Publikation zum gleichnamigen Ausstellungsprojekt vom 13. März bis 18. Dezember 2016 in acht
evangelischen und katholischen Kirchen und dem Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in Berlin, dem
Lutherdenkmal in Eisenach und der Erlöserkirche in Jerusalem. Herausgegeben von Alexander Ochs, Georg
Maria Roers SJ und Katja Triebe mit Texten von Johann Hinrich Claussen, Joachim Hake, Michaela Kühn,
Wolfgang Schmidt, Raphael Weichlein, Petra Zimmermann und den Herausgebern
Kerber ART, Kerber Verlag, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-7356-0362-3, 200 Seiten, 92-farbige Abbildungen,
Hardcover, gebunden, Format 25,5 × 19,8 cm, € 35,00 (D) / € 36,00 (A) / CHF 42,70
Sich als autonom verstehende zeitgenössische Kunst konnte man in den letzten 50 Jahren unter anderem in
der evangelischen Kirche Öflingen, der Gnadenkirche in Hamburg, dem Großmünster in Zürich, in St. Peter
in Köln, in St. Matthäus in Berlin und in der Hospitalkirche Stuttgart finden. Mit der 2015 von Alexander
Ochs kuratierten Ausstellung Du sollst dir (k)ein Bild machen ist der Berliner Dom als Ausstellungsort
hinzugekommen. Die von geschätzten 60 000 Besuchern aufgesuchte Ausstellung, die überwiegend
begeisterten Rückmeldungen der Künstler und der Besucher und das bevorstehende 500-jährige
Reformationsjubiläum mögen den Ausstellungsmacher Ochs dazu bewogen haben, Mitstreiter für seine Idee
zu gewinnen, in einer Reihe von Ausstellungen in Kirchen, einer Synagoge und auf einem öffentlichen Platz
über die Frage nachzudenken, ob Berlin heute eher als atheistische Kapitale oder vielleicht doch auch als
weltoffener spiritueller und kultureller Melting Pot angesehen werden kann. In Berlin leben derzeit 3,5
Millionen Menschen aus über 180 Nationen. Von den Einwohnern bezeichnen sich knapp 60 Prozent als
religionslos. Etwa 943 000 Berliner gehören den beiden großen christlichen Kirchen und circa 90 000
anderen christlichen Gruppierungen an. Geschätzte 249 000 sind Muslime, 11 000 zählen zur Jüdischen
Gemeinde und 6500 zum Buddhismus. Dazu kommen Hindus und andere. Insgesamt rechnet man mit rund
250 Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.
Neun Kirchen, eine Synagoge und ein Stadtplatz in Berlin, Eisenach und Jerusalem haben ihre Türen für die
13 Ausstellungen des Projekts Sein.Antlitz.Körper (vergleiche dazu unter anderem http://sein-antlitzkoerper.
de/dokumentation-sein-antlitz-koerper/, abgerufen am 5. 6.2017) aufgeschlossen. Die über 100
Künstlerinnen und Künstler aus Korea, Israel, Polen, Japan, Syrien, Deutschland, Italien, Mexiko und
Vietnam spiegeln die heutige weltanschauliche Pluralität. Die meisten von ihnen sind keine Christen, sie
besuchen keine Gottesdienste. „In ihren Ateliers […] entsteht Kunst, die nicht christlich ist, die von keinem
Auftrag ausgeht, die nicht heilig ist: Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere“ (Alexander Ochs S.
29). Gleichwohl rechnet Ochs mit der Spiritualität der Künstler und damit, dass ihre Kunstwerke
Unsichtbares sichtbar machen und Räume der Transzendenz und Kontemplation öffnen: „Nun stellen Sie
sich vor, die Christen, diejenigen ❲,❳ die Sonntag für Sonntag ihre Kirche besuchen, sehen sich konfrontiert
mit einer Kunst in Zeitgenossenschaft, einer Kunst, die sie oft nicht kennen, einer Kunst, die ihnen fern
geblieben ist bis dahin. Und natürlich erleben manche die Kunstwerke als Fremde, als Eindringende, als
Aggression in der scheinbar friedlichen Welt einer Kirche am Sonntagmorgen. Es entsteht Reibung im besten
Sinne, Reibung zwischen Welten, die doch aus einer Welt kommen und in den sakralen Bauwerken
temporäre Heimat finden, sich oft eingliedern, gar fusionieren. Es entsteht gefühlter Raum, innerer Raum,
Reflexionsraum, entsteht Gespräch, Streit, Diskurs, Übereinkunft, Konkurrenz, Harmonie. Es entsteht
Kommentar, Bereicherung, neuer Reichtum. Die Kunst gibt den Kirchen Prächtigkeit zurück. Und oft eine
Möglichkeit der Rückkehr, der Reflexion; ohne ihre Eigenständigkeit zu ändern kommt die Kunst zurück,
zurück an den Ursprung ihrer spirituellen Wurzel. Und so öffnen sich neue Räume, fast unsichtbar, Räume
der Transzendenz und Kontemplation, Räume des Fühlens und der Intuition“ (Alexander Ochs S. 29).
Der für die Reihe gewählte und für die als Bilder- und Lesebuch konzipierten Publikation übernommene
Titel Sein.Antlitz.Körper unterstreicht die über die weltanschauliche Differenzen hinausgehenden
Gemeinsamkeiten: „Wir hatten uns aufgefordert, Kunst zu zeigen, zeitgenössische Kunst, die diese Welt
nicht illustriert und kommentiert, sondern in ihrer Eigenständigkeit Teil dieser eigenen Welt ist. Wir sahen
uns um in dieser Welt und entdeckten als Gemeinsamkeit ein über die menschliche, immer prekäre, immer
bedrohte Existenz hinaus gehendes SEIN. Alle Menschen haben einen KÖRPER, einen satten oder einen
hungrigen, einen spirituellen oder korrumpierten – und ein Gesicht. Kein millionenfach entpersonifiziertes
face, nein, ein ANTLITZ, eine jedem Menschen eigene Würde. Und ein Antlitz, in dem sich als Gegenüber
manchem von uns Gott zeigt“ (Alexander Ochs, Georg Maria Roers SJ, Katja Triebe S.7). Die in dem Band
publizierten Essays reflektieren unter anderem die Frage, ob die Besucherinnen und Besucher der
Ausstellungen mehr Flaneure oder Pilger oder beides zugleich gewesen sind (Johann Hinrich Claussen), wie
Kunst einen Kirchenraum und wie ein Kirchenraum die Wahrnehmung von Kunst verändert (Georg Maria
Roers / Katja Triebe) und warum sich das Leitmotiv Sein.Antlitz.Körper erstaunlich präzise in die
Überlegungen des Philosophen Emmanuel Levinas fügt: „Blicken wir noch einmal auf Emmanuel Levinas.
Die Idee des Unendlichen, die im körperhaften Antlitz widerscheint, deutet auf eine Spur. Eine Spur, die auf
das Jenseits, auf ein Anderswo ausgerichtet ist oder von diesem herkommt. ›Das Wunder des Antlitzes rührt
her vom Anderswo, von wo es kommt und wohin es sich auch schon zurückzieht‹“ (Raphael Weichlein /
Emmanuel Levines S. 131). Petra Zimmermann reflektiert in ihrer Predigt vom Sonntag Judika (nicht vom
Sonntag Judoka, wie es in dem Band heißt!) im Berliner Dom über die dort gezeigten Arbeiten von Leiko
Ikemura und Micha Ullmann und über die Musik von Dieter Schnebel und Wolfgang Schmidt am
Reformationstag 2016 in der Erlöserkirche von Jerusalem über eine Arbeit von Brigitte Waldach und eine
halbfertige Installation aus Basalt und Salz von Micha Ullmann: Der israelische Zoll hatte das Salz
beschlagnahmt, das aus den Salzbergwerken Thüringens, der alten Heimat der Ullmanns, stammt.
Joachim Hake schließlich skizziert, warum in der 12. Ausstellung der Reihe in der neugotischen Kirche St.
Pius in Berlin Teppiche, Gebets- und Klangteppiche unter anderem von Joachim Hake / Thomas Henke,
Christina Campo und Armin Lindauer zu finden waren und was das mit den weißen Schleifenzeichnungen
von Peter Riek zu tun hat: Auf „dem Fußboden finde ich eine Installation des in Heilbronn lebenden
Künstlers Peter Riek. Neun rechteckige Platten von hellgrauer Auslegeware, die durch weiße
Schleifenzeichnungen kunstvoll miteinander verbunden sind. Am Rande des grauen Teppichfeldes und dieses
überlappend liegen kleine tibetische und ein muslimischer Gebetsteppich und […] einige farbige
Meditationskissen […]. Die Teppichboden-Platten zitieren die Station der bisherigen Ausstellungsorte. Dort
zeichnete Peter Riek mit Kreide einzelne Schlaufen auf die Böden. Jede Zeichnung zeigt ihre flüchtige
Fremdheit im Moment des Entstehens. Und nur die Fotografien dieser Arbeiten, gebannt auf jene
Auslegeware, verbleiben als Zeugnis. Zusammengelegt werden die einzelnen Teppichstücke hier zur
Installation. Die Schleifenzeichnungen binden sie in zufälliger und doch irgendwie geordneter Folge
aneinander. Bei diesen Schleifen wurde Riek von den Spruchbändern hochmittelalterlicher Malereien
inspiriert, jenem textil anmutenden Offenbarungmittel“, ›das das nicht fassbare Göttliche‹ in das Irdisch –
Erdige transformieren soll (Joachim Hake / Peter Riek S. 165). Der Gestalter Frederik Foert hat diesen
Gedanken aufgegriffen und zwölf Kapitel des Bandes mit zwölf Fotografien von Kreidezeichnungen von
Peter Riek verbunden.
ham, 5. Juni 2017