Ausstellungen vom 2. Dezember 2023 bis 14. April 2024 im Kunstmuseum Stuttgart, vom 11. Mai bis 1. September 2024 in den Kunstsammlungen Chemnitz – Museum Gunzenhauser und Publikation
mit Arbeiten der Künstler:innen
Hans Baluschek, Rudolf Bergander, Albert Birkle, Richard Birnstengel, Friedrich Bochmann, Steffi Brandl, Gottfried Brockmann, Friedrich Busack, Heinrich Maria Davringhausen, Erich Drechsler, Kate Diehn-Bitt, Rudolf Dischinger, Otto Dix, Hermann Fechenbach, Conrad Felixmüller, Fred Goldberg, Otto Griebel, George Grosz, Lea Grundig, Hans Grundig, Elsa Haensgen-Dingkuhn, Hainz Hamisch, Olga Hayduk, Nini Hess, Karl Hubbuch, Heinrich Hoerle, Lotte Jacobi, Grethe Jürgens, Alexander Kanoldt, Annelise Kretschmer, Paula Lauenstein, Lotte Lesehr-Schneider, Elfriede Lohse-Wächtler, Jeanne Mammen, Hanna Nagel, Gerta Overbeck-Schenk, Lotte B. Prechner, Anton Räderscheidt, Curt Querner, Christian Schad, August Sander, Josef Scharl, Rudolf Schlichter, Wilhelm Schnarrenberger, Georg Scholz, Alice Sommer, Cami Stone, Erika Streit, Ernst Thoms, Kurt Weinhold, Erik Winnertz, Dörte Clara Wolff [DODO], Richard Ziegler – und Cemile Sahin
Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg gelten als Reformzeit (vergleiche dazu und zum folgenden ›Die Reformzeit um 1900‹. In: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/innenpolitik/die-reformzeit-um-1900.html). Sie waren voller Neuanfang, haben die Grundlagen unserer Demokratien und unseres Sozialwesens gelegt, Industrie und Handel beflügelt, die Akteure über die Grenzen hinweg in Vereinen, Zeitschriften und Konferenzen verbunden, die männliche Vorherrschaft an ihre Grenzen und den Frauen neue Freiheiten gebracht. Künstler und Intellektuelle haben sich von der als konservativ geltenden Kunst und Kultur des Kaiserreichs abgesetzt und eine Vielfalt von Stilen und Formen wie die Berliner Sezession, den Expressionismus, den Impressionismus, die Brücke, den Blauen Reiter und die Abstraktion entwickelt. In zukunftsträchtiger Technologien wie dem Telefon, dem Elektromotor, dem Motorwagen, dem Luftschiff und in der Grundlagenforschung nahm Deutschland eine Spitzenposition ein. Von 42 zwischen 1901 und 1914 verliehenen naturwissenschaftlichen Nobelpreisen ging jeder dritte an einen deutschen Forscher. Man konnte stolz sein und wollte das Erreichte verstetigen.
Als der Erste Weltkrieg ausbricht, wird er nicht nur von Thomas Mann verklärt: „Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden – und eine ungeheure Hoffnung“ (Thomas Mann im Spätsommer 1914. Vergleiche dazu und zum Folgenden: Monika Künzel und Michael Köhler, Kunst und Grauen im Ersten Weltkrieg. In: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kunst-und-grauen-im-ersten-weltkrieg-zerrissen-nach-allen-100.html). Bei Oskar Schlemmer verändert sich Mitte März 1915 der Ton: „Erst ganz Soldat. Gefühl als Teil des Ganzen, Hochgefühl beim Aufmarsch. Selbstbewußtsein gegenüber den Zurückbleibenden. Beschützer, Ausgesandter, Held. Draußen infolge der Strapazen, Materie gegen Geist. Apathische Ergebenheit. Lazarett in Aachen. Menschen-Minderwertigkeiten […], Zerstörungslust an all dem, was vorher angebetet wurde. Verhaltene Lust am Malen, dagegen Leben erhalten, selbst mit schlechten Mitteln.“ Aber der 1916 gefallene Umberto Boccioni kann noch im November 1915 schreiben: „Krieg ist eine schöne, wundervolle, schreckliche Sache! In den Bergen scheint er ein Kampf mit dem Unendlichen zu sein. Größe, Unermeßlichkeit, Leben und Tod! […] Ich bin stolz und glücklich, einfacher Soldat zu sein und ergebener Mitarbeiter am großen Werk: Viva l’Italia“. Dass Thomas Mann in seinen 1914 begonnen ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Betrachtungen_eines_Unpolitischen) das Deutschtum immer noch hochhalten, als „Kultur, Seele, Freiheit, Kunst“ bestimmen und von „Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur“ abgrenzen kann, verwundert dann aber doch (vergleiche dazu https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/betrachtungen-eines-unpolitischen/11378).
Andere haben die Monstrosität des Ersten Weltkriegs mit seinen etwa zehn Millionen toten Soldaten und seiner Vielzahl an Verletzten und Krüppeln als Kulturbruch erlebt und nach neuen Formen der Kunst gesucht. DADA bricht alle bisherige Formen auf und propagiert ein „Narrenspiel aus dem Nichts“: „Was wir Dada nennen, ist eine Art Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind […]. Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde […]. Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit“ (Hugo Ball, vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Dadaismus).
Für Otto Dix war der Krieg in seinen Anfängen noch eine gewaltige Sache, die er auf keinen Fall versäumen wollte: „Man muss den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen“ (Otto Dix, zitiert nach Julia Pohlke, Otto Dix. In: https://www.welt.de/wams_print/article934813/Zeitzeuge-mit-bohrendem-Blick.html). Aber nach seinen expressionistischen, futuristischen und dadaistischen Anfängen zeigt er aber in seinen Soldatenbildern die Zertrümmerung der bisherigen Werte und Identitäten (vergleiche dazu Otto Dix, Die Skatspieler, 1920. In: https://freunde-der-nationalgalerie.de/erwerbung/otto-dix/). Um 1921 kommt er zu einem kritischen Realismus, der altmeisterliche Technik mit beißender Gesellschaftskritik verbindet, und wird zu einem der bedeutendsten Protagonisten der Neuen Sachlichkeit.
Der von dem deutschen Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub 1923 eingeführte und 1925 mit seiner Ausstellung gleichen Namens in der Kunsthalle Mannheim belegte Begriff ›Neue Sachlichkeit‹ ist zum Synonym für die in Kunst, Architektur und Literatur zu beobachtende Rationalität und sachliche Präzision geworden, die in der Weimarer Zeit als Reaktion auf die politischen und sozialen Umwälzungen aufgenommen waren. Die Maler der Neuen Sachlichkeit „›wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst‹, so Otto Dix […]. Ihre Werke zeichneten sich – als Gegenströmung zum Expressionismus – durch eine möglichst wirklichkeitsgetreue, detailgenaue Wiedergabe der Realität aus; ein strenger Bildaufbau, eine überscharfe Zeichnung mit Dominanz der Linie und eine exakte, an altmeisterlicher Malerei orientierte Technik waren dabei ihre stilistischen Kennzeichen. Bevorzugte Genres waren Stillleben, (Groß-)Stadt- und Architekturbilder sowie Porträts, in denen häufig ein moderner Typus Frau auftrat, die emanzipierte ›Neue Frau‹ mit Bubikopf und Zigarette. Eine besondere Faszination übte zudem die Welt der Technik aus“ ⟨(Stefanie Gommel, Neue Sachlichkeit. In: https://www.hatjecantz.de/blogs/kunstlexikon/neue-sachlichkeit. Vergleiche dazu auch den Artikel Neue Sachlichkeit (Kunst) in https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Sachlichkeit_(Kunst)⟩.
Die Stuttgarter Ausstellung ›Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit‹ diskutiert die in der Neuen Sachlichkeit propagierte Typisierung des Menschen anhand von äußerlichen Merkmalen. Sie geht auf die Konstitutionslehre des Tübinger Psychiaters Ernst Kretschmer (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Konstitutionspsychologie) und den in Stuttgart praktizierenden Arzt und Schriftsteller Gerhard Venzmer zurück, der Kretschmers Konstitutionslehre in seinem 1930 in der Franckh’schen Verlagshandlung veröffentlichten Ratgeber ›Sieh Dir die Menschen an! Was uns die biologische Verwandtschaft zwischen Körperform und Wesenskern des Menschen verrät‹ popularisierte. „Die Versachlichung der Motive, das auffälligste Charakteristikum der Neuen Sachlichkeit, führte im Bereich des Bildnisses zu einer in der Regel distanzieren Wiedergabe der porträtierten Person. An die Stelle von Gefühlsregungen traten schablonenhaft unbewegte bzw. durch das Stilmittel der Karikatur überzeichnete Gesichter und Figuren. Die individuelle Physiognomien wurden zwar festgehalten, allerdings rückten die Künstler:innen das Typische einer Person in den Vordergrund und zeigten diese in ihrem sozialen Umfeld und als Vertreter einer gesellschaftlichen Gruppe und Rolle“ (Anne Vieth im Katalog S. 19).
Viele neusachliche Künstler:innen griffen für Bildnisse von Intellektuellen auf den leptosomen Typ zurück, der unter anderem von Venzmer als ›hager, mit länglicher Gesichtsform, langen, dünnen Gliedmaßen und wenig entwickelter Muskulatur‹ beschrieben wurde. „Seine Wesensart sei geprägt von ›Phantasie, Grübelei, Empfindsamkeit und dem der Analyse zugeneigten Denken‹ […]. Otto Dix’ (1891 – 1969) Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden (1926, vergleiche dazu https://www.centrepompidou.fr/en/ressources/oeuvre/K0UjNMr) ist eines der bekanntesten neusachlichen Porträts eines ›Gedankenmenschen‹. Es schildert die Journalistin in einem Café sitzend mit Monokel, Zigarettenspitze, Kurzhaarfrisur und schlichtem Hängekleid. In ihrer schlankwüchsigen, androgynen Gestalt verkörpert sie nicht nur das Klischee einer Intellektuellen, sondern auch das Bild einer emanzipierten Frau der 1920er-Jahre. Otto Dix soll zu ihr gesagt haben: ›Ich muß Sie malen! Ich muß! Sie repräsentieren eine ganze Zeitepoche‹. Darin kommt zum Ausdruck, was die neusachlichen Maler:innen am Typenbildnis faszinierte. Zugleich verdeutlicht das Zitat die Ambivalenz dieses Sujets, denn die Künstler:innen reproduzierten als ›Kinder ihrer Zeit‹ stereotypische Vorstellungen von Menschen. In seinem Porträt Silvia von Harden hielt Dix in der gemalten Physiognomie auch die Homosexualität (ein beliebtes Verweisstück war das Monokel) und jüdische Herkunft (die betont lange Nase) der Journalistin fest. In den Werken von Otto Dix treten derartige Charakteristika besonders deutlich zum Vorschein, da er in vielen seiner Bilder die Gesichtszüge und den Körperbau übertrieben wiedergab, teilweise sogar ins Groteske überspitze“ (Anne Vieth, a. a. O. S. 21).
Die Ausstellung will zu einer eingehenden Beschäftigung mit gesellschaftlichen Stereotypisierungen anregen und mit der eigens für die Ausstellung geschaffenen Installation Alpha Dog (2023) fragen, ob sich die Klassifizierungen und Typisierungen der 1920er Jahre nicht in den heutigen computerbasierten Gesichtserkennungstools wiederholen und zu einer Art programmiertem Rassismus führen.
Der 2023 bei Hatje Cantz in Deutsch und Englisch erschienene Katalog wurde von Ulrike Groos, Dierk Höhne, Anja Richter, Anne Viet herausgegeben. Er enthält Texte der Autor:innen Jan Bürger, Alina Grehl, Anna Katharina Hahn, Christin Hansen, Erik Koenen, Nadine Metzger, Anne Vieth und Nils Warneck, hat die ISBN 978-3-7757-5600-6, 304 Seiten, 180 Abbildungen, einen 3-seitig beschnittenen Pappband, ist 30 x 23 cm groß und kostet in den Ausstellungen 40,00 € und im Buchhandel 54,00 €.
ham, 5. Dezember 2023