Mit Arbeiten der KÜNSTLER*INNEN
HANS BELLMER, LUIS BUÑUEL, MARCO BRAMBILLA, CLAUDE CAHUN, GEORGE CONDO, SALVADOR DALÍ, MARCEL DUCHAMP, MAX ERNST, ALFRED HITCHCOCK, SARAH LUCAS, DAVID LYNCH, RENÉ MAGRITTE, JOAN MIRÓ, MERET OPPENHEIM, TONY OURSLER, MAN RAY, CINDY SHERMAN, PENNY SLINGER, DOROTHEA TANNING, ERWIN WURM
Für Marc Gundel betreten die Städtischen Museen Heilbronn mit der von Carolin Wurzbacher kuratierten und in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturaustausch, Tübingen erarbeiteten Ausstellung „Surrealismus – Welten im Dialog“ Neuland: Die zum einhundertjährigen Jubiläum des am 15. Oktober 1924 von André Breton in Paris veröffentlichten Ersten Surrealistischen Manifests konzipierte Ausstellung beleuchtet die „surrealistische Bewegung über traditionelle Gattungsgrenzen hinaus als eine multimediale und veranschaulicht die wechselseitigen Einflüsse und Wirkungen zwischen Malerei, Grafik, Fotografie und Film. Damit betritt die Kunsthalle Vogelmann […] Neuland, zumal der Fokus bislang der Kunst des Expressionismus galt […]. Doch es gibt signifikante Parallelen: Auch der Surrealismus ist von Beginn an eine explizit internationale Kunstrichtung und vor allem eine Haltung gegenüber der Welt und Wirklichkeit. Mit Albert Einsteins Relativitätstheorie (1905), den Erfahrungen von Krieg und Zerstörung im Ersten Weltkrieg, den politischen Umwälzungsprozessen im Europa der 1920er- und 1930er-Jahre sowie der rasanten Entwicklung von Film und Radio war die Gewissheit einer eindeutigen Wirklichkeit passé. Dies war das Momentum derjenigen Künstler:innen, die auf eigene Welten parallel zur Wirklichkeit bauten. Psyche und Unterbewusstsein sowie Traum und Fantasie spielten dabei eine entscheidende, aber keine ausschließliche Rolle. Tatsächlich sind die Motivationen so vielfältig wie die Ausdrucksformen selbst und bis heute überraschend. Eindrücklich zeigt sich dies in der Ausstellung durch die immersive Augmented-Reality-Arbeit von Lauren Moffat oder der halluzinatorisch-einnehmenden Videocollage Marco Brambillas, bestehend aus Hunderten Fragmenten von Hollywoodfilmen“ (Marc Gundel im Katalog zur Ausstellung, S. 6 f.).
André Breton hatte während seines Sanitätsdienstes im Ersten Weltkrieg Sigmund Freuds Psychoanalyse kennengelernt, den Dadaismus als erschöpft erlebt und dem Nationalismus und Technizismus des Esprit-Nouveau-Kreises die Macht des Irrationalen und Unbewußten entgegengehalten. In seinem surrealistischen Manifest definiert er den Surrealismus als reinen psychischen Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens ohne jede Kontrolle durch die Vernunft und jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung auszudrücken versucht. Er beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traums und an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. Der Geist, der in den Surrealismus eintaucht, erlebt mit höchster Begeisterung den besten Teil seiner Kindheit wieder. Im Dunkel erlebt er von Neuem einen kostbaren Schrecken. Gott sei Dank, es ist nur erst das Fegefeuer. Bebend durchschreitet er, was Okkultisten gefährliche Landschaften nennen.
Der Surrealismus ist der »unsichtbare Strahl«, der uns eines Tages unsere Gegner besiegen lassen wird. »Du zitterst nicht mehr, Gerippe«. In diesem Sommer sind die Rosen blau; die Welt ist aus Glas. Die Erde, grün ausgeschlagen, macht nicht mehr Eindruck als ein Geist aus einer anderen Welt. Leben und nicht mehr leben, das sind imaginäre Lösungen. Die Existenz ist anderswo (vergleiche dazu André Breton, Manifeste des Surrealismus. In: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Charles Harrison und Paul Wood, Band I, 1895–1941, Ostfildern-Ruit, 1998, S. 543 ff.).
Die von Breton entwickelte Gedankenskizze geht in die bis heute fortwirkende surrealistische Bewegung ein. Der Surrealismus ist keine abgeschlossene historische Bewegung, sondern „eine Haltung, ein unvollendeter, sich stets wandelnder Gedanke. Im Zusammenspiel der Jahrzehnte erscheinen die Themen und Motive der surrealistischen Avantgarde aktueller denn je. Identitätssuche, Transformationen, Irrationalität und die Hinterfragung von Wirklichkeit und Wahrnehmung werden bis heute in surrealistisch wirkenden Werken verhandelt. Gegliedert in sechs Kapitel, zeigt die Ausstellung, wie surrealistische Praktiken über die Generationen hinweg und bis heute einer ebenso kritischen wie humorvollen Befragung von Gegenwart und Zukunft dienen. Mit über 100 Gemälden, Grafiken, Objekten, Fotografien und Filmen vermittelt die Ausstellung die faszinierende Vielfalt surrealistischer Kunst“ (Wandtexte in der Kunsthalle Vogelmann: Einführung).
Im Hauptraum des Erdgeschosses sind unter dem Stichwort „Kollektiver Traum“ unter anderem Yves Tanguys Traumlandschaft „Composition surrealiste“ von 1939, Max Ernsts wohl aus dem Erleben der Schrecken des Ersten Weltkriegs geborener „Jäger“ von 1926 und Salvador Dalis „Venus nach der Art einer Giraffe“ von 1973 zu finden. Maurice Henry spielt in seiner Farblithografie „o. T. (Die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Operationstisch)“ auf die Definition des französischen Dichters Isidore Lucien Ducasse, besser bekannt unter Comte de Lautréamont, an, mit der er das Zusammenspiel von Gegensätzlichem und das Zusammentreffen von Fremdartigem in skurrilen Objekten und Skulpturen der Surrealisten beschreibt. Tony Ourslers „Pop“ von 1998 könnten ebenso für dieses Zusammentreffen stehen wie Errós „La Truite de Schubert or Sonate for Piano and Fisch“ von 1983 und Erwin Wurms „One Minute Sculptures“ (vergleiche dazu https://www.erwinwurm.at/artworks/one-minute-sculptures.html). Im dritten Raum des Erdgeschosses können die Besucher das von André Masson, Yves Tanguy und anderen vorgespielte Schreibspiel „Cadavre exquis“ nachspielen, in dem ein erster Spieler eine Zeichnung oder einen Schriftsatz beginnt, das Blatt umknickt, der zweite weiter zeichnet oder schreibt und so fort (vergleiche dazu https://www.metmuseum.org/art/collection/search/838554 und https://www.zikg.eu/bibliothek/neuerwerbungen/besondere_neuerwerbungen/januar-august-2021-auswahl-besonderer-neuerwerbungen/le-cadavre-exquis-son-exaltation-par-andre-breton). Die von Wolfgang Paalen erfundene „Fumage“ von 1938 ist eine der von den Surrealisten eingesetzten weiteren Techniken des Malens und Schreibens wie die der Frottage, Grattage, Décalcomanie und Oszillation.
Im ersten Obergeschoss werden der fließende Übergang, die Zweideutigkeit in der Verschmelzung konträrer Aspekte und das Spiel mit dem Ich und den Geschlechtern unter der Überschrift „Die grenzlose Metamorphose“ im Paris der 1920er Jahre veranschaulicht. Cindy Sherman, Sarah Lucas, ORLAN oder Penny Slinger stehen repräsentativ für Kunstschaffende, die an ähnlichen Fragestellungen anknüpfen und sich dabei ebenfalls surrealistischer Momente bedienen.
Im zweiten Obergeschoss wird in der schonungslosen Darstellung des Sexuellen der Bruch mit der bürgerlichen Konvention und den christlichen Konventionen unter der Überschrift „Das begehrte Objekt“ vorgeführt. Man Rays Fotografie eines weiblichen Rückenaktes mit aufgemalten f-förmigen Öffnungen, wie bei einer Geige, zählt zu den bekanntesten Arbeiten surrealistischer Kunst. Auch die zergliederten Puppen Hans Bellmers prägen die surrealistische Bildästhetik und dienen in ihrer künstlichen Fetischisierung des Weiblichen bis heute als Bezugspunkt zahlreicher folgender Künstler*innen.
Die satirische und schwindelerregende Videoinstallation „Heaven’s Gate“ des in London lebenden italienischen Filmemachers Marco Brambilla über die Traumfabrik Hollywood sollte man sich als Abschluss und Höhepunkt seines Besuches aufbewahren. Sie „führt den Betrachter durch ein extravagantes Hollywood […]. Brambilla, der für seinen Einsatz digitaler Bildgebungstechnologien bekannt ist, rekontextualisiert populäre Bilder auf eine Weise, die unsere medienüberflutete Gesellschaft kritisch hinterfragt. Es ist ein Werk der digitalen Psychodelik, das die gleiche hochmoderne Computer-Compositing-Technologie verwendet wie die Filme, auf die es sich bezieht“ (Amsterdam Magazin. In: https://www.amsterdamnow.com/de/kultur/marco-brambilla-betovert-nxt-museum-met-zijn-videokunst/).
Im vom Institut für Kulturaustausch, Tübingen zur Ausstellung herausgegebenen opulenten Katalog widmet sich Barbara Martin den surrealen Bildwelten und Kristina Jaspers dem surrealen Horror. Patricia Allner geht den Abstammungslinien und Vermächtnissen des Surrealismus nach und Carolin Wurzbacher führt in die ausgestellten Werke ein. Der Katalog hat die ISBN-Nummer 978-3-7774-4406-2, 192 Seiten und weist 120 Abbildungen in Farbe auf. Er ist gebunden, 28,5 x 25,5 cm groß und kostet in Deutschland 49,90 € und in Österreich 51,30 €.
ham, 31. August 2024