Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer

Carl Hanser Verlag, München 2010, ISBN 978-3-446-23296-9, 332 Seiten, Hardcover gebunden mit
Schutzumschlag, Format 20,8 x 13,5 cm, € 24,90

Die in 1. Mose 2, 4b -24 überlieferte ältere der beiden biblischen Schöpfungsgeschichten hat Generationen
von Rabbinern, Schriftgelehrten, Theologen, Philosophen, Künstlern, Kultur- und Naturwissenschaftlern und
Literaten beschäftigt und ihr Nachdenken über das Wesen des Menschen und das Paradies beflügelt. Ihre
Auseinandersetzung mit der Schöpfungsgeschichte konnte den Regeln der theologischen Schriftauslegung
folgen, musste es aber nicht. Die Alternative war und ist die wilde Exegese. Unter wilder Exegese kann man
mit Joachim Scharfenberg eine Literaturgattung verstehen, die der Theologie „von außen her den
Alleinvertretungsanspruch auf ihre Quellen“ bestreitet und die Bibel „auf elementare Weise, ohne Rücksicht
auf die Kunstregeln theologischer Schriftauslegung“ entdeckt und auslegt (Joachim Scharfenberg 1972,
zitiert nach Holger Saal, Das Symbol als Leitmodell für religiöses Verstehen, Göttingen 1995, S. 73). Der bis
2010 in Stanford lehrende amerikanische Romanist und Kulturphilosoph Robert Harrison setzt in seiner
Annäherung an den biblischen Garten Eden auf eine existentialistisch angehauchte wilde Exegese. Demnach
ist weder die Geschichte, das, was unter der Sonne passiert, gut, noch die Schöpfung, wie in 1. Mose 1
behauptet, gut oder sogar sehr gut. „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe es war sehr
gut“ (1. Mose 1, 31). Gut ist und glücklich macht nur das, was der Mensch in der Sorge um sich selbst aus
sich und seiner Welt macht.

Nach Harrison wilder Exegese war das Leben im Garten Eden für Adam und Eva nicht einfach
„menschliches Glück in seinem vollendeten Zustand“ (Robert Harrison S. 13), sondern Vorverurteilung zur
Langeweile. Der Schöpfer von Himmel und Erde erschuf „einen naiven, begriffsstutzigen Adam, und setzte
ihn in den Garten Eden, vermutlich damit Adam den Garten »hüten« könnte, aber (den Umständen nach zu
urteilen) eher zu dem Zweck, ihn von der Wirklichkeit der Welt abzuschotten, wie es Eltern manchmal mit
ihren Kindern zu tun pflegen. Hätte Gott Adam und Eva zu Hütern des Gartens machen wollen, dann hätte er
sie zu Verwaltern machen sollen“ (Robert Harrison S. 22). Das „Bebauen und Bewahren“ aus 1. Mose 1, 15,
das nach der allgemein geteilten theologischen Exegese in genau diesem Sinne gemeint ist, wird von
Harrison bewusst übergangen: „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden,
dass er ihn bebaue und bewahre“. Aber das hält ihn nicht weiter auf; ihm liegt daran, dass Adam und Eva zu
„Nutznießern“ des Gartens geschaffen wurden und damit „der Verpflichtung enthoben waren, die einen
Gärtner dazu antreibt, seinen oder ihren Garten zu bestellen. Es sieht so aus, als sei es gerade diese
übermäßige Fürsorglichkeit Gottes gewesen, die dazu führte, dass sich Adam und Eva völlig schutzlos sahen,
als es um die Schmeicheleien der Schlange ging. Mochte Gott auch die besten Absichten gehabt haben, es
war ein Mangel an Voraussicht auf seiner Seite (ein Mangel der Gartenpflege sozusagen), als er annahm,
dass Adam und Eva zu Verwaltern des privilegierten Ambientes von Eden werden könnten, wenn er, Gott,
solche Mühe darauf verwendete, seinen Geschöpfen jegliche Sorge abzunehmen“ (Robert Harrison S. 22).
Was Gott in seiner fürsorglichen Vorsehung nicht geschafft hat, bringt Eva in einem Augenblick zuwege. Sie
wird, als sie zur verbotenen Frucht greift, zur Urmutter der Natalität (Hanna Arendt). Damit setzt sie „neue
Anfänge durch menschliches Handeln“ in Gang (Robert Harrison S. 31). „Es war an sich schon ein Akt der
Mutterschaft, denn durch ihn gebar sie das sterbliche menschliche Ich, das sein Potential in der Entfaltung
der Zeit verwirklicht, sei es durch Arbeit, durch Fortpflanzung, durch Kunst oder durch die Versenkung ins
Religiöse […]. In Eden waren Adam und Eva in gewisser Hinsicht blind für die Welt. In einem Augenblick
ändert Eva das, und auf einmal wird sie ganz Auge“ (Robert Harrison S. 32 ff.).

Harrison kleidet seine alternative Version vom Wesen des Menschen in die die biblische
Schöpfungsgeschichte gräzisierend abwandelnde Fabel von der Erschaffung des Menschen durch die Göttin
Cura. „Als einst die Sorge über einen Fluss ging, sah sie tonhaltiges Erdreich: sinnend nahm sie davon ein
Stück und begann es zu formen. Während sie bei sich darüber nachdenkt, was sie geschaffen, tritt Jupiter
hinzu. Ihn bittet die Sorge, dass er dem geformten Stück Ton Geist verleihe. Das gewährt ihr Jupiter gern.
Als sie aber dem Gebilde nun ihren Namen beilegen wollte, verbot das Jupiter und verlangte, dass ihm sein
Name gegeben werden müsse. Während […] die Sorge und Jupiter stritten, erhob sich auch die Erde
[…]und begehrte, dass dem Gebilde ihr Name beigelegt werde, da sie ja doch ihm ein Stück ihres Leibes
dargeboten habe. Die Streitenden nahmen Saturn zum Richter. Und ihnen erteilte Saturn folgende
anscheinend gerechte Entscheidung: »Du, Jupiter, weil du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den
Geist, du, Erde, weil du den Körper geschenkt hast, sollst den Körper empfangen. Weil aber die Sorge dieses
Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die Sorge es besitzen. Weil aber über den Namen Streit
besteht, so möge es ›homo‹ heißen, da es aus ›humus‹ (Erde) gemacht bist«“ (Nach Robert Harrison S, 19
f.).

Der Mensch ist also in der Folge nur dann bei sich selbst, wenn er sich um seine Angelegenheiten sorgt,
seinen Garten und seinen Geist pflegt und sich von dem Medusenhaupt der Geschichte, ihrem Wüten, ihrem
Tod und ihrem endlosen Leiden nicht versteinern lässt. Auf „unserer Abneigungen dagegen, uns von den
Realitäten der Geschichte versteinern zu lassen, baut ein großer Teil der Dinge auf, die das menschliche
Leben erträglich machen: unsere religiösen Antriebe, unsere poetische und utopische Phantasie, unsere
moralischen Ideale, unsere metaphysischen Projektionen, unser Geschichtenerzählen, unsere ästhetischen
Verwandlungen des Wirklichen, unsere Leidenschaft für Spiele, unsere Freude an der Natur“ (Robert
Harrison S. 9). Die von ihm für das Wesen des Menschen als zentral erachtete Sorge sieht Harrison mit am
besten in der von Platon nach der Hinrichtung seines Lehrers Sokrates „in einer gartenartigen Umgebung
vor den Stadtmauern“ von Athen aufgebauten Akademie und noch deutlicher in der Gartenschule von Epikur
abgebildet. Letztere verspricht, die Sorge in ataraxia, wörtlich in „Unerschütterlichkeit“ zu verwandeln.

„Im Jahr 306 v. Chr. […] schlug in Athen ein erklärter Feind der Platoniker seinen Wohnsitz auf und fing
sozusagen an, seinen Garten zu bestellen. Der damals dreißigjährige Epikur, Athener von Geburt, aber Ionier
durch Erziehung und Temperament, erwarb ein Haus in dem vornehmeren Bezirk Melite sowie ein kleines
Gartengrundstück unmittelbar vor dem Dipylon-Tor, an der Straße, die auch zur Akademie Platons führte.
Wir wissen, dass ihn der Garten nur 80 Minen kostete, das waren 20 Minen weniger als der Betrag, den der
Sophist Gorgias üblicherweise von seinen Schülern für den Unterricht eines Jahres forderte. Dass das
Grundstück klein war, wird durch verschiedene zeitgenössische Verweise […] bestätigt. Doch in diesem
kleinen Garten schlug eine der erfolgreichsten Schulen der Geschichte Wurzeln und verbreitete sich über die
alte Welt, in der sie über sieben Jahrhunderte lang unter heidnischen wie christlichen Völkern in Blüte stand
[…]. Das höchste Ziel der epikureischen Bildung war nicht die Erlangung von Weisheit oder Gerechtigkeit
sondern von Glück. Epikur verstand Glück als eine Geistesverfassung und glaubte, es bestehe in erster Linie
aus ataraxia, was wir mit »Seelenfrieden« oder »geistiger Ruhe« wiedergeben […]. Diese ataraxia ist nun
für Menschen, die üblicherweise von Sorgen geplagt werden und von einem gesteigerten Bewusstsein für
den Tod […], kein spontaner oder »natürlicher« Zustand […]. Somit ist ataraxia in Wirklichkeit eine höchst
kultivierte Geistesverfassung, eine, zu deren Erlangung es systematischer Disziplin, Erziehung und
bedingungslose Hingabe an die »wahre Philosophie« des Epikureismus bedarf“ […]. Die „erste Aufgabe des
Schülers bestand darin, sich ein vollständiges Verständnis der Axiome der epikureischen Lehre anzueignen
[…]. »Der Glaube an die Sicherheit des Wissens« sei, so behauptete Epikur, das beste Gegenmittel gegen
menschliche Angst […]“ und das mit dem Tod verbunden Unbekannte. Die menschliche Seele sei sterblich
und über den menschlichen Angelegenheiten walte keine göttliche Vorsehung. Dadurch, dass der Mensch
„an der Gewissheit festhält, dass die Seele aus Atomen zusammengesetzt ist und sie daher nach dem Tod
kein geisterhaftes Nachleben erwartet, kann der Epikureer damit beginnen, Befürchtungen über den Tod
abzulegen und dessen Unvermeidlichkeit auf die kosmische Ordnung zurückführen“ (Robert Harrison 108
ff.). Im täglichen Umgang mit dem Garten lernt der Schüler, sich auf das kosmische Stirb und Werde
einzulassen und seine Angst mehr zu verwandeln als zu überwinden, „so wie Gärten – wenn sie gut angelegt
sind – die Natur eher verwandeln als überwinden“ (Robert Harrison S. 113).

Boccaccios im Decameron für Pestzeiten erzählte Gartengeschichten gehören für Harrison zu den
„elegantesten Äußerungen des Epikureismus in seiner echten neuzeitlichen Form“ (Robert Harrison S. 126).
Ihnen ist wie auch Eva, Platon und Epikur ein eigenes Kapitel gewidmet. Weitere Kapitel widmen sich dem
menschlichen Gärtner und darin Karel Čapeks Buch Das Jahr des Gärtners, das dieser 1929 verfasst hat, den
Obdachlosengärten, klösterlichen, republikanischen und fürstlichen Gärten, Versailles und der Kluft
zwischen islamischen und christlichen Paradiesen und unserer spirituellen Ratlosigkeit. In seinem Nachwort
erinnert Robert Harrison an eine Gartenszene in Malcolm Lowrys Roman Unter dem Vulkan, „die viele
Elemente des vorliegenden Buches vereint“ (Robert Harrison S. 253). Im Mittelpunkt des Romans steht die
letzte Begegnung zwischen dem britischen Konsul der mexikanischen Stadt Cuernavaca und seiner von ihm
getrennt lebenden Frau, die mit ihrem Unfalltod und seiner Ermordung endet. An dem Morgen, an dem seine
Ehefrau zurückgekehrt ist, findet Malcolm in seinem verwilderten Garten eine Flasche Tequila und beginnt,
heimlich daraus zu trinken. Er wird vom gepflegten Nachbargarten aus von Quincey, einem Amerikaner im
Ruhestand beobachtet. Es entspinnt sich ein Gespräch über den Zaun hinweg: „»Übrigens habe ich eben eine
kleine Korallenschlange gesehen«, platzte es aus dem Konsul heraus. Mr. Quincey hustete oder schnaubte,
sage aber nichts. »Und dabei fiel mir ein … Wissen Sie Quincey, ich habe mich so oft gefragt, ob an der alten
Legende vom Garten Eden und so weiter nicht mehr dran ist, als man auf den ersten Blick meint. Wenn nun
Adam in Wirklichkeit gar nicht daraus vertrieben worden ist? […] Wenn nun seine Strafe in Wirklichkeit
darin bestanden hätte« […], »dass er weiter dort leben musste, allein natürlich – leidend, ungesehen, von Gott
abgeschnitten? […] Und wer weiß, der eigentliche Grund für diese Strafe […] kann natürlich durchaus darin
gelegen haben, dass der arme Kerl den Garten heimlich verabscheut hat! […] Und dass der Alte das
herausgekriegt hat…«“. Nach Harrison ist diese noch einmal andere Version einer wilden Exegese der Eden-
Geschichte für den Roman als Ganzem entscheidend, „denn Unter dem Vulkan führt auf eine fast
allegorische Weise vor, dass der Fall aus Eden ein ständiges, fortlaufendes Ereignis ist. Das Werk zeigt, dass
wir noch lange nach der Erbsünde fortfahren, mit unserem aktiven Willen unsere Vertreibung zu
wiederholen, und in unser selbstgewähltes Inferno taumeln […]. Ich habe behauptet […], es sei weitaus
wahrscheinlicher, dass Eva diejenige war, die den Ort insgeheim verabscheute […] und dass […] die Ehefrau
es war, die einen Weg fand, uns vertreiben zu lassen, und die Menschheit auf den Weg zur Reife führte.
Letztlich ist Eva die Mutter der ganzen Geschichte. Ob sie tatsächlich uns aus Eden hinausbeförderte oder ob
sie lediglich Gott aus Eden hinausbeförderte, das Resultat ist faktisch dasselbe. So oder so wurden wir
unserer Selbstverantwortung anheimgegeben; so oder so wurden wir in einem Garten zurückgelassen, zu
dessen Pflege wir aufgefordert wurden; und da sind wir noch immer, in este jardín“ (Robert Harrison S. 254
ff.).

ham, 16. August 2016

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