Als der Umbau des Amsterdam Museums in Amsterdam anstand und für seine sonst kaum ausgeliehenen herausragenden Gruppenbildnisse aus den sogenannten „goldenen Zeiten“ Ausweichquartiere gesucht wurden, hatte das Städelsche Kunstinstitut und die Städtische Galerie in Frankfurt gute Karten, weil der unverheiratet und kinderlos gebliebene Privatbankier, Mäzen und Liebhaber der niederländischen Kunst Johann Friedrich Städel (1728 – 1816) seine rund 500 Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts und seine etwa 2000 Kupferstiche und Zeichnungen schon vor seinem Tod dem Städelschen Kunstinstitut vermacht hatte und eine Zusammenführung möglich gemacht hat (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Friedrich_Städel und https://newsroom.staedelmuseum.de/de/content/rembrandts-amsterdam-goldene-zeiten).
Die städtischen Eliten Amsterdams waren im 17. Jahrhundert durch ihre aggressive Handelspolitik und ihre Investitionen in die niederländische Westindien-Kompanie und die Ostindische Kompanie und deren Atlantik- und Sklavenhandel reich geworden (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Niederländische_Westindien-Kompanie und https://de.wikipedia.org/wiki/Niederländische_Ostindien-Kompanie). Handel, Wissenschaft und Künste florierten. Menschen aus ganz Europa zog es nach Amsterdam in der Hoffnung, dort ihr Glück zu machen. 1578 war das vormals katholische Amsterdam protestantisch geworden. Die katholischen Einrichtungen und Klöster wurden geschlossen. Mit dem beschlagnahmten Vermögen wurden in den nun leerstehenden Gebäuden neue, ehrenamtlich geleitete Fürsorgeeinrichtungen errichtet. Ihre Leitung, die Regenten und Regentinnen, stammten aus der bürgerlichen Elite.
Zwischen 1626 und 1628 ließen die Vorsteher des 1613 in das Aalmozeniershuis umgewandelten Teils des ehemaligen Klarissenklosters fünf große Bilder für ihren repräsentativen Versammlungsraum malen, die sie bei der Registrierung der „echten“ Armen, der Verteilung von Brot und Kleidung, dem Hausbesuch bei Notleidenden und Kranken und der Organisation von Zwangsarbeit für Müßiggänger zeigen. Bei den Porträts der „Armenvätern“ handelte es sich um gut bezahlte Darstellungen.
Erste Gruppenporträts hatte es aber schon vor der Rembrandtzeit im frühen 16. Jahrhundert in den repräsentativen Versammlungshäusern der Büchsen-, Armbrust- und Bogenschützen gegeben. Die Dargestellten sind durch die gleiche Kleidung, Rüstung oder Kopfbedeckung als Angehörige der Bürgermiliz ausgewiesen. Sie wurden in monumentalen Gruppenporträts beim Präsentieren ihrer Waffen, nächtlichen Aufbruch oder beim gemeinsamen Mahl durch ihre Wiedergabe auf gleicher Augenhöhe dargestellt. Rembrandts nicht auszuleihende Nachtwache ist das bekannteste Amsterdamer Schützenstück (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Nachtwache). Um 1650 wurde es an den Wänden der Schützenhäuser eng. Es gab für weitere Porträts schlicht keine freien Plätze mehr. Deshalb kamen die Gruppenporträts an ihr Ende. Das letzte Schützenstück stammt von Bartholomäus van der Helst, einem der besten Porträtmaler Amsterdams. Seine Porträts der Vorsteher der drei Schützenhäuser erlauben durch die reduzierte Personenzahl einen noch stärkeren Fokus auf die individuellen Figuren und deren Interaktion (vergleiche dazu sein Schützenmahl der Amsterdamer Bürgergarde zur Feier des Westfälischen Friedens von 1648 mit 25 Porträtierten unter https://de.wikipedia.org/wiki/Bartholomeus_van_der_Helst#/media/Datei:Bartholomeus_van_der_Helst,_Banquet_of_the_Amsterdam_Civic_Guard_in_Celebration_of_the_Peace_of_Münster.jpg). Weitere Gruppenbilder stammen von Chirurgen und ihrer Arbeit und von den Zuchthäusern.
Großformatige Porträts hatten sich nur die Wohlhabenden leisten können. Arme, Kranke oder sozial Auffällige waren weder bildniswürdig noch hatten sie die dafür notwendigen Mittel. So blieben sie in den Gruppenporträts bestenfalls stereotypische Randfiguren – und das auch bei Rembrandt. Aber in seinen wirklichkeitsnahen Radierungen ging Rembrandt mit gesellschaftlichen Außenseitern anders um: Er widmete den Bettlern, Kranken und Straßenmusikanten größte Aufmerksamkeit und verlieh ihnen gelegentlich sogar sein eigenes Gesicht.
So hat er auch die hingerichtete Elsje Christianaens auf der Gefangeneninsel aufgesucht, um sie zusammen mit Schülern zu porträtieren. Die damals 18-jährige dänische Migrantin hatte sich im April 1664 gerade einmal zwei Wochen in der Stadt befunden und noch keine Anstellung gefunden. Als Elsje ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte, drohte ihr ihre Vermieterin, ihre Habe an sich zu nehmen. „An der Kellertür kam es zum Gerangel. Die Vermieterin begann, mit einem Besen auf sie einzuschlagen, diese wiederum griff in einem Anfall jäher Wut nach einem Beil, das nahebei auf einem Stuhl lag, und schlug der Frau damit wiederholt auf den Kopf. Kurz darauf eilten die durch einen Schrei alarmierten Nachbarn herbei und fanden Elsje mit blutigen Händen vor (sie erklärte dies mit Nasenbluten) sowie den leblosen Körper der Vermieterin am Fuße der Kellertreppe. Von Panik erfasst, flüchtete Elsje und sprang in den Kanal, wurde aber schon bald aus dem Wasser gezogen und verhaftet. Sie gab zu, die Vermieterin mit dem als Beweisstück vorgelegten blutigen Beil geschlagen zu haben, konnte sich aber nicht mehr an die Anzahl der Hiebe […] erinnern. Allerdings beharrte sie darauf, dass die Frau die Treppe hinuntergestürzt sei“ (Stephanie S. Dickey, Elsje Christiaens und Rembrandt, S. 179 f.).
Der bei Hirmer in München zur Ausstellung erschienene Katalog wurde von Jochen Sander herausgegeben. Er hat als Buchhandelsausgabe die ISBN-Nr. 978-3-7774-4408-6, 288 Seiten, 222 Abbildungen in Farbe, Klappenbroschur ist 28 x 23 cm groß und enthält nach dem neuesten Stand der Forschung aufgearbeitete Beiträge von Stephanie Dickey, Corinna Gannon, Norbert E. Middelkoop, Tom van der Molen, Astrid Reuter, Jochen Sander, Friederike Schütt und Kambis Zahedi zu Rembrandts Amsterdam als Boomtown und Welthandelsmetropole, zum Ursprung und zur Sinnhaftigkeit des Begriffs Goldene Zeiten, zu den Amsterdamer Gruppenporträts im 16. und 17. Jahrhundert, zu den Amsterdamer Zuchthäusern als Orten der Sozialdisziplinierung und weiteren Themen. Er kostet im Buchhandel in Deutschland 49,90 € und in Österreich 51,30 €.
ham, 5. Dezember 2024