Nov 4

Sachlich neu.

Von Helmut A. Müller | In Katalog, Kunst

Fotografien von August Sander, Albert Renger-Patzsch & Robert Häusser

Herausgegeben von Claude W. Sui und Wilfried Rosendahl mit Beiträgen von Inge Herold, Klaus Honnef, Claude W. Sui und einem Vorwort von Wilfried Rosendahl und Claude W. Sui

Band 100 der Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen

Forum Internationale Photographie (FIP)

Hirmer Verlag, München, 2024, ISBN: 978-3-7774-4436-9, 168 Seiten, 140 Abbildungen in Farbe, Hardcover, gebunden, Format 25,5 x 22,5 cm, € 39,90 (D)/€ 41,10 (A)

2025 jährt sich die vom damaligen Direktor der Mannheimer Kunsthalle Gustav Friedrich Hartlaub (1884 – 1963) ‚Neue Sachlichkeit‘ benannte Ausstellung zum 100. Mal. Aus diesem Anlass präsentieren die Reiss-Engelhorn-Museen mit dem Forum Internationale Photographie die Sonderausstellung ‚Sachlich neu‘. Im zur Ausstellung erschienenen, aufwendig gestalteten und hervorragend gedruckten gleichnamigen Katalog geht die stellvertretende Direktorin der Kunsthalle Mannheim Inge Herold der Entstehungsgeschichte der legendären Ausstellung nach, die zwar in Mannheim mit 4405 Besuchern kein großer Publikumserfolg geworden ist, aber in der Presse weitgehend positiv rezensiert wurde, anschließend nach Dresden, Chemnitz, Erfurt und Dessau gewandert ist und dadurch überregional bekannt wurde. Ankäufe aus der Ausstellung haben die Kunsthalle Mannheim nicht nur zu dem Ort gemacht, an dem die ‚Neue Sachlichkeit‘ erstmals museal gewürdigt worden ist, sondern auch früh die Sammlungsentwicklung geprägt hat.

Für den Kunsthistoriker und Fotografietheoretiker Klaus Honnef entwerfen fotografische Bilder bestimmte Vorstellungen vom Menschen, die das jeweilige Ich, das fotografiert wurde, in den unsichtbaren Rahmen eines gesellschaftlichen und kulturell vermittelten Menschenbilds der Zeit stellen, in der sie aufgenommen wurden. August Sander (1876 – 1964; vergleiche dazu https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/august-sander/DE-2086/lido/57c94223e30598.42372298) wurde ohne sein Zutun in den Kontext des Ersten und Robert Häusser (1924 – 2013, vergleiche dazu https://www.abebooks.co.uk/signed/Photographische-Bilder-Werkübersicht-Jahre-1941-1987-Häusser/30969600602/bd#&gid=1&pid=1) in den des Zweiten Weltkriegs hineingezwängt. Beide haben den Zusammenbruch verbindlicher Maßstäbe, Normen und Strukturen am eigenen Leib erlebt und damit das Verschwinden der ‚bürgerlichen Welt‘. In ihren Porträts spiegelt sich diese veränderte Wirklichkeit in unterschiedlicher Weise wider. „Bei Sander wechseln sich nur rechteckige Hoch- und Querformate ab, bei Häusser kommt noch die quadratische Bildform hinzu. Der äußerliche Unterschied greift indes auch in das ein, was sich auf der Binnenfläche der Bilder abspielt. In Häussers Porträts zeichnet sich eine erheblich vielfältigere Variation in puncto Hintergrunds-Szenerie, Pose der Fotografierten, Blickwinkel der Kamera und auch der Gestik ab als bei Sander. Doch gemeinsam ist ihnen wiederum die sachliche Distanz, die sie gegenüber ihren Modellen und den Bildbetrachtern wahren. Verstärkt wird dies durch die betonte Inszenierung des Porträts, wobei sich Sander in erster Linie auf die Haltung der fotografierten Menschen konzentriert, während Häusser dem Ambiente der Menschen vor seiner Kamera eine gesteigerte Aufmerksamkeit widmet“ (Klaus Honnef, S. 17 f.; vergleiche dazu https://md20jh.augustsander.org/motives/view/142 und https://www.doebele-kunst.de/de/artists/robert_haeusser/works/insel-reichenaubodensee-laendlicher-alltag).

Nach dem Kunstgeschichtler und Leiter des Forums Internationale Photographie Claude W. Sui hat es Häusser verstanden, beim Fotografieren eine Beziehung der Intimität und des Vertrauens zwischen dem Fotografen und dem Fotografierten herzustellen. „Häusser vermag es, den Moment einer unverschleierten Offenheit des Menschen festzuhalten und in zurückhaltender Sachlichkeit Wesenszüge in einer unverfälschten Direktheit transparent werden zu lassen. Dies erreicht der Fotograf in einfühlsamer Weise, indem der Mensch in seiner vertrauten Umgebung, in seinem Milieu und Arbeitsfeld dokumentiert wird. Neben den Künstlerporträts sind es Menschen und Randgruppen der Gesellschaft, die nicht sensationsheischend, sondern in einer gewissen Distanz  und in respektvoller Würde fotografiert werden“ (Claude W. Sui, S. 26). 

Sander, Renger-Patzsch und Häusser haben gleichermaßen Natur- und Landschaftsräume fotografiert. Allen dreien ist eine stilistisch klare Bildordnung gemeinsam(vergleiche dazu https://www.mittelrhein-museum.de/august-sander-das-gesicht-der-landschaft-rheinland-und-siebengebirge/https://www.artnet.com/artists/albert-renger-patzsch/apulia-DYK8cbytFAXK0LqZoPI0Xg2 und https://www.doebele-kunst.de/de/artists/robert_haeusser/works/angeln-am-lampertheimer-altrhein). „Auffällig sind Korrespondenzen zwischen Sanders und Häussers Auftragsarbeiten, bei denen der Himmel mit stimmungsvollen oder dramatischen Wolken ‚beseelt‘ ist. Der Einsatz von gesteigerten Lichtstimmungen verwandelt in plastischer Weise Hügel, Wiesen, Flüsse und Gebirgsketten, sodass sich der Naturraum zu einem emotionalen Naturschauspiel verwandelt. Dagegen haben die Landschaftsräume aus Häussers sogenannten ‚Künstlerischen Werken’ eine größere Affinität mit Renger-Patzschs Landschaften, in denen grafische Lineamente von Pfaden, Weinberghängen, Tälern, Bäumen, Pflanzen vor einem meist monochrom-hellen, oder bei Häusser auch dunklen Himmel […] zu abstrakten, mit Licht modellierten Gebilden aus dem ursprünglich größer zu sehenden Bildmotiv durch den Bildausschnitt gefiltert und verdichtet werden“ (Claude W. Sui, S. 28).

Albert Renger-Patzschs wie auch Robert Häussers Industrieaufnahmen zeichnen sich durch ihre präzisen Kompositionen und ihre Betonung der Formen, Strukturen und Geometrie oder ungewöhnliche Perspektiven aus (vergleiche dazu https://www.getty.edu/art/collection/object/104JST). Dem starren Liniengefüge moderner Technik, dem luftigen Gitterwerk der Krane und Brücken und der Dynamik 1000pferdiger Maschinen werden nach Ringer Patsch wohl nur Fotografien gerecht. Häusser hat seine Aufnahmen immer wieder in mitunter tagelanger Feldforschung analysiert, bis das Außenbild mit dem Innenbild kongruent wurde und eine Einheit gebildet hat (vergleiche dazu https://www.doebele-kunst.de/de/artists/robert_haeusser/works/karlsruhe-steinkohlehalde-im-rheinhafen-dampfkraftwerk und https://photography-now.com/exhibition/88138). „Die Dinge ringsum, die eigentlich ‚fotogen‘ sind, interessieren mich eigentlich nicht […]. Deswegen setze ich mich mit einer Sache manchmal Tage, manchmal Wochen auseinander. Ich gehe auch immer wieder hin, ich sehe mir die Geschichte in dieser Atmosphäre oder in jener an, in diesem Licht oder jenem, ich überleg mir sehr genau den Standpunkt, Perspektive und all die Dinge, aber nur, um den Inhalt deutlich zu machen, das, was ich sagen will“ (Robert Häusser nach Claude W. Sui, S. 30). 

Häussers Bilder weisen eine Nähe zur Neuen Sachlichkeit, zum Magischen Realismus, zum Surrealismus und auch zur ‚Subjektiven Fotografie’ der 1950er Jahre auf, aber sie gehen in ihrem philosophischen und symbolischen Gehalt weit über eine rein formale Behandlung ihrer Gegenstände hinaus und sprechen oft von Melancholie, Einsamkeit und Vergänglichkeit. Man spürt ihnen das Trauma des Leidens seiner Familie in der Zeit des Nationalsozialismus ab und den Entschluss, 1952 die Landwirtschaft und das Bauernhaus in der Mark Brandenburg aufzugeben, völlig mittellos aus der Ostzone zu fliehen und sich in Mannheim eine neue Existenz aufzubauen (vergleiche dazu https://photography-now.com/exhibition/72534).

„Vom Abbild zum Sinnbild, vom Sinnbild zum Meta-Bild, hintergründig, abgründig, das Unsichtbare sichtbar, das Sichtbare durchsichtig werden zu lassen, ist Häussers Credo“ (Claude W. Sui, S. 33). 1995 erhält Robert Häusser den ‚Internationalen Preis für Fotografie‘ der in Schweden ansässigen Erna und Viktor Hasselblad-Foundation, den ‚Nobelpreis‘ für Fotografie.

ham, 4. November 2024

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller