Treten Sie ein! Treten Sie aus!
Warum Menschen ihre Religion wechseln
Publikation zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 23.10.2012 – 24.03.2013 im Jüdischen Museum Hohenems, vom 15.05. – 15.09.2013 im Museum Judengasse – Jüdisches Museum Frankfurt am Main, vom 02.10.2013 – 02.02.2014 im Jüdischen Museum München, hrsg. für die Jüdischen Museen Hohenems, Frankfurt am Main und München von Regina Laudage-Kleeberg und Hannes Sulzenbacher
Jüdisches Museum Hohenems, Jüdisches Museum Frankfurt am Main, Jüdisches Museum München, 2012, ISBN 978-3-86964-067-9, 344 S., zahlreiche s/w- und Farbabbildungen, Klappenbroschur, Format 24 x 17 cm, € 24,–
In der interreligiösen und interkulturellen Begegnung ist das individuelle und kollektive Recht auf Religionsfreiheit und die Freiheit zur Konversion der Ernstfall. Zwar wird in Mitteleuropa anders als noch vor 250 Jahren in Österreich ein „Abfall vom christlichen Glauben“ nicht mehr mit dem Schwert bestraft. Aber die gesellschaftlichen „Diskussionen über das Thema Konversion verlaufen auch heute keineswegs konfliktfrei, ja sie berühren neue Tabus und offene Fragen“ (Hanno Loewy/Fritz Backhaus/Bernhard Purin). Die in den Jüdischen Museen in Hohenems, Frankfurt und München gezeigte Ausstellung und ihre Publikation greifen diese Tabus und Fragen auf und laden zur offenen Diskussion über die widersprüchliche Geschichte der Konversion und ihre Gegenwart ein. Am Ende dieser Diskussion könnte ein differenzierteres Bild, ein Wissen um die Vielfalt der Motive, die Kenntnis der jeweiligen mit Konversion verbundenen Riten und der empathische Umgang mit Konvertiten stehen. Der von Regina Laudage-Kleeberg und Hannes Sulzenbacher gewählte strukturalistische und funktionale Ansatz erlaubt es, „die unterschiedlichen Formen des Übertritts, seine Regeln, Rituale und Traditionen besser zu vergleichen und die persönliche Geschichte einzelner Konversionen kann in den Mittelpunkt zu rücken… Konversionen erfüllen Funktionen: Sie sollen persönliche Identitäten stabilisieren, auch auf Kosten der >>verlierenden<< Gemeinschaften. Spirituelle Sinnerfüllung, finanzielle oder materielle Vorteile, die Vermeidung oder die scheinbare Lösung eines schon unabweisbaren persönlichen Konflikts, die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, Heirat und die gewünschte Akzeptanz in einer Gemeinschaft sind heute weit häufiger die Motive für eine Konversion als Formen des Zwangs, die mit der Aufgabe von Religion, Tradition und Gemeinschaft ausschließlich als Verlust erlebt werden“ (Regina Laudage-Kleeberg, Hannes Sulzenbacher). Für Detlef Pollack erscheint die Konversion aus religionssoziologischer Sicht „als radikaler Wandel des individuellen Selbst- und Weltverständnisses… Dieser Wandel vollzieht sich meist im engen Zusammenhang mit einer Änderung des Verhaltens des Individuums und seiner religiösen Gruppenzugehörigkeit. Dennoch ist er von diesen Veränderungen zu unterscheiden: Er kann mit ihnen verbunden sein, muss es aber nicht. Den Kern des Konversionsgeschehens bildet weder eine Verhaltens- noch eine Zugehörigkeitsveränderung, sondern ein individueller Einstellungs- und Bewusstseinswandel. Deshalb ist es nicht berechtigt, von Konversion erst dann zu sprechen, wenn der Konvertit über diese berichtet. Konversion ist kein Kommunikationsgeschehen, sondern ein Bewusstseinsphänomen“ (Detlef Pollack). Für Monika Wahlrab-Sahr sind beim Begriff Konversion zwei Dimensionen zu unterscheiden. „Zum einen bezieht der Begriff sich allgemein auf einen Wechsel der Religions- oder Konfessionszugehörigkeit, zum anderen auf den Wandlungsprozess einer Person, die sich neu oder in neuer Weise an eine Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft bindet“ (Monika Wahlrab-Sahr). Kurt Greussing setzt sich mit dem islamisch-theologischen Streit um den Abfall vom Islam auseinander. Melanie Möller beleuchtet Konversion und Dekonversion in den Neuen Religiösen Bewegungen. Andere Artikel befassen sich mit Konversionen als Erzählung, mit Übergangsritualen bei Konversionen, mit jüdischen Konversionen im Mittelalter, mit der Debatte über „Judentaufen“ und die Konversion zum liberalen Protestantismus in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg und mit der Frage, ob die Taufe von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus vor der Deportation oder Ermordung geschützt hat oder nicht. Eva-Maria Schrage schließlich diskutiert die Frage, ob es in Deutschland zu einer „Revitalisierung“ oder „Renaissance“ des Judentums kommen wird oder ob man die Pluralisierung des Judentums nicht eher als „ein Bemühen um eine jüdische Zukunft in Deutschland“ verstehen muß. Der Band ist überaus anregend und gehört zur Pflichtlektüre für jeden, der sich mit den Transformationsprozessen heutiger Gesellschaften auseinandersetzt.
ham, 10.07.2013
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