Publikation zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 10. November – 29. Dezember 2019 in der Städtischen Galerie Leonberg und vom 23. Oktober – 28. November 2020 in der Galerie Rothamel, Frankfurt am Main. Mit einem Gespräch zwischen Nguyen Xuan Huy und Richard E. Müller
Kerber Art, Kerber Verlag Bielefeld, herausgegeben von der Galerie Rothamel, Erfurt / Frankfurt, dem Galerieverein Leonberg und dem Museum Schloß Wilhelmsburg, Schmalkalden, 2020, ISBN 978-3-7356-0634-1, 80 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 30,5 x 24,5 cm, € 36,00 / CHF 44,21
Der 1976 als Sohn eines verletzten Vietcongkämpfers in Hanoi geborene Nguyen Xuan Huy sieht sich als Kind des immer noch weiter wirkenden Vietnamkriegs. Sein Vater hatte seine Mutter als Krankenschwester im Lazarett kennengelernt und war glücklich, dass bei seiner Geburt alle Körperteile normal aussahen. Er war im Krieg in mit dem Entlaubungsmittel Agent Orange verseuchten Gebieten unterwegs und manche seiner Kameraden hatten nicht das Glück, gesunde Kinder auf die Welt zu bringen. „Das schockiert mich am meisten. Wenn ich die Opfer von Agent Orange ansehe, denke ich: Verdammt! Mir hätte das auch passieren können. Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich da fühle. Es ist, als ob ich keinen Boden unter meinen Füßen hätte – die unversehrte Existenz, ein biologischer Zufall im Lotto des Krieges, der nicht aufhören kann. Sicherlich kann ich mich damit beruhigen, dass ich davon gekommen bin. Aber es ist alles andere als selbstverständlich“ (Nguyen Xuan Huy S.37).
1994 kommt er nach Deutschland und beginnt zwei Jahre später ein Studium der Malerei an der HfKD Burg Giebichenstein, das er 2006 mit einem Aufbaustudium bei Ute Pleuger abschließt. In Arbeiten wie dem Diptychon ›My Lai, 2003, Öl auf Leinwand, je 135 x 200 cm‹ zeigt er keine Kampfszenen, sondern die Stille und die Toten danach. Als Brücke zur Realität dienen ihm Dokumentarfotos. 2004 entsteht mit ›Banana Garden, Öl auf Leinwand, 195 x134 cm‹ das lebensgroße Porträt eines von Agent Orange Geschädigten (vergleiche dazu https://www.tabularasamagazin.de/berlins-spannendster-maler-nguyen-xuan-huy-waiting-until-heaven-is-done/). 2005 setzt er sich bei einem Studienaufenthalt in Vietnam mithilfe des Zeichenstifts und des
Fotoapparats mit den Opfern des Gifts auseinander und beginnt eine Serie von missgestalteten Frauenakten, die Alpträumen entsprungen scheinen: Im ›Porträt 3, 2011, oil on canvas, 195 x 139‹ ist der Mund der Porträtierten unter das Ohr an den Kiefer gerutscht. In ›Balletschool, 2011, oil on canvas, 178 x 271 cm‹ recken zwei der sechs oder vielleicht auch sieben nackten Frauen Hammer und Sichel wie irre Zeichen einer falschen Erlösung in einen schwarzen Himmel ohne jeden Horizont (vergleiche dazu http://www.nguyenxuanhuy.com/works/2011/) und in ›The Break, 2012, oil on canvas, 200 x 450 cm‹ verwandeln sich Frauen in Kentauren mit gerupften Flügeln und Maschinenpistolen in den Händen (vergleiche http://www.nguyenxuanhuy.com/works/2012/).
Seine 2018 entstandene Serie ›Waiting until heaven is done I – V, Öl auf Leinwand, jeweils
270 x 190/195 cm‹ (vergleiche dazu http://www.nguyenxuanhuy.com/works/2018/) könnte für die vom Künstler als widersprüchlich, dunkel und kafkaesk empfundene Wirklichkeit stehen: Ein „Pessimist bin ich nicht. Eher ein Realist. Ich versuche es jedenfalls. Ich möchte keine Apokalypse prophezeien, doch wer sagt, dass jenseits der Illusion ein Paradies auf dich wartet? Ich bin kein Fan von Apokalypsen oder Ähnlichem. Aber ich stelle mir vor: Eines Morgens wache ich wie Gregor Samsa auf und stelle fest, dass ich mich ›zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt‹ habe. Aber ein Ungeziefer muss es nicht einmal zwingend sein. Da gibt es so viele Möglichkeiten. Wer gibt mir schon die Zuversicht, dass mir so etwas nicht passieren könnte? Oder uns allen? Oder, dass es nicht schon längst stattgefunden hat? Harry Potter sicher nicht“ (Nguyen Xuan Huy Seite 40).
ham, 11. Februar 2020