Materiale Textkulturen, Band 41 in der Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933 der Universität Heidelberg

De Gruyter, Berlin/Boston 2024, ISBN 9783111323657, 297 Seiten, 6 schwarz-weiße und 5 farbige Abbildungen, Hardcover, gebunden, Format 24,4 x 17,8 cm, € 89,95

Das von den vier Evangelien Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, der Apostelgeschichte und dem Apostel Paulus überlieferte letzte Abendmahl Jesu hat nicht nur im neunten und elften Jahrhundert nach Christus und in der Reformationszeit zum Streit über die Frage geführt, wie der Leib und das Blut Jesu Christi beim Abendmahl in Brot und Wein anwesend sind – real, verwandelt oder symbolisch –, sondern auch im frühneuzeitlichen, in romanischen Sprachen verfassten Schrifttum über die Eroberung der neuen Welt. So haben der deutsche Landsknecht Hans Staden in seinem Bericht über seine Fahrten in Diensten der portugiesischen und spanischen Eroberer an die brasilianische Küste „Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen…“ von 1557 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Staden) und der französische calvinistische Geistliche, Reisende und Schriftsteller Jean de Léry in seiner 1563 geschriebenen und 1578 im Druck erschienenen „Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil“ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_de_Léry und https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:History_of_a_Voyage_to_the_Land_of_Brazil?uselang=de#/media/File:1578_-_Jean_de_Léry_-_Histoire_d’un_voyage_fait_en_la_terre_du_Brésil,_autrement_dite_Amerique_(p._231).jpg) über die Rituale der brasilianischen Menschenfresser und die damit verbundene Umwandlung in neue Subjekte berichtet. 

Die dort überlieferten Illustrationen und Bildlegenden (vergleiche dazu https://www.zurichstories.org/hans-staden-bei-den-kannibalen-gabrielfaessler/index.html,  https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Hans_Staden?uselang=de#/media/File:Hans_Stade_-_Menschenfresser.jpg und  https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:History_of_a_Voyage_to_the_Land_of_Brazil?uselang=de#/media/File:1578_-_Jean_de_Léry_-_Histoire_d’un_voyage_fait_en_la_terre_du_Brésil,_autrement_dite_Amerique_(p._231).jpg), Paolo Farinatis „Allegory of America“ von 1595 (vergleiche dazu https://www.researchgate.net/figure/Paolo-Farinati-Allegory-of-America-Verona-1595-Feder-und-braune-Tusche-braun-laviert_fig1_380064803) und Jacobus Vitellius’ Zerteilung Martin Luthers unter seinen Anhängern „Anatomia M. Lutheri. Explicatio huius typi“, um 1567, mögen es nahegelegt haben, die schon im 11. Jahrhundert von Berengar von Tours als kruden Realismus gebrandmarkte Vorstellung, dass der Leib Jesu beim Abendmahl mit den Zähnen zermahlt werde, mit dem kannibalischen Essen von Menschenfleisch zu vergleichen und in einer internationalen Tagung am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg aufzuarbeiten. Berengar von Tour vertrat keine transsubstantialistische, sondern eine symbolisch-spiritualistische eucharistische Lehre, nach der Brot und Wein nach der Wandlung der Substanz nach bleiben, was sie waren, und Christus im Abendmahl geistig, aber nicht physisch-dinglich prägend ist.

Stephanie Béreiziat-Lang erinnert in ihrer Einleitung in den die Tagung dokumentierenden Band an Paolo Farinatis „Allegory of America“ und sieht in ihr wie in der Einladung zum Abendmahl ‚Nehmt und esst alle davon‘ eine Hinwendung zum ‚einen‘ Opfer und eine Entsakralisierung der realen und potentiell multiplen Opferszenen am kannibalischen Grill. „Entsakralisierung auch insofern, als die mögliche kulturelle und metaphysische Dimension alternativer, vom Christentum abweichender ‚Riten‘ pauschal abgesprochen wird, wenn der Kannibalismus allein als eine unmenschliche Horror-Praxis dargestellt wird, die es zu überwinden gilt. Potentiell […] hat auch der indigene Kannibalismus etwa der brasilianischen Tupinambá […] durchaus  einen rituellen, gemeinschafts- und erinnerungsstiftenden Aspekt, der sich mit der christlichen Abendmahlsfeier parallelführen lässt. Schon Jean de Léry verweist darauf, dass für die Tupinimbá das Verzehren von Menschenfleisch nicht in erster Linie eine (animalische) Form der sinnlichen Gier darstellt, sondern einem höheren, speziell ‚kulturellen‘ Ehrenkodex gehorcht – ein Kannibalismus also […] nicht ‚so sehr wegen des Geschmacks, sondern vielmehr aus Rache‘ […]. Auch ist bei den Tupinambá – wie in der Eucharistie – die äußere Einverleibung mit einem ›Moment des Verinnerlichens‹ verbunden, das auch das Subjekt entscheidend modifiziert […]. Mit dem Verspeisen des Gefangenen geht bei den Tupinambá auch die Notwendigkeit einher, einen anderen Namen anzunehmen, was Ethnologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits als ›symbolische‹ […] bzw. explizit als ›religiöse‹ […] Manifestationen interpretieren, die im kannibalischen Akt eine ‚Kommunion mit dem Sakralen’ implizerten […]. Wie in der Eucharistie ist die Transformation des Subjekts auch im kannibalischen ‚Ritus’ durch die Namensänderung an einen sprachlich performativen Akt gebunden, der auf eine ‚Wandlung‘ zielt, bei der das Subjekt an dem Einverleibten anteilig wird und über die enge Verbindung zu diesem seine eigene Existenz in Hinblick auf ein Heilsversprechen hin neu perspektiviert“ (Stephanie Béreiziat-Lang, S. 4). 

„Kannibalismus wie Eucharistie sind jeweils Momente der Unmittelbarkeit, die über gustatorische, akustische oder olfaktorische Körperlichkeit transportiert werden und diese Sinne auch beim Rezipienten aktivieren. ‚Kannibalismus‘ kann dadurch als metasprachliche und metakulturelle Figur der Präsentifizierung verstanden werden, die ›diesseits der Hermeneutik‹ kultureller Sinnzusammenhänge bzw. ‚diesseits‘ der Interpretation theologischer und narrativer Logiken funktioniert […]. Durch die Verschiebung auf die konkrete Körperlichkeit bzw. ihre fragmentarischen Zeichen handeln sie auch auf einer Metaebene genau die Kategorien von Realpräsenz, substantieller Wandlung und Materialität aus, ‚wandeln‘ sie und sich und ‚machen sie präsent‘: So bildet der Kannibalismus sozusagen einen somatischen Metakommentar zum Geheimnis des Eucharistischen“ (Stephanie Béreiziat-Lang, S. 8 f.).

„In der Dreieckskonstellation zwischen Indigenen, Katholiken und Reformierten konnte sich die ›Soma-Semiotik‹ der Einverleibung nun in komplexer und flexibler Weise aushandeln lassen, wobei sich die Unterscheidung zwischen zeichenhaften Lesarten der Calvinisten einerseits und dem Tridentinischen Dogma der Transsubstantation andererseits im Verhältnis zwischen ‚realem‘ indigenem Kannibalismus und figurativen Versionen des Einverleiben emblematisch abzubilden scheint. Der indigene Kannibalismus wäre in diesem Sinne der fleischgewordene Literalsinn, hinter dem sich eine allegorische bzw. im Hinblick auf die Eucharistie auch eine anagogische Sinnebene aufmachen kann. Schon im 16. Jahrhundert ist der Kannibalismus damit Teil einer Kulturtheorie, die nicht nur auf die Aushandlung religiöser Zwistigkeiten anzuwenden ist, sondern auch auf einer Metaebene auf die Unabgeschlossenheit von Bedeutungszuweisungen verweist und dabei eine Zeichentheorie zwischen materialer Präsenz und Metaphorisierung entwickelt“ (Stephanie Béreiziat-Lang, S. 12).

Auf dem 1567 publizierten Flugblatt des Jakobus Vitellius opfern die Nachfolger Luthers diesen auf einem Altar, zerteilen ihn und verleiben sich seine Extremitäten und sein Blut lustvoll ein (vergleiche dazu https://www.researchgate.net/figure/Jacobus-Vitellius-Anatomia-M-Lutheri-Explicatio-huius-typi-per-Iacobum-Vitellium_fig2_380064803). „Wie Louise Noble festhält, verdichten sich in dieser Illustration medizinische und religiöse Praktiken […]. Vitus Jacobaeus […] überführt […] die metaphorische ›Einverleibung‹ lutherischer Lehren durch seine Schüler in einen anthropophagen Akt, der auch auf die inneren Widersprüche einer Lehre hinweisen mag, die oberflächlich die fleischliche Präsenz Christi in der Eucharistie leugnet und gleichzeitig ›reveals as a residual Protestant hunger for the real flash and blood of Christ‹ (Noble nach Stephanie Béreiziat-Lang, S. 15). 

„‚Nehmt und esset alle davon‘ – Im übertragenen Sinn lässt sich diese Formel so auch auf die Resemantisierung des ‚Kannibalen‘ selbst übertragen – als eine fleischgewordene Trope, die sich alle Diskurse in flexibler Manier einverleiben können. Die frei zirkulierenden Illustrationen und textuellen Fragmente indigener Bankettszenen und topischer Alteritätsvorstellungen bevölkern das Imaginarium seit Mitte des 16. Jahrhunderts und lassen es zu, dass hinter den multiplen Formen des Einverleiben der ‚real existierende‘ Kannibalismus als Folie hindurchscheint“ (Stephanie Béreiziat-Lang, a. a. O.).  

Der einen klaren Kopf und einen guten Magen voraussetzende und kaum zur Nachtlektüre geeignete Band serviert den Kannibalismus in den Abschnitten Einverleiben, Verkörpern und Verdauen. Er endet mit dem Beitrag ‚Kannibalen der Conquista bezeugt durch Juan José Saer: Indigene Apokalypse und Kolonialismus‘ von Robert Folger. Der in seiner Zeit am höchsten geschätzte, 1937 in Serodina, Santa Fé, Argentinien  geborene und 2005 in Paris verstorbene Schriftsteller Juan José Saer hat im Jahr 1983 mit ‚El entenado‘ (Der Zeuge) eines seiner abgründigsten Werke publiziert (vergleiche dazu https://lateinamerikaarchiv.de/übersicht-bücher-zu-lateinamerika/argentinien/922-saer,-juan-josé-der-fremde-zeuge.html). Sein Protagonist  wird in dem Werk Zeuge einer kannibalischen Orgie:

„Seine Kameraden werden ausgeweidet, zerteilt und wie Vieh auf dem Grill geröstet. Die Indigenen verfallen in einen Fressrausch, der mit exzessivem Alkoholkonsum einhergeht. Dem grausigen Gelage folgt eine Sex-Orgie, in der es zu Sodomie, Inzest und Pädasterie kommt. Viele der Indigenen werden verletzt, verstümmelt oder sterben. Danach verfallen sie in eine melancholische Lethargie. Der entenado ist Zeuge all dieser Geschehnisse. Den Rest des Jahres führen die Indigenen, die Colastiné, ein äußerst genügsames, organisiertes und freudloses Leben, bis sie im darauffolgenden Sommer, so wie jedes Jahr, wieder Jagd auf die Opfer ihres kannibalistischen Festes machen. Sie lassen jeweils eines ihrer Opfer am Leben, das sie, wie auch den entenado, def-ghi nennen. Nachdem die def-ghis das Schlachten und Verschlingen ihrer Kameraden und die darauffolgende Orgie beobachtet haben, werden sie wieder zu ihren Stämmen zurückgeschickt. Der entenado hat aber keinen Stamm, zu dem man ihn zurückschicken könnte. So bleibt er über zehn Jahre bei den Colastiné, bis eine weitere spanische Expedition erscheint“ (Robert Folger, S. 268 f.), Er wird den Spaniern übergeben, lernt in Spanien bei einem Priester namens Quesada Lesen und Schreiben, schreibt seine Geschichte auf, führt sie höchst erfolgreich mit einer Theatergruppe in ganz Europa und sogar vor dem spanischen König auf und übernimmt selbst die Hauptrolle.

„In Anbetracht der Zweifel, die der Erzähler über die Wirklichkeit seiner Erfahrungen nährt, und der onirischen [das heißt der traumgleichen] Qualität der Welt der Colastiné […] kann man diese Welt als einen Spiegel für die Europäer verstehen, so wie auch der entenado eine Art Spiegel für die Colastiné ist. Das Objekt von Saers spekulativer Anthropologie ist nicht die für immer verlorene indigene Wirklichkeit, sondern die Welt der europäischen Eroberer. Die indigenen Coalstiné sind die Gespenster, die mit den Europäern in die ‚Neue Welt‘ kamen. 

Die Obsession der Europäer für den Kannibalismus hat ihren Grund in ihrem eigenen kannibalistischen Begehren und ihrer Gewalt. Die Sorge der Colastiné, ihre Apokalypse abzuwenden, ist eigentlich ein Zerrbild europäischen apokalyptischen Denkens, das eine der Triebfedern des Kolonialismus war und zum tatsächlichen Ende zahlreicher indigener Welten führte, um auf dem postapokalyptischen Trümmerfeld die ‚Neue Welt‘ zu errichten, in die frühneuzeitliche Autoren in einem Prozess der inklusive Exklusion den Kannibalen einschreiben […]. In Saers Perspektive ist Kannibalismus […] kein anthropologisches Phänomen, sondern Ausdruck des Bedürfnisses, auf den Anderen die autophagische Logik zu projizieren, die sich als Begehren, sich die Welt einzuverleiben, manifestiert“ (Robert Folger, S. 278).

ham, 15. August 2024

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