Patmos Verlag, Ostfildern, 2021, ISBN 978-3-8436-1332-3, 157 Seiten, Hardcover mit Spotlack, Lesebändchen, Format 22,5 x 14,5 cm, € 19,00 (D) / € 19,50 (A)
Der Krise des Christentums in Europa steht sein enormes Wachstum in Asien, Afrika und Lateinamerika gegenüber. Vor 100 Jahren lebten mehr als 80 Prozent aller Christen in Europa und Nordamerika. Heute leben von 2,2 Milliarden Christen zwei Drittel in Asien, Afrika und Lateinamerika. Nach der Statistik der „World Christian Encyclopedia“ „wird das Christentum im globalen Süden im Jahr 2025 auf 1,7 Milliarden Menschen anwachsen, in Nordamerika bei rund 270 Millionen stagnieren und in Europa auf 514 Millionen schrumpfen. Die stärkste Wachstumsdynamik gibt es wegen der hohen Geburtsraten in Afrika. Hält der religionsdemografische Trend an, könnte das afrikanische Christentum bald den größten Block innerhalb des weltweiten Christentums bilden“ (Malte Lehming, Zukunft der Religion. Das Christentum steht vor einer Revolution. In: Der Tagesspiegel vom 15.01.2017; https://www.tagesspiegel.de/kultur/zukunft-der-religion-das-christentum-steht-vor-einer-revolution/19253464.html; vergleiche dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Christentum). Deshalb bräuchte man sich eigentlich um die Zukunft des Christentums und des christlichen Glaubens keine Sorge zu machen; aber mit den steigenden Zahlen wächst auch die Tendenz zu fundamentalistischen Positionen und zum Rückzug ins Private (vergleiche dazu etwa https://www.rpi-loccum.de/material/pelikan/pel4-13/theo_hemminger, https://de.wikipedia.org/wiki/Christentum und Privatreligion/Privatisierung in Metzlers Lexikon Religion: https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-476-00091-0_415).
In der Debatte über die Ursachen vertritt der bei Günter Kehrer in Tübingen promovierte Religions- und Politikwissenschaftler und Beauftragte der baden-württembergischen Landesregierung gegen Antisemitismus Michael Blume (vergleiche dazu https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/themen/beauftragter-gegen-antisemitismus/ und https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/themen/beauftragter-gegen-antisemitismus/) in Anlehnung an den durch seine interdisziplinär angelegte, historische und empirische Forschungen integrierende »Zettelkasten«-Philosophie der »Aufmerksamkeit« bekannten Hans Blumenberg die These (vergleiche dazu https://books.google.de/books?hl=de&lr=&id=Dy08CgAAQBAJ&oi=fnd&pg=PT2&dq=hans+blumenberg+philosophie+der+aufmerksamkeit&ots=bbLhJrMPvN&sig=wOi5vOx6nCRP3fZZsK09MbKBOhI#v=onepage&q=hans%20blumenberg%20philosophie%20der%20aufmerksamkeit&f=false), dass in den Zeiten des Zusammenbruchs der Welt, wie wir sie kennen, auch mit einer grundlegenden Transformation von Mythologien, Religionen und Kirchen zu rechnen ist. „Auch das optimistische Menschenbild der liberalen Aufklärung – der Mensch als grundsätzlich vernunftbegabt und dialoggewillt – stürzt in sich zusammen. Neben dem millionenfachen ›Rückzug‹ aus den Religionsgemeinschaften in eine angefochtene, säkulare Individualität steht ein nicht nur in den USA starker ›Kreuzzug‹ gegen die als bedrohlich und verschwörerisch empfundenen Erkenntnisse der Wissenschaften“ (Michael Blume S. 10 f.).
Für Blume bedeutet das, dass nicht Kulturen gegeneinander und Christen gegen Muslime kämpfen, sondern Monisten in den Kulturen und Religionen gegen Dualisten. Nach Blumes Verständnis geht der metaphysische Monismus davon aus, dass die ganze Welt, also auch Gut und Böse, aus einer Quelle stammt. Der bei Echnaton aufkommenden, sich aber erst im Judentum, Christentum und den nachfolgenden Religionen durchsetzende Monismus ist bis heute immer wieder mit gnostisch-dualisitischen und oft antisemitischen Traditionen konfrontiert. „Hans Blumenberg warnte dazu: ›Die gnostische Dämonisierung der Welt macht die Lage des Menschen in ihr zum Notstand‹. Dagegen sei zu verstehen: ›Der paulinische Christus erniedrigte sich zwar zur Menschengestalt, er instrumentalisierte sie jedoch nicht zur täuschenden Verkleidung seines Wesens und seiner Herkunft. Er will leiden und sterben können, um das Schicksal der Menschen zu teilen, damit sie über diese Gleichung Anteil an seiner Todesüberwindung und den Freispruch durch Identitätswechsel haben‹“ (Hans Blumenberg nach Michael Blume S.133).
Das bringt Blume zur Frage, warum ausgerechnet Karl Popper, der Begründer des ›kritischen Rationalismus‹ und des empirisch orientierten Liberalismus (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper), die Hoffnung auf eine nicht autoritäre, sondern freiheitliche Wandlungsfähigkeit des Menschen setzt und sie mit dem Tragen des Kreuzes verbindet. Jeder freie, vernünftige Mensch müsse, so Popper 1945, in der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und Geschichte ›die Last der persönlichen Verantwortung‹ übernehmen: „›Wir tragen das Kreuz dafür, dass wir Menschen sind‹“ (Karl Popper nach Michael Blume S. 39). „Mit der ›Last des Kreuzes‹ beschrieb Popper ein Doppeltes:
Von einem wirklich freiheitlichen Menschen verlangt Popper, auch dann hinzuschauen, wenn es schmerzt. Es war nicht sein Ziel, eine nicht-weltliche Haltung zu verteidigen. Die wissenschaftlich-empirische Weltbetrachtung sei klar anzustreben und der Rückzug aus der weltlichen Verantwortungen und der aus Welt-Erfolg abgeleitete Historizismus sei zu meiden. Er bestand darauf, dass wir nicht den Erfolg anbeten, dass er nicht unser Richter sein kann und dass wir uns nicht von ihm blenden lassen. Und „er vermutete sich ›in dieser Einstellung‹“ mit dem seiner „›Ansicht nach wahren Christentum‹ in Übereinstimmung. Er wisse ›nicht, ob das Christentum ⟩nicht von dieser Welt⟨“ sei; aber das eine sei sicher: „›Es lehrt, dass die einzige Art, in der wir unseren Glauben zeigen können, darin besteht, dass wir den Leidenden und Bedürftigen praktische (und weltliche) Hilfe zukommen lassen‹“ (Michael Blume / Karl Popper S. 42).
In der Folge setzt Popper in einer nüchternen Kombination von Individualismus und Altruismus auf den ideologiekritischen mittleren und schmalen Weg in eine offenen Gesellschaft, die das Streben nach Gewissheit als unerreichbar aufgibt, aber das Streben nach Wahrheit fortsetzt. „Die erkenntnistheoretische Haltung … zum Schmerz verdichtete Popper im Bild des Kreuz-Tragens wie in einem der wenigen kursiv hervorgehobenen Sätze der ›Offenen Gesellschaft‹: ›Wir können aus unseren Fehlern lernen‹“ (Michael Blume S. 43).
Im zweiten Kapitel diskutiert Blume mit den Mitteln der Medienpsychologie und unter Verweis auf Marshall McLuhan, wie das Alphabet zum mächtigsten Medium der Welt werden und warum das Christentum so schnell aus dem Judentum herauswachsen und so viele Glaubensbekenntnisse entwickeln konnte. Im dritten Kapitel versucht er mit den Mitteln der Religionsgeografie eine Antwort auf die Frage, warum Jesus im von Rom besetzten Israel und nicht China aufgewachsen ist. Im vierten Kapitel zeichnet er am Skandal um Max Liebermanns Gemälde ›Der zwölfjährige Jesus im Tempel‹ von 1789 die Rolle der Bildung im Semitismus, den in Deutschland aufkommenden Antisemitismus und die Verfolgung Liebermanns durch das NS-Regime nach (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Der_zwölfjährige_Jesus_im_Tempel_(Max_Liebermann) ).
Letztlich ist es für Blume nicht verwunderlich, dass sich in Zeiten der Digitalisierung und der Klimakrise die Transformation von Religionen in politische und staatliche Zivilreligion weiter beschleunigt. „Menschen im individualistischen Rückzug sparen sich religiöse Kosten, sehen es aber gern, wenn Staat und Politik mytho-loische Bedürfnisse befriedigen … Das wiederum verstärkt die Verbitterung der ›Kreuzzug‹-Dualisten, die hinter freiheitlichen und vielfältigen Gesellschaften böse, ja satanische und antikirchliche Weltverschwö-rungen vermuten … Der Übergang zwischen dem politisch-säkularen Monismus als zivil-religiösem ›Kulturchristentum‹ einerseits und dem religiös-verschwörungsmythologischen Dualismus andererseits wird immer schmaler. Nach meiner Prognose haben also – auch – die Kirchen eine längere Phase der schmerz-haften Schrumpfung vor sich. Sie verlieren in den meisten wohlhabenden Gesellschaften Mitglieder
Bewegungen.
Die Zukunft der verbleibenden monistischen Kirchengemeinden wird sich nach meiner Prognose in einer stärkeren Rückbesinnung auf die semitischen Wurzeln – die Bildungsarbeit, den Kinderreichtum, die Interreligiosität des Noah-Bundes – entfalten. Christinnen und Christen der Zukunft werden mit ihren anders- und nichtreligiösen bzw. zivilreligiösen Freundinnen und Freunden weiterhin multimediale Werke wie ›Star Wars‹ oder ›Harry Potter‹ genießen, dabei aber um ihre mehr oder weniger offensichtlichen Übernahmen christlicher Mythen in diesen Erzählungen wissen. Sie werden in von der Klimakrise zunehmend bedrohten Städten und Kommunen sowie im Internet interreligiöse Netzwerke mit monistischen Musliminnen, Juden, Buddhisten, Humanisten usw. bilden, die sich gemeinsam gegen Dualismus, Verschwörungsmythen und Wissenschaftsfeindlichkeit stellen. Dagegen werden gerade bildungsorientierte Monistinnen und Monisten die dualistisch und also schlecht regierten Regionen der Welt zunehmend verlassen … Die die Realitäten verleugnenden, dualistischen Regime werden durch den Wegzug dieser Reformkräfte eher noch stabilisiert, aber immer schlechter befähigt, den Gefahren der Klimakrise zu trotzen. Nach meiner Prognose gehen wir auf eine Welt zu, in der sich regionale, monistische und multireligiöse ›Archen‹ mit kleineren, aber weiseren Kirchen gegenüber zurückfallenden, ja aussterbenden Religionen behaupten.
Die bisherige Toleranz gegenüber dualistischen und religiös-fundamentalisitschen Feinden von Freiheit, Vielfalt und Wissenschaft wird daher eher abnehmen … Auch die dualisitischen Mythen über einen baldigen Transhumanismus, in dem Menschen ihrem Körper und ihrer Verantwortung digital entfliehen könnten, werden sich angesichts schleppender und ambivalenter Technologie-Fortschritte kaum über neo-gnostische Sekten hinaus entwickeln können“ (Michal Blume s. 121 ff.). In den Kirchengemeinde wird es weniger Prunk und mehr Zeit für Gebete, Begegnungen, Kinder, soziale Berufe und Bücher geben. „Wo das Vorbild des Jehoschua / Jesus lebendig bleibt, relativiert sich die Suche nach dem ständigen Kick und bietet buchstäblich ›Zerstreuten‹ Gelegenheit zur Sammlung. Der jüdische Schabbat und der christliche Sonntag werden nicht verschmelzen, aber einander befruchten, und jährliche Zeiten des ›Digitalfastens‹ werden Feiertage und Lebensentwürfe prägen. Leben auf die Ewigkeit hin kann den Druck verringern, immer weiterklicken zu müssen“ (Michael Blume S. 124).
ham, 28. Dezember 2021