Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel
C.H. Beck Verlag, München 2018, ISBN 978-3-406-72541-8, 542 Seiten, 245 überwiegend farbige Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, € 39,95 (D) / € 41.10 (A) / CHF 56,90
Neil MacGregors kulturübergreifende Religionsanthropologie und -soziologie will ausdrücklich keine Geschichte der Religion, keine Streitschrift für den Glauben und noch weniger eine Verteidigung irgendeines bestimmten Glaubenssystems sein. Sie befragt quer durch die Geschichte und rund um den Globus mit Religion konnotierte Gegenstände, Orte und menschliche Tätigkeiten, „um zu verstehen, was gemeinsame religiöse Überzeugungen im öffentlichen Leben einer Gemeinschaft oder einer Nation bedeuten können, wie sie das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat prägen und wie sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wer wir sind. Denn mit der Entscheidung, wie wir mit unseren Göttern leben wollen, entscheiden wir auch, wie wir miteinander leben.“ (Neil MacGregor S. 8).
Der 1946 in Glasgow geborene britische Kunsthistoriker, ehemalige Direktor des Britischen Museums in London, Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin, Direktor des Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya in Mumbai und Autor für die BBCgeht davon aus, dass „jede bekannte Gesellschaft über eine Reihe von Überzeugungen und Annahmen verfügt – einen Glauben, eine Ideologie, eine Religion – die weit über das Leben des Einzelnen hinausreichen und einen wesentlichen Teil einer gemeinsamen Identität darstellen. Solche Glaubensüberzeugungen verfügen über eine ganze besondere Macht, Völker zu definieren – und zu spalten –, und sie sind in vielen Teilen der Welt heute eine treibende Kraft in der Politik. Manchmal sind sie säkularer Natur […], aber die ganze Geschichte hindurch waren sie im weitesten Sinne religiös“ (Neil MacGregor S. 7).
McGregor setzt mit dem 40 000 Jahre alten Löwenmenschen aus Elfenbein ein, der in der in der Steinzeit für kultische Zwecke benützten Stadel-Höhle des Hohenstein bei Ulm gefundenen worden ist (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?q=living+with+the+gods+british+museum&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwik0u3TnOniAhWWSxUIHSHmBQwQs
AR6BAgEEAE&biw=1649&bih=904#imgrc=ImHh2dUWYv91UM:), erläutert, was den kosmischen Tanz der Zerstörung und Erneuerung von Shiva (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=living+with+the+gods+british+museum&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwik0u3TnOniAhWWSxUIHSHmBQwQs
AR6BAgEEAE&biw=1649&bih=904#imgrc=sxAfcQ0jbOTMpM:) mit den Vestalinnen, dem heiligen Feuer der Parsen und Elisabeth I. von England verbindet und schließt mit dem Gedanken, dass wir dem Himmel am nächsten sind, wenn wir mit anderen Menschen auf angemessene Art und Weise zusammenleben.
Der Löwenmensch ist mit seiner Verbindung aus Löwenkopf und menschlichen Körper für MacGregor der mit Abstand älteste bislang gefundene Beleg dafür, „dass der menschliche Geist einer Sache physische Form gab, die er nie gesehen haben kann. Hier finden wir zum ersten Mal eine Kombination, die nur in der Fantasie existieren konnte, eine Abstraktion, die physisch greifbar gemacht wurde. Die Natur wurde re-animiert und umgestaltet, die Grenze zwischen Mensch und Tier aufgelöst. Der Löwenmensch steht für einen kognitiven Sprung in eine Welt jenseits menschlicher Erfahrung“ (Neil MacGregor S. 29). Die spätgotische Ravensburger Schutzmantelmadonna von 1480 aus der Ulmer Schule von Michael Erhard oder von dem Bildhauer Friedrich Schramm (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ravensburger_Schutzmantelmadonna) verkörpert für MacGregor das universale Symbol einer tragenden Glaubensgemeinschaft und schließt den Kreis seiner Erzählungen. Sie ist fast lebensgroß und stellt die Jungfrau Maria dar, die ihren schützenden Mantel um Männer und Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Art ausbreitet, „die alle entweder beten oder bange hervorschauen. Aber Maria, die traditionell die Kirche repräsentiert, ist gelassen. Prächtig in Gold und Blau gehüllt, versammelt sie die Gemeinschaft der Gläubigen, hält sie zusammen und bewahrt sie vor Unheil. Viel größer dargestellt als ihre Schützlinge, ist sie die fortlaufende Geschichte, in der diese nur Episoden sind, eine bleibende Institution, die sie alle umfängt und überdauern wird. Sie blickt unerschütterlich in die Zukunft und schreitet – gemeinsam mit ihnen – und entschlossen voran“ (Neil MacGregor S. 502).
Zu den Höhepunkten des Bandes gehören die dichten Erzählungen vom heiligen Töten im Reich der Azteken, von dem der Kriegsgöttin Durga (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?q=durga+g%C3%B6ttin&tbm=isch&source=hp&sa=X&ved=2ahUKEwiP0rLS–riAhXrw8QBHc86D6sQsAR6BAgAEAE&biw=1649&bih=904) gewidmeten Durga Puja-Fest Ende September / Anfang Oktober in Kalkutta (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?biw=1649&bih=904&tbm=isch&sa=1&ei=dZ4EXbzBDamm1fAP_9KY0Ao&q=durga+puja&oq=durga&gs_l=img.1.4.0j0i67j0l8.
48075.48075..51191…0.0..0.84.84.1……0….1..gws-wiz-img.VXAgFdJ7SPU), an dessen Ende die eigens für dieses Fest hergestellte Durga-Statuen von Fanfaren und Tänzern begleitet in den heiligen Fluss Ganges geworfen werden und in den Golf von Bengalen treiben und schließlich die einfühlsame Beschreibung der von Martin Luther entdeckten Bedeutung der Kirchenlieder für den evangelischen Gottesdienst und die evangelische Frömmigkeit.
Das aus der parallel zur gleichnamigen Ausstellung des Britischen Museums ausgestrahlten 30-teiligen BBC Radio-Serie ›Living with the Gods‹ (vergleiche dazu https://www.youtube.com/watch?v=Ek-TCEP7w90) entstandene Buch hat seine größte Stärke im kulturübergreifenden Zusammendenken von religiösen Artefakten, Festen, Riten, Glaubens- und Gesellschaftsstrukturen. Seine Grenze liegt in der Funktionalisierung der Religion: Religion wird zu einer Funktion der um ihr Überleben kämpfenden Gesellschaften. Die Rede von Gott wird zur Rede vom Menschen und löst sich letztendlich in Anthropologie auf.
ham, 15. Juni 2019