Der 1940 in Berlin geborene Konzeptkünstler, poetische Wortjongleur, selbstironische Dada-Urenkel und emeritierte Professor für Bildhauerei und Totalkunst Timm Ulrichs hatte von 1959 bis 1966 Architektur studiert und war nach dem Abbruch seines Studiums schlecht bezahlter Eisverkäufer, Tellerwäscher, technischer Zeichner und anderes mehr (vergleiche dazu und zum Folgenden Timm Ulrichs in https://de.wikipedia.org/wiki/Timm_Ulrichs). 

Seit 1959 ist er als „Totalkünstler“ aktiv. Bereits 1961 gründete er eine „Werbezentrale für Totalkunst & Banalismus“ mit „Zimmer-Galerie & Zimmer-Theater“. 1969 kam eine „Kunstpraxis (Sprechstunden nach Vereinbarung)“ hinzu. 1966 stellt er sich in der Frankfurter Galerie Patio als »Das erste lebende Kunstwerk« aus (vergleiche dazu CAFÉ DEUTSCHLAND. Franziska Leuthäußer im Gespräch mit Timm Ullrichs. In: https://cafedeutschland.staedelmuseum.de/gespraeche/timm-ulrichs#timm-ulrichs-fn-3). 1977 nimmt er an der documenta 6 in Kassel teil. 2023 konzipiert das Kunstmuseum Ahlen, das wohl über die größte Sammlung seiner Werke verfügt, eine Übersichtsausstellung unter dem Titel »Nichts als Theater« und gruppiert sie nach den Personalpronomen ich – du – er – sie – es – wir – ihr – sie. Er selbst fand das Konzept total überzeugend – und Isabell Schenk-Weininger auch. Deshalb hat die Direktorin der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen die Ausstellung in ihr Haus übernommen und das Konzept an die dortigen Räumlichkeiten angepasst.

Am Anfang des im Kopf 40 000 Kilometer rund um die Erde führenden Parcours hat sich »der erste sitzende stuhl« nach langem Stehen neben dem wortmaterialistisch interpretierten Anfang des Johannesevangeliums zur Ruhe gesetzt. »ICH« als die größte Abteilung der Ausstellung stellt den sich selbst hinterfragenden Künstler in einer Glasvitrine als erstes lebendiges Kunstwerk und menschlichen Blitzableiter aus, der in einer Rüstung aus Stahl mit einem fünf Meter hohen kupfernen Fangstangenohr im nächtlichen Gewitter über die Felder geht und Gott mit seinem Ausruf „Soll mich, so Gott will, der Blitz treffen“ herausfordern will. Ob Marina Abramovics analoge Gewitter-Performance zeitlich vor oder nach Ulrichs Feldgang liegt, kann während der Pressekonferenz zur Ausstellung nicht mehr geklärt werden (vergleiche dazu Barbara Gronau, Inszenierung und Evidenz. In: https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-2/inszenierung-und-evidenz-zur-aesthetik-energetischer-phaenomene/). Ulrichs und Abramovic müssen sich aber kennen, wenn Ulrichs Abramovic als »Urgroßmutter der Performance« verspottet und dann fragt: „Was bin ich denn dann?“ (vergleiche dazu https://www.wlz-online.de/kino-tv/rahmen-5452572.html).

Die Abteilung »DU« erinnert an Ulrichs Kunstpraxis in den 1960-er Jahren, »ER« und »SIE« an gestürzte Denkmäler, die Vergänglichkeit und den eigenen Tod, »ES« an die Vorstellung vom Gesamtkunstwerk und »WIR«, »IHR« und »SIE« an kollektive Identitätsangebote, Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Verhaltensnormen – hier kommen wichtige Aspekte der Gesellschaft zusammen (vergleiche dazu und zum Folgenden S. 100 im Katalog zur Ausstellung). Wie leben wir? Wie konsumiert ihr? Wie geht Gesellschaft? Wie bewertet ihr Kunst? Wo liegen die Grenzen zwischen uns und den anderen? Es kann schwierig sein, zu einem ‚Wir‘ zu kommen – insbesondere in einer Zeit starker gesellschaftlicher Vereinzelung, in der es gleichzeitig viele globale Krisen zu bewältigen gibt. 

Spätestens am Ende des Rundgangs wundert man sich über die handwerkliche und technische Brillanz der ausgestellten Arbeiten und fragt sich, wie ein Gedankenkünstler in allen Feldern der Kunst produktionsästhetisch perfekte Werke herstellen kann. Seine lebenspraktisch geniale Antwort ist, dass er sich auf seine Einfälle beschränkt und die Ausführung der Werke den Fachleuten überlässt.

Der 2023 zur Ausstellung von Martina Padberg herausgegebene Katalog mit Texten von Anna Luise von Campe und Stefan Joller »Timm Ulrichs, Nichts als Theater« hat 136 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Klappenbroschur, die ISBN-Nummer 978-3-9822552-4-8 und kostet 20,00 Euro. 

ham, 4. Juli 2024

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