Publikation anlässlich der Ausstellungen

Michael Müller, Mögliche und unmögliche Bilder

Museum Kulturspeicher Würzburg, 26.11.2022 –19.3.2023

und

Michael Müller, Am Abgrund der Bilder

St. Matthäuskirche, Berlin, 22.4. – 3. 9.2023

Herausgegeben von Alien Athena Foundation for Art und Gero Heschl, mit einem Grußwort von Hannes Langbein, einem Vorwort von Gero Heschl und einem Essay von Lukas Töpfer 

Deutscher Kunstverlag, Berlin München 2023, ISBN 9783422801264, 106 Seiten, zahlreiche größtenteils farbige Abbildungen, in Leinen gebunden, Format 32 x 24,8 cm, € 32,00

Als Nachgeborener fragt man sich gut einhundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer noch, warum deutsche kulturelle Eliten die damalige Kriegsführung mit historischen, philosophischen, völkerrechtlichen und kulturellen Argumenten gerechtfertigt und nicht mit genau diesen Argumentationsfiguren gegen sie opponiert haben (vergleiche dazu ›Wolfgang J. Mommsen, Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg‹. Aus dem Buch ›Kultur und Krieg‹. In: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110446531-003/html). Was nützen Bildungs- und kulturelle Ideale, wenn man mit ihnen nationalistische und faschistische Ideologien rechtfertigen kann? Theodor W. Adornos grundlegendes Misstrauen gegenüber der Kultur, aber auch der Kulturkritik und seine 1949 notierte und später heftig diskutierte These „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ wird auf dem Hintergrund der beiden Weltkriege und dem Grauen des Holocausts mehr als verständlich.

Zwar hat Adorno sein Urteil „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ 1966 in dem Satz „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben“ teilweise revidiert (vergleiche dazu Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1973, S. 355). Aber er beharrt darauf, „dass Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen“ hat. „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ (Vergleiche dazu und zum Folgenden ›Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch‹ in https://de.wikipedia.org/wiki/Nach_Auschwitz_ein_Gedicht_zu_schreiben,_ist_barbarisch#cite_ref-9). Mit ihrer Unterstützung mache man sich zum Helfershelfer, mit ihrer Verweigerung befördere man die Barbarei. „Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge.“ (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Zitiert nach: Petra Kiedaisch ⟨Hrsg.⟩: Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 61–62). Peter Härtling erwidert, dass nach Auschwitz Gedichte geschrieben worden sind, über Auschwitz aber nicht. Auch „Celans Todesfuge paraphrasiert nur unvergleichlich das Echo der Todesschreie. Den Mord macht sie nicht sichtbar. Wir haben keine Poetik gefunden, die das Entsetzen unserer Zeitgenossenschaft reflektiert.“ (zitiert nach Robert Weninger, Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. S. 32).

Hannes Langbein nimmt das seit 1949 Diskutierte in seine Frage hinein, ob sich das Grauen des Holocausts zeigen und das Unbeschreibliche im Bild fassen lässt, ohne es seiner Unbeschreibbarkeit zu berauben. Und er fragt weiter, ob man fremdes Leid fremden Blicken aussetzen darf oder möglicherweise aussetzen muss, um die Nachwelt an das Grauen zu erinnern. Seine unmittelbaren Bezugspunkte sind aber nicht mehr die beiden Weltkriege und Adorno, sondern einmal das unter Albert Speer für die „Welthauptstadt Germania“ abgeräumte ehemalige Tiergartenviertel mit seinem vielgestaltigen jüdischen Leben und die durch die Deportationen frei gewordenen jüdischen Wohnungen, an die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erinnert worden ist. Und zum anderen das sogenannte biblische Bilderverbot. Für ihn lässt sich deshalb das „Prinzip der Übermalung, das mit Gerhard Richters Birkenau-Zyklus im zukünftigen Museum des 20. Jahrhundert direkt neben der St. Matthäus-Kirche eine dauerhafte Heimat im Kulturforum bekommen“ soll, auch „als städtebauliche Metapher verstehen. Das heutige Kulturforum ist ein Palimpsest, unter dessen sichtbarer Gegenwartsgestalt unsichtbare historische Schichten lagern, die gerade erst wieder zutage gefördert werden“ (Hannes Langbein, S. 7). Als ältestes noch erhaltenes Gebäude des Areals wäre für ihn die Matthäuskirche ein guter Ausgangspunkt für eine archäologische Analyse, die das vielfach geschichtete Stadtbild in seiner historischen Spannkraft wieder sichtbar machen könnte. Ob das von Herzog & de Meuron am Kulturforum geplante „Museum der Moderne“ diesem Anliegen und Anspruch gerecht werden kann, darf bezweifelt werden. Es deckt eher zu als auf. (vergleiche dazu etwa „Das Museum der Moderne. Teure Scheune“. In: https://www.deutschlandfunk.de/das-museum-der-moderne-teure-scheune-100.html).

Wenn das Bilderverbot als Kultbild- und als Verbot, Bilder von Menschen zu machen, verstanden werden kann, fragt es sich aber auch, was das für das Gottesbild heißt: „In der Vorstellung des Ersten Testaments wurde der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen, um es wenig später – das Symbol des Sündenfalls – bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Der Schöpfer zeigt sich in seinem Geschöpf im Entzug, in der Entstellung – eine[r] Entstellung, die im Holocaust nicht gekannte Ausmaße angenommen hat. Von dort her stellt sich die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust in zugespitzter Form – und die Frage nach einem Gott, der den millionenfachen Mord zulassen konnte“ (Hannes Langbein, S. 8).

Gerhard Richter hat sich der Frage der Darstellbarkeit des Holocausts malerisch in seinen Arbeiten ›Tante Marianne‹ (vergleiche dazu etwa https://www.aerzteblatt.de/archiv/52165/Opfer-und-Taeter-Tante-Marianne-und-so-weiter), ›Onkel Rudi‹ (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/death-9/uncle-rudi-5595) und ›Herr Heyde‹ (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/en/art/paintings/photo-paintings/death-9/mr-heyde-5620) angenähert. ›Tante Marianne‹ geht auf ein Schwarzweiß-Foto von 1932 zurück und zeigt ihn als vier Monate altes Baby auf dem Arm seiner 1938 als „Geisteskranke“ mit der Diagnose Schizophrenie zwangssterilisierten und 1945 in der damaligen Landes- und Tötungsanstalt Großschweidnitz ermordeten Tante Marianne (vergleiche dazu https://gedenkstaette-grossschweidnitz.org/home/). ›Onkel Rudi‹ zeigt den Bruder seiner Mutter in Wehrmachtsuniform, der 1944 als Soldat an der Font in der Normandie gefallen ist. Er war für Richter eine Autorität, von der er sich schwer innerlich lösen konnte. Und er war ein Nazi (vergleiche dazu https://rp-online.de/kultur/zentrales-werk-onkel-rudi_aid-13828901). ›Herr Heyde‹ zeigt die Verhaftung des hochrangigen SS-Mitglieds Werner Heyde, der als Leiter der Tarnorganisation „Zentraldienststelle T4“ und erster T4-Obergutachter im Dritten Reich für die Ermordung von Geisteskranken, Behinderten und Konzentrationslagerhäftlingen verantwortlich war. Heyde hatte nach dem Krieg unerkannt unter dem Namen Dr. Fritz Sawade als Neurologe und Gutachter gearbeitet und sich am 12. November 1959 den Behörden gestellt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Heyde).

Seinen Versuch, die vier Mitte 1944 von dem Mitglied des Sonderkommandos Alberto Errera (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Alberto_Errera_⟨Offizier⟩) im Todeslager Auschwitz-Birkenau unter Lebensgefahr aufgenommenen und aus Birkenau hinausgeschmuggelten Fotografien (vergleiche dazu https://www.jewishvirtuallibrary.org/sonderkommando-photographs-from-auschwitz) wie die Bilder seiner Verwandten und das Bild von der Festnahme von Werner Heyde fotorealistisch umzusetzen, hat Richter zugunsten einer in der für ihn typischen Rakeltechnik gemalten abstrakten Lösung in den Farben Schwarz, Grau, Dunkelrot und Schmutzig-Grün verworfen (vergleiche dazu   https://www.dw.com/de/umstrittenes-meisterwerk-gerhard-richters-gemäldezyklus-birkenau/a-40351481). Alberto Erreras Fotografien aus Birkenau zeigen nackte Frauen, die in die Gaskammern getrieben werden und Leichen von Lagerinsassen, die zuvor in Gaskammern ermordet worden waren (vergleiche dazu etwa  https://www.welt.de/geschichte/article205323565/Befreiung-von-Auschwitz-Die-dramatische-Geschichte-hinter-den-Fotos-aus-dem-Vernichtungslager.html). Die Fotodokumente bilden in Richters gültigem Birkenau-Zyklus lediglich nur noch die unterste Schicht und damit den Ausgangspunkt seiner Malereien. „Ich habe abstrakt gemalt, weil diese Fotos unübertroffen sind – ich kann es nicht besser“, erklärte Richter (vergleiche dazu https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunst-der-holocaust-im-bild-birkenau-von-gerhard-richter-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160205-99-496453).

Georges Didi-Huberman hebt die landschaftliche Anmutung  der „zuletzt vollständig ungegenständlich geratenen Werke hervor. Der Maler habe durch seine ›eigenwillige Technik des ‚Abkratzens‘‹, durch die Zerklüftung seiner Oberflächen mithilfe einer Rakel einen Zerstörungsprozess ins Bild gesetzt […]. Didi-Huberman vermutet, Richter habe den ›historischen Charakter dieser Zerstörung‹, das heißt genau genommen hier: die Vernichtung europäischer Juden, ›gleichsam in ein Naturphänomen verwandelt, das Ihren Birkenau-Bildern eher das Aussehen einer ‚Landschaft‘ oder einer geologischen Formation als das eines Historiengemäldes verleiht.‹ (Didi-Huberman adressiert Richter in der Form eines Briefes, daher das ›Ihren‹.) Bereits die Reformulierung der Wendung ›dieser Zerstörung‹ zeigt deutlich an, warum eine solche Gedankenverbindung problematisch sein könnte. Entsteht nicht ein Eindruck, der auf keinen Fall anstehen darf: dass die Judenvernichtung dem ›natürlich‹ zu nennenden Leben und Sterben zugerechnet werden kann? (Ein gewöhnlicher Tod?).

Auch Benjamin Buchloh rutscht an zentraler Stelle in eine Rhetorik des Unabänderlichen ab und behauptet unter Verwendung mehrerer problematischer Naturvergleiche, die Farbgebung der Birkenau-Bilder (›die perfide Konstellation der Komplementarität von Grün und Rot‹) würde lesbar als Verweis ›auf den scheinbar unheilbaren und zugleich hilflosen Zyklus von Zerstörung und natürlichem Wachstum, von Vergessen und Erinnern, als seien dies ontologische, nicht historische Bedingungen in einer der blinden Natur verfallenen Geschichte‹“ (Lukas Töpfer S. 19).

Für Lukas Töpfer spricht insgesamt nichts dagegen, abstrakte Gemälde auszustellen, ›die eine unverkennbar schwere, melancholische Grundstimmung‹ vermitteln. Es spricht auch nichts Grundlegendes gegen ›erhebende Gefühle‹ und gegen die ›Aufhebung‹ oder kathartische Elevation von negativen Erfahrungen. Als problematisch aber erweist sich eine Übersetzung ins Allgemeine von vier konkreten, von Mitgliedern des ›Sonderkommandos‹ dem Vergessen entrissenen Bildern, die mit einer inhaltlichen Entbehrung hin zur Grundstimmung einhergeht, wodurch eine Leerstelle entsteht, die dann von der ›Marke‹  Richter besetzt werden kann. Denn so lässt sich, leicht zugespitzt, ein Prozess der ›Aufhebung‹ beschreiben: mit dem Dreischritt Bildzitat, Verallgemeinerung/Entleerung, Neubesetzung“ (Lukas Töpfer S. 84). Vielleicht bespiegeln sich Richters Bilder ja fast ein wenig narzisstisch wechselseitig selbst (Lukas Töpfer a. a. O.).

Diese und weitere Vorbehalte mögen den 1970 in Ingelheim am Rhein geborenen und heute in Berlin lebenden deutsch-britischen Künstler Michael Anthony Müller bewogen haben, Richters Birkenau-Zyklus in analogen Werken zu kommentieren, zu variieren und denkbare untere Schichten an die Oberfläche zu bringen. Dabei zeigt sich, dass auch abstrakte Übermalungen das Ergebnis reproduzierbarer künstlerischer Entscheidungen sind (vergleiche dazu https://studiomichaelmueller.com/am-abgrund-der-bilder). Den historischen Birkenau-Fotografien stellt Müller eigene Birkenau-Aufnahmen aus dem Jahr 2013 gegenüber; dem ›Großen Kopf‹ von Otto Freundlich, der auf der Titelseite des Ausstellungsführers durch die Ausstellungstournee ›Entartete Kunst‹ abgebildet war, verloren gegangenen und durch eine verfälschte Kopie ersetzt worden ist, seine 2022 gefertigte Replik ›Kopflose (nach Otto Freundlich). Seine Skulpturengruppe ›Figuren zur Befragung emphatischer Reaktionen‹, 2022,  macht mit den hinter ihnen angebrachten Spiegeln deutlich, dass jede emotionale Reaktion alles andere einfärbt (vergleiche dazu https://stiftung-stmatthaeus.de/wp-content/uploads/2023/04/STM_Abgrund-Booklet-DE_230419.pdf?x31109).

Damit geben Michael Müllers Ausstellungen in Würzburg und Berlin und Michael Müllers und Lukas Töpfers Katalog der Frage, was Kultur, Bildung und Bilder leisten können und was nicht, eine neue Tönung und Dringlichkeit und setzen sie wieder einmal auf die Tagesordnung der kunst- und kulturtheoretischen Diskussion.

ham, 11. Mai 2023

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