Siedler Verlag, München, 2022, ISBN: 978-3-8275-0150-9, 304 Seiten, 20 s/w Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 20 x 14 cm, € 24,00

Der 1987 in Neubrandenburg geborene Schriftsteller, Philosoph und vielfach ausgezeichnete Lyriker Peter Neumann überrascht mit seinem Vorschlag, die Jahre 1883 bis 2020 als langes Jahrhundert der Utopien zu bezeichnen. In den Geschichtswissenschaften spricht man in der Regel mit Erich Hobsbawm und Iván T. Berend vom Langen 19. und Kurzen 20. Jahrhundert. Unter dem Langen 19. Jahrhundert versteht man die Revolutionszeit und die Kolonialkriege in den Jahren 1789 bis 1815, die Ära der Pentarchie 1815 bis 1871 und die Zeit des Hochimperialismus 1871 bis 1914 (vergleiche dazu und zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Langes_19._Jahrhundert ). Das 19. Jahrhundert erscheint demnach als 25 Jahre zu lang. 

Das 20. Jahrhundert wird als ‚kurz‘ bezeichnet, weil die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg dem 19. Jahrhundert noch ähnelte, „während der Krieg mit seiner totalen Mobilmachung und noch mehr das Ende des Krieges mit seinen großen Umstürzen (Revolutionen in Russland 1917, in Deutschland und Österreich 1918) eine neue Gesellschafts- und Weltordnung sowie der Untergang der Monarchie in mehreren europäischen Ländern eine politische Neuordnung von Teilen Mittel- und Osteuropas und des Balkans mit sich brachte“(https://de.wikipedia.org/wiki/Kurzes_20._Jahrhundert). Die für das Jahrhundert als charakteristisch angesehene Epoche der ideologischen Machtblöcke endete 1989, also schon nach 75 Jahren.

Epocheneinteilungen und -benennungen bleiben strittig. Aber 500 Jahre nach Thomas Morus’ philosophischem Dialog über die beste Verfassung des Staates und die neue Insel Utopia und 100 Jahre nach Ernst Blochs ›Geist der Utopie‹ kreist der Zukunftsdiskurs nicht mehr um von gottähnlichen Menschen geschaffene neue Welten, sondern um technologische Projekte, künstliche Intelligenz, synthetische Biologie und Mensch-Maschinen-Schnittstellen. Sieht Neumann das Ende handfester Utopien deshalb gekommen, weil man sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eher an das technisch Machbare als an säkularisierte Erlösungsvorstellungen hält? Oder will er mit seiner Reise ins lange Jahrhundert der Utopien an ihren Geist erinnern und das Feuer der Utopien retten?

Neumann beginnt seine Reise am 26. August 1883 im Gottesdienst der Hauptkirche St. Trinitatis in Altona, in dem Overbeck ein Schwanken der Kronleuchter bemerkt. „Overbeck ist sich nicht sicher, ob auch die anderen sehen, was er sieht. Als er über sich in das hohe Deckengewölbe blickt, kann er deutlich erkennen, dass der schwere Kronleuchter ins Schwanken geraten ist. Unmerklich erst. Dann immer stärker. Erst zur einen, dann – sein Kopf fängt an, sich in den leeren Rhythmus der Pendelbewegung einzuwiegen – zur anderen Seite. Kein Zittern und kein Beben. Es ist, als ob dieses Schwanken aus dem Nichts gekommen wäre. Jedes Mal scheinen die Kerzenarme nach etwas greifen zu wollen, das sie aber nicht erreichen können“ (Peter Neumann S. 9). Als Pastor Köster seine Predigt um halb elf unterbricht, gerät auch der Rest der Gemeinde in Unruhe. Man diskutiert über mögliche Ursachen. Manche erinnern sich an das Erdbeben von Lissabon, andere an die tödliche Aschewolke aus Island im Jahr 1783. Wieder andere denken an göttliche Strafen. Die Geistlichkeit hält dagegen, dass Gott die Erde nicht entzweibrechen lässt. 

Als bekannt wird, dass der Vulkan Krakatau in der Sundastraße zwischen den indonesischen Inseln Sumatra und Java nach ersten kleineren Eruptionen im Mai ein erstes Mal am 22. August und am 26. August ein zweites Mal ausgebrochen ist, weiß Overbeck endlich, was das Schwanken des zehnarmigen Kronleuchters im Kirchenschiff verursacht haben mag (vergleiche dazu https://www.ardalpha.de/wissen/natur/naturgewalten/vulkan-krakatau-vulkanausbruch-vulkanismus-100.html). Aber es „ändert nichts daran, dass er sich noch immer kein Bild vom Ausmaß der Katastrophe machen kann. Immer heftiger und greller sollen die Eruptionen geworden sein. Die gekabelten Depeschen, die in den folgenden Tagen ihren Weg aus der Londoner Nachrichtenwelt in die Hamburger Blätter finden, machen das Ereignis in der Ferne nur noch unbegreiflicher. Er, Overbeck, ist weiß Gott kein Philosoph, nur ein Verwaltungsbeamter, der bei den Hamburger Wasserwerken arbeitet und dem es hin und wieder gefällt, einen Aufsatz über die Flora der Niederelbe zu verfertigen und in einem der hiesigen Journale zu publizieren. Aber soviel begreift sein Verstand doch von der Welt im Großen wie im Kleinen, als er die Meldungen liest: dass es Dinge gibt, die über alle Vorstellungen hinausgehen“ (Peter Neumann S. 11).

Mit dieser Eröffnung setzt Neumann einen Doppelpunkt: Er zeigt, dass er in seiner Publikation nicht akademisch trocken über literarische, philosophische und künstlerische Utopien referieren, sondern dass er das utopische Denken im Erleben von konkreten Menschen verorten und auf diesem Weg anekdotische Evidenz erzeugen will (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Anekdotische_Evidenz). Man fragt sich zwar, wie er nach über 140 Jahren wissen will, was der Verwaltungsbeamte Overbeck am 26. August 1883 im Gottesdienst in St. Trinitatis gedacht und überlegt hat. Aber dann stellt man in den Anmerkungen unter dem Stichwort ›Krakatau 1883‹ fest, dass sich Neumann auf Erinnerungen Oberdecks berufen kann, die dieser dreiunddreißig Jahre später zu Papier gebracht und 1916 im Heft 30 der ›Naturwissenschaftlichen Wochenschrift‹ veröffentlicht hat. Dass der Schriftsteller sich darüber hinaus auch dichterische Freiheiten nimmt, gehört zu seinem Geschäft.

Im ersten Kapitel lässt Neumann Friedrich Nietzsche am 14. Februar 1883 auf dem Weg von Rapallo noch Genua aus der Abendausgabe des ›Caffaro‹ erfahren, dass sein früherer einziger Freund und jetzt gehasster Feind Richard Wagner am 13. Februar im Alter von 69 Jahren in Venedig gestorben ist. Die Wagners hatten  am 16. September 1882 im Palazzo Vendramin-Calergi am nordöstlichen Ende des Canal Grande Quartier bezogen. Wagner hat am 22. Oktober einen Aufsatz über seinen ›Parsifal‹ zu schreibenbegonnen, der in den ›Bayreuther Blättern‹ erscheinen sollte. „Viel ist es nicht, was Wagner heute zu Papier gebracht hat. Zu einem großen Wurf würde er gerne ansetzen, frisch, kräftig, ausdrucksstark. Aber der Text … ist noch reichlich unausgegoren und obendrein steif … Zugegeben, ein Stilist ist er nie gewesen. Im Gegensatz zu seinem alten Freund Nietzsche. Der war der Aufführung des ›Parsifal‹ im Sommer ferngeblieben. Kein Wort, nirgends. Schon Jahre geht das so. Eine tüchtige Frau, noch besser eine günstige Heirat hätte diesen Kauz vor seinen schlimmsten Irrtümern bewahren können, aber jetzt ist es inzwischen wohl zu spät“ (Peter Neumann S.22 f.) Wagner war gesundheitlich angeschlagen. Jeder Besuch war ihm zu viel geworden und mit der Zeit wollte er niemand mehr sehen. 

Nietzsche geht es übel nach Wagners Tod. „Sieben Jahre ist es inzwischen her, dass Wagner und er sich das letzte Mal gesehen haben. Und mit jedem Monat, jedem Tag, jeder Stunde ist die Entfremdung seitdem größer, der Riss zwischen ihnen tiefer geworden. So tief, dass man nur noch von einem Abgrund sprechen kann. Noch immer steht die ›tödliche Beleidigung‹ zwischen ihnen, die Wagner ihm in jener Zeit zugefügt hat. Geredet hat Nietzsche bislang mit niemandem darüber. Nur so viel: Es hätte tödlich zwischen Wagner und ihm ausgehen können, wäre die Feindschaft vollends zum Ausbruch gekommen, in die sich ihre einstige Freundschaft verwandelt hatte … Nietzsche kann Bayreuth jedenfalls gestohlen bleiben. Hätte Wagner ihn zum Parsifal persönlich eingeladen, er wäre vielleicht auf den Hügel gefahren. So aber hatte er entschieden, durch Abwesenheit zu glänzen“ (Peter Neumann S. 24 f.).

Neben dem Paar Wagner und Nietzsche porträtiert Neumann im ersten Kapitel Käthe Kollwitz und Gerhard Hauptmann unter der Überschrift ›Der Tim der Gerechtigkeit, Franziska zu Reventlow und Thomas Mann unter dem Titel ›Der Hunger nach Leben‹, Else Lasker-Schüler und Franz Kafka unter dem Motto ›Das Verlangen nach Liebe‹ und Ludwig Wittgenstein und Georg Trakl unter der Headline ›Die Revolution der Worte‹.

Im zweiten Kapitel rufen Ernst Bloch und Max Weber die Republik aus. Bloch war im Frühjahr 1917 mit Elsa von Stritzky, seiner Frau, auf Vermittlung von Max Weber, mit dem er ansonsten über Kreuz lag, nach Locarno an den Lago Maggiore gereist. „Der Dienst an der Front ist Bloch gottlob erspart geblieben: Karl Jaspers, der Heidelberger Philosoph und Psychiater, hat ihn seiner extremen Kurzsichtigkeit wegen für kriegsuntauglich erklärt. Während Elsa von Stritzky versucht, mit ihrer Arbeit als Bildhauerin voranzukommen, arbeitet Bloch unermüdlich an dem Werk, mit dem er der Öffentlichkeit endlich beweisen möchte, was für ein genialer Geist in ihm steckt. Viele Anläufe hat er bisher unternommen, etliche Systementwürfe geschrieben – immer vergeblich. Das soll sich jetzt ändern. Viel fehlt dem erst Anfangdreißigjährigen nicht mehr für den großen Wurf. Geist der Utopie lautet der Title des Werkes, das dort, wo schon lange keine Hoffnung mehr wohnt, wieder Platz für den Glauben an die Freiheit schaffen möchte. Die Utopie ist das Neue, das Zukünftige, das sich im Gegenwärtigen bereits andeutet, das ›Noch-Nicht‹. Die Utopie sucht noch dem Wahren und Wirklichen dort, wo das bloß Tatsächliche verschwindet. Befreiung von Druck und Muff. Durchbruch in frische Luft und große Weite. Kein Nein, so lautet Blochs Überzeugung, vermag jemals so stark und laut zu sein, dass es nicht von einem verborgenen Ja in ihm übertrumpft und damit besiegt werden kann“ (Peter Neumann S. 104).

Max Weber war noch vor dem Ausbruch des Kriegs im August 1914 „zweimal an den Lago Maggiore gereist, um sich dort von seinem Nervenleiden zu erholen und Diät zu halten. Datteln, Feigen, Orangen und ein paar Haferkekse, mehr nicht. Zu den Aussteigern, Vegetariern und Anarchisten, die sich auf dem in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Monte Verità, dem Berg der Wahrheit, tummelten, war Weber stets auf Abstand gegangen. Er hielt sie für Scharlatane, nichts als eine Horde fanatischer Sektierer, die aus der Welt geflohen waren, um dann ihr Heil im primitiven Leben eines Naturmenschen zu finden. Gleichwohl war er von der Welt, die sich da vor ihm auftat, dem Spuk aus Gurus, Meistern und Möchtegern-Heiligen, fasziniert. Weber interessierte sich für die Formen charismatischer Herrschaft, die sich in der Bergkolonie herausbildeten“ (Peter Neumann S. 105). 

Als Bloch sein Werk Geist der Utopie in den Maitagen 1917 zum Abschluss bringt, „sieht er die Zeit für eine Revolution gekommen. ›Wie nun? Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben‹, lauten die ersten Sätze, die das ganze Programm seiner Philosophie enthalten. Für Bloch steht fest: Eine Utopie geht nicht erst im Jenseits auf. Sie ist im Hier und Jetzt zu verwirklichen“ (Peter Neumann S. 119). Am 6. April 1917 erklären die Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich den Krieg. Kaiser Wilhelm II. stellt einen Tag später in seiner ›Osterbotschaft‹ eine Wahlrechtsreform nach dem Krieg in Aussicht: Das Dreiklassenwahlrecht soll durch die Einführung direkter und geheimer Wahlen ersetzt werden. Max Weber tritt auf der Ende Mai 1917 auf Burg Lauenstein von dem Jenaer Verleger Eugen Diederichs organisierten Tagung nicht wie Bloch für eine sozialistische Republik und auch nicht wie die Lebensreformer für die Sakralisierung des Staates und die Aristokratisierung der Gesellschaft ein, sondern für den Parlamentarismus. Das preußische Klassenwahlrecht muss verschwinden, die Beamtenherrschaft beendet, die Regierung parlamentarisiert und die staatlichen Einrichtungen demokratisiert werden. „Nur eines weiß Weber genau: Wenn dieser Krieg zu Ende ist, wird er Wilhelm II., ihre Kaiserliche und Königliche Hoheit so lange beleidigen, bis ihm der Prozess gemacht wird. Nu zu! Und dann sollen die verantwortlichen Politiker, die Bülows, Bethmann-Hollwegs, Tirpitze, und wie sie alle heißen, gezwungen werden, unter Eid auszusagen“ (Peter Neumann S.122).

Weitere Abschnitte sind James Joyce und Marcel Proust, Samuel Beckett und Caspar David Friedrich, Salvador Dalí und Sigmund Freud, Hannah Arendt und Carl Jaspers und Gottfried Benn und Theodor W. Adorno gewidmet.

Das dritte Kapitel endet nach Absätzen über Martin Heidegger, Friedrich Hölderlin und andere mit der Veröffentlichung des Bulletins of the Atomic Scientists am 23. Januar 2020 in Washington. Die Doomsday Clock steht seitdem auf 100 Sekunden vor 12. „Als … die Experten … vor die Presse treten, um ihre Botschaft zu verkünden, spricht noch keiner der beteiligten Forscher von einem Virus, das seinen Ursprung auf dem Huanan Seafood Market in Wuhan gehabt haben soll. Manche mutmaßen auch, es sei zu einem Unfall in einem Labor gekommen. In der Provinz Hubei stellt die chinesische Regierung noch am selben Tag Millionen Menschen unter Quarantäne. Auch in Europa treten erste Infektionsfälle auf. In Venedig laufen derweil die Vorbereitungen für den Karneval auf Hochtouren“ (Peter Neumann S. 260).

ham, 18. Januar 2023

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