unbedingt besser. Um uns auf den Tod vorzubereiten, müssen wir uns also entscheiden, wie wir unser Leben leben wollen. Die meisten Menschen glauben allerdings, man müsse am Lebensende nur eine Checkliste abarbeiten, und schon sei alles in Ordnung. Dabei vergessen sie, dass die Gespräche und Vorbereitungen sehr emotional sind, weil sie alle Beteiligten an ihre eigene Sterblichkeit erinnern. Die Angst vor dem Tod ist real, und viele nehmen zunächst eine Abwehrhaltung ein. In meiner Arbeit geht es daher vor allem darum, einen Raum für diese Gespräche zu schaffen, und die vielfältigen Bedürfnisse der Sterbenden und ihrer Angehörigen unter einen Hut zu bringen“ (Noreen Chan, S. 79).

Unter den weiteren Beiträgern beschreibt der experimentelle Neurobiologe und Schlaganfall-Forscher an der Charité Jens Dreier die Folgen eines Herz-Kreislauf-Stillstands für die Nervenzellen im Gehirn (vergleiche dazu https://www.dasgehirn.info/user/dreierj). Wenn der Kreislauf stillsteht, scheinen sie für kurze Zeit in einen veränderlichen Rhythmus zu gehen. „Da sind die Nervenzellen noch nicht gehemmt. Es dauert rund 30 Sekunden, dann sind sie gehemmt. Aber ganz kleine Mengen an erregenden und hemmenden Botenstoffen werden weiterhin freigesetzt, wobei die hemmenden Botenstoffe jetzt überwiegen. Da sieht man dann im EEG (Elektroenzephalogramm) zwar eine Nulllinie – aber es ist nicht so, dass in dieser Phase nichts mehr passiert. Von dem Moment an, in dem die Hirnaktivität nicht mehr nachweisbar ist, dauert es nach unseren Messungen zwischen 13 und 266 Sekunden, bis die Spreading Depolarization als riesige Entladung eintritt [vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Streudepolarisierung] […]. 

Wenn die Welle auftritt, beginnen Prozesse, die für die Nervenzellen toxisch sind. Die Uhr fängt an zu ticken. Das ist der Moment, wo der große Stress beginnt. Die Nervenzellen schwellen massiv an, das lässt sich beispielsweise unter dem 2-Photonen-Mikroskop beobachten […]. Botenstoffe werden in Massen freigesetzt. Es gibt keinen Botenstoff, der in dieser Phase nicht freigesetzt wird. Die Welle breitet sich langsam im Hirn aus. Dabei wird sehr viel elektrochemische Energie freigesetzt, die in Wärme umgewandelt wird. Vorne in der Wellenfront laufen zunächst noch ein paar Aktionspotentiale mit, also Impulse, die auch unter Normalbedingungen auftreten können. Danach herrscht komplette Stille. Am einfachsten lässt sich die Welle als Kurzschluss wie bei einer Batterie beschreiben. Das heißt mit der Welle verlieren die Nervenzellen ihre elektrische Ladung. Entsprechend gibt es dann keine Energie mehr, um noch Impulse zu generieren [vergleiche dazu etwa ›Tod: Letztes Leuchtfeuer im Gehirn‹. In: https://www.scinexx.de/news/medizin/tod-letztes-leuchtfeuer-im-gehirn/].

Was ich persönlich aber wichtig finde, ist, dass die Spreading Depolarization nicht die Welle des Todes ist. Das ist falsch. Die Welle leitet toxische Prozesse ein, dann dauert es eine Weile, und dann sterben die Nervenzellen ab. Kommt es nach dem Einsetzen der Welle aber rechtzeitig zu einer Erholung der Hirndurchblutung und Energieversorgung, ist die Welle bis zu einem bestimmten Zeitpunkt noch vollständig reversibel, und die Nervenzellen können sich erholen“ (Jens Dreier S. 103 f.). Wenn die Organellen der entladenden Nervenzellen aber so stark geschädigt sind, dass sie ihre Funktionen nicht mehr ausführen können, ist das Ganze unumkehrbar. Am Ende sind all unsere 86 Milliarden Nervenzellen vollständig entladen und irgendwann so vergiftet, dass sie zugrunde gehen.

Die Lichterscheinungen, von denen Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten, gibt es auch bei der Migräne mit Aura. „Die typische Migräne-Aura besteht darin, dass eine Art Zackenkranz gesehen wird, der meist im Zentrum des Sehens beginnt und sich dann langsam nach außen ausbreitet. Manche Patient✴︎innen mit Migräneaura berichten aber auch über ein Tunnelsehen und/oder helle Lichterscheinungen. Der Grund, warum es zur Aura kommt, ist eine Welle, die jener Welle, die beim Schlaganfall oder beim Sterben auftritt, sehr ähnlich ist […]. Interessant bei Nahtoderfahrungen sind beispielsweise das Gefühl der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die Erfahrung, an mehreren Orten quasi gleichzeitig sein zu können sowie zum praktisch gleichen Zeitpunkt unterschiedlich alt sein zu können. Das würde dazu passen, dass es einen koordinierten Prozess im Gehirn gibt, bei dem innerhalb eines kurzen Zeitraums – mehr oder minder gleichzeitig – sehr viele Nervenzellen aktiviert werden und unsere (gespeicherten) Erinnerungen fast gleichzeitig abgerufen werden. Eine Art Lebensbilderschau, ein Lebensrückblick, der im Zeitraffer abläuft. Weitere Phänomene sind außerkörperliche Erfahrungen, die jedoch auch aus anderen Zusammenhängen bekannt sind, wie z. B. von epileptischen Anfällen, oder durch eine Magnetstimulation bestimmter Hirnregionen ausgelöst werden können […].

In der christlich geprägten Welt lassen sich derartige Nahtoderfahrungen etwas häufiger beobachten. Auf der anderen Seite ist es so, dass Nahtoderfahrungen dem Bericht nach in allen Religionen auftreten. Auch Atheist✴︎innen können eine Nahtoderfahrung haben. Zusätzlich gibt es auch historische Schilderungen, die man heutzutage als Nahtoderfahrungen interpretieren würde. Nahtoderfahrungen tauchen also in unterschiedlichen Kontexten, Religionen und Epochen auf. All das spricht dafür, dass es eine fundamentale Eigenschaft von Homo sapiens ist, Nahtoderfahrungen zu haben“ (Jens Dreier S. 105 f.; vergleiche dazu auch Jens Dreier, Der radioeins-Podcast auf Leben und Tod unter https://www YouTube.com › watch).

Die Bioanthropologin Liv Nilsson Stutz macht mit der rituellen Versorgung der Leichname und ihren unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen bekannt (vergleiche dazu https://lnu.se/en/staff/liv.nilssonstutz/). Die forensische Pathologin Christina Cattaneo diskutiert die Frage, welche Bedeutung die Bergung und Identifizierung der Leichen der im Mittelmeer auf ihrer Flucht nach Europa umgekommen Personen für ihre Angehörigen hat (vergleiche dazu https://www.journals.elsevier.com/la-revue-de-medecine-legale/editorial-board/professor-cristina-cattaneo-md-phd). Und der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht prognostiziert, dass das vom Menschen verursachte Artensterben eine Krise von globaler Dimension provozieren wird (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Glaubrecht): „Bald werden in der Natur nicht nur die großen ›charismatischen‹ Tierarten wie etwa Tiger und Löwe, Leopard und Jaguar oder Elefanten und Nashörner ausgestorben sein. Längst sind in Afrika und Asien etwa die Bestände der Großkatzen ebenso wie der imposanten Großsäuger zusammengebrochen. Von vielen existieren nur noch Restpopulationen, die Letzten ihrer Art kämpfen ums Überleben.

Doch längst geht es nicht mehr nur um die sogenannten ›Flaggschiffe‹ des Naturschutzes. Vielmehr geht es zum einen um das Verschwinden einer Vielzahl anderer, meist unscheinbarer Arten; zum anderen geht es um den Schwund der Bestände und Vorkommen zahlloser Tier- und Pflanzenarten. Diese ›Schwindsucht‹ der Artenvielfalt beginnt unmittelbar vor der eigenen Haustür, im eigenen Garten und in unserer Kulturlandschaft, wo massenhaft Vögel und Insekten verloren gehen. In Deutschland sind davon nachweislich drei Viertel aller Fluginsekten betroffen; diese aber sind Nahrung etwa der Vögel: Von Ihnen verschwanden in Europa seit den 1980er-Jahren rund 600 Millionen Individuen, darunter meist Acker- und Wiesenvögel; in Nordamerika dürften es sogar drei Milliarden(!) Vögel sein, vor allem auf landwirtschaftlich genutzten Flächen und Siedlungen.

Ebenso betroffen […] sind unsere Wälder, die längst eher Forste und Holzplantagen als Natur sind; aber auch Flüsse, die wir begradigen, eindeichen und durch Wehre und Staustufen verbauen. So haben wir Lachs, Stör und Stint verloren und mit ihnen zahllose andere Fische. Oder nehmen wir den Boden, den wir überdüngen und dessen Organismen wir vergiften. Das Artensterben ist allgegenwärtig; es reicht bis zu den tropischen Regenwäldern und Korallenriffen, von den weiten Savannenlandschaften bis zu den Meeren, wo Naturräume in erschreckendem Umfang zerstört werden und damit die Vielfalt der Lebewesen. An vorderster Front im Terrestrischen steht der Verlust an Wäldern weltweit. Rund um den Globus haben wir im vergangene halben Jahrhundert etwa die Hälfte der Waldökosysteme verloren […]. Entwaldung, oder ›Deforestation‹, und in der Konsequenz ›Defaunation‹, die Entleerung der Tierwelt _ es sind die beiden hässlichen Seiten derselben Medaille: dem globalen Verlust an Arten, durch den Lebensräume biologisch zu Wüsten werden.

Eine Vielzahl einschlägiger Studien zeigt, dass auf allen sechs Kontinenten und in sämtlichen Lebensräumen die Bestände und Vorkommen von immer mehr Arten in dramatischer Weise und immer schneller schrumpfen. Ganze Regionen verarmen, abgesehen von einigen wenigen Artenwendegewinnlern. Bestätigt wurde dies zuletzt auch durch Analysen des Weltbiodiversitätsrats IPBES […]. Demnach werden bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts bis zu einer Million größerer und bekannterer Tier- und Pflanzenarten verschwinden. Die Biodiversitätskrise droht zu einer globalen Krise des Lebens zu werden, zu einem Artendrama von planetarer Dimension […]. Dass sich die Biomasse an Insekten drastisch reduziert hat, und zwar in Naturschutzgebieten ebenso wie auf landwirtschaftlich genutzten Flächen, im globalen Norden ebenso wie in Brasilien und Puerto Rico, weist – entgegen irriger Annahmen – eindeutig darauf hin, dass tatsächlich die industrialisierte Landwirtschaft einschließlich der dabei eingesetzten hochwirksamen und leicht verteilbaren Gifte, ja dass diese Art und Weise der Landnutzung heute Ursache und Auslöser des allgemeinen Artenschwundes ist […].

Was wir derzeit betreiben, ist gleichsam ein Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Denn wir Menschen vernichten die Produkte der Evolution der Vergangenheit, ohne die aber die Lebensräume der Erde keine Zukunft haben werden. Es wäre das Ende der Evolution, wie wir sie kennen. Kein Zweifel: Das Leben wird andere Wege einschlagen, doch dann sehr wahrscheinlich ohne uns“ (Matthias Glaubrecht S. 163 ff.). Deshalb fordert Glaubrecht, statt derzeit 15 Prozent an Land  und 7 Prozent im Meer bis zum Jahr 2030 wenigstens 30 Prozent der Erde zu schützen, um damit einen Großteil der gegenwärtigen Artenvielfalt zu bewahren „Besser wäre es, so mahnen Experten,  bis Mitte des Jahrhunderts sogar die Hälfte der Erde unter Schutz zu stellen und diese so wieder ›ergrünen‹ zu lassen“ (Matthias Glaubrecht S. 163 ff.).

In den 1968er Jahren hat man in gesellschaftskritischen Analysen den 1956 von dem amerikanischen Soziologen Charles Wright Mills geprägten Begriff des militärisch-industriellen Komplexes aufgegriffen, um die enge Zusammenarbeit, die gemeinsamen Interessen und die gegenseitigen Beziehungen zwischen Politikern, Vertretern des Militärs und Vertretern der Rüstungsindustrie zu beschreiben. Vielleicht hätte man bei der Beschreibung der Folgen der industrialisierten Landwirtschaft für das Ökosystem analog dazu deutlicher von den gemeinsamen Interessen, gegenseitigen Beziehung und der engen Zusammenarbeit von Landwirtschaft, Industrie und Politik und damit vom heutigen Agrar-Industrie-Komplex (vergleiche dazu http://www.juramagazin.de/agrar-industrie-komplex.html) sprechen können, also vom agrarisch-industriellen Komplex. Der instruktive Band kann trotzdem wärmstens empfohlen werden.

ham, 16. Mai 2023

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