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Verlag Antje Kunstmann, München, 2018, ISBN 978-3-95614-264-2, 138 Seiten, Illustrationen von Matteo
Farinella, Hardcover gebunden, Format 23,5 x 17 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 (A)

Comics und Grafic Novels haben die Kinderstuben vor Jahren verlassen und sind in die Literatur
eingewandert. Die Szene hat das bemerkt und nobilitiert. So wurde Art Spiegelmann 1992 der Pulitzer-Preis
für seinen Comic ›Maus – Die Geschichte eines Überlebenden‹ zugesprochen. Und dieser Tage ist die Grafic
Novel ›Sabrina‹ des Autors und Zeichners Nick Drnso, für den Man Broker Preis nominiert. Deshalb
verwundert es nicht, dass der in Bologna geborene und am University College London promovierte
Neurowissenschaftler Matteo Farinella seine Leidenschaft für Illustration mit seiner wissenschaftlichen
Expertise kombiniert, um Einsichten aus der Hirnforschung für ein breites Publikum aufzubereiten. Seine
zusammen mit der an der University of Oxford promovierten Neurowissenschaftlerin Hana Roš erarbeitete
Bildgeschichte imaginiert eine unfreiwillige Expedition ins menschliche Gehirn, führt unterhaltsam und
verständlich in ausgewählte Fragen der Hirnforschung ein und erinnert an herausragende Stationen aus ihrer
Geschichte (vergleiche dazu https://www.book2look.com/vBook.aspx?id=978-3-95614-264-2).

Nach den ersten Comics erwartet man eine Liebesgeschichte zwischen einem Studenten und einer jungen
Frau, die in einem Buch liest. Aber die Frau geht nach den ersten Bildern verloren und taucht erst wieder
ganz am Ende der Erzählung auf. Der junge Mann befindet sich unversehens in einem Wald statt in einem
Liebesabenteuer. Dort begegnet er den Hirnforschern Santiago Ramón y Cajal (1852 – 1934) und Camillo
Gogli (1843 – 1926). Die Gebilde, die er als Bäume ansieht, stellen sich im Gespräch mit Cajal und Gogli als
Neuronenbäume heraus. Der Student ist im Gehirn gelandet.

Kapitel eins führt in die äußere Gestalt des Gehirns ein, in seine Morphologie. Gogli konnte1873 mithilfe
einer neuen Färbetechnik Nervenzellen mit ihren endlosen Verzweigungen in einer bis dahin nicht für
möglich gehaltenen Schärfe und Klarheit unter dem Mikroskop sichtbar machen. Cajal konnte „1888 zeigen,
dass verschiedene Zelltypen sich im Kleinhirn einander annähern, ohne sich zu berühren, was zumindest
nahelegte, dass die Verbindung zwischen Nervenzellen durch Kontakt und nicht durch Kontinuität zustande
kam. Die Frage war, wie sich der Impuls von einer Zelle auf die andere übertrug. Unabhängig voneinander
postulierten Ramón y Cajal und Arthur van Gehuchten das Gesetz der dynamischen Polarisation, das besagt,
dass Dendriten die Erregung zum Zelleib hinleiten, während Axone diese zum nächsten Neutron weiterleiten.
Diese physiologische Hypothese zur Erregungsleitung im Nervensystem blieb zwar vorerst ebenso
spekulativ wie Charles S. Sherrington Annahme, dass sich zwischen den Nerven ein kleiner Spalt befinde,
für den er den Namen ›Synapse‹ fand, doch war die Mehrzahl der Anatomen um 1900 von der Richtigkeit
der Neuronenlehre überzeugt“ (Michael Wagner, Eine sehr kurze Geschichte der modernen Hirnforschung.
In: Aus Politik und Zeitgeschehen 44 – 45 / 2008 S. 15).

Der Student begegnet Sherrington dann im Kapitel ›Pharmakologie‹. Was ein ›Vesikel‹ ist, erklärt ihm der
deutsch-englische Biophysiker, Neurologe und Nobelpreisträger Bernhard Katz (1911 – 2003) mit folgenden
Worten: „Als ich in den 1950ern am University College London gearbeitet habe, entdeckte ich, dass die
synaptische Übertragung nicht kontinuierlich passiert. Vielmehr werden Neurotransmitter in vielen kleinen
Paketen freigesetzt. Ein solches Paket nennt man Quantum, und es ist in ein Vesikel eingeschlossen. Jede
Synapse enthält eine bestimmte Menge an Vesikeln, und sobald ein Neutron ein Signal aussendet, kommen
diese Vesikel dicht an die Neuronenoberfläche: Sie verschmelzen mit der äußeren Membran: Und die
Neurotransmitter werden aus dem Vesikel nach draußen freigesetzt“ (Farinella / Roš S. 42). Das Kapitel
endet mit der Visualisierung der Funktion der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Glutamat
und Gaba und weiterer Substanzen, die die normale Aktivität der Neurotransmitter beeinflussen.

Im Kapitel ›Elektrophysiologie‹ begegnet der Student Luigi Galvani (1737 – 1798) und dann auch Alan
Hodgkin (1914 – 1998). Hodgkin hatte zusammen mit Andrew Fielding Huxley und John Carew Eccles den
Ionen-Mechanismus entdeckt, der sich bei der Erregung und Hemmung in den peripheren und zentralen
Bereichen der Nervenzellmembran abspielt. Eccles wird in der Szene vernachlässigt. Das Kapitel
›Plastizität‹ erinnert an Eric Kandels Forschungen an der Meeresschnecke (Aplysia) zum Verhaltens- oder
prozeduralen und zum Wissens- oder deklarativen Gedächtnis und weiter an Iwan Pawlows (1849 – 1936)
Experimente zum Zusammenhang von Speichelfluss und Verdauung. Das Kapitel ›Synchronizität‹ macht
schließlich mit dem Erfinder des Elektroenzephalografen Hans Berger (1873 – 1941), der Vorstellung der
Synchronizität und dem sogenannten Dualismus-Problem vertraut: Ist der Geist etwas anderes als das Gehirn
oder ist er ein Produkt des Gehirns? Und: Meint ›Geist‹ eine Art ›Seele‹ ? Bergers Antwort steht wohl für die
Position der Autoren: „Natürlich denken Wissenschaftler nicht in solchen Kategorien“ wie denen der ›Seele‹.
„Aber der Geist, oder was auch immer uns ein Ich-Gefühl gibt, ist die letzte Bastion des Irrationalen. Eine
biologische Erklärung für den Geist zu finden, ist die wirklich größte Herausforderung an die
Neurowissenschaft. Wenn Sie Antworten auf diese Frage suchen, müssen Sie sich in das alte Spukschloss
unseres Bewusstseins begeben“ (Farinella / Roš S. 115 ff.). Im „Spukschloss unseres Bewusstseins“ wird
dann weiter erklärt: „Es gibt keine Gespenster, und es gibt auch keine Seele! Die Vorstellung von dir als
einem ›Selbst‹, das dein Gehirn bewohnt, ist eine reine Illusion; ein Bild, das das Gehirn von seinem eigenen
Körper und dessen Aktivitäten hat … Vielleicht liegt darin das wahre Geheimnis des menschlichen Gehirns:
Es ist ein großartiger Geschichten-Erzähler. Wir haben die Fähigkeit, uns selbst zu täuschen und Dinge zu
sehen, die es gar nicht gibt …“ (Farinella / Roš S. 117; 124 ff.). Im Spukschloss taucht dann auch wieder die
verloren gegangene Frau auf.

Im Epilog klärt sich ihr Geheimnis auf: Sie ist – wie auch der Student – eine Figur im Comic. „Unsere
Existenz hängt von den Gehirnen der Leser ab, die imstande sind, Bewegungen zu sehen und Geräusche zu
hören … … die nur auf dem Papier existieren. Unser Gehirn schafft es unglaublich gut, Muster und
Zusammenhänge zu erkennen und hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken … … Allerdings müssen wir
uns davor hüten, Mutmaßungen über das anzustellen, was wir nicht wissen – das ist die goldene Regel der
Wissenschaft“ (Farinella / Roš S. 132f.). Farinella und Roš haben sich in ihrem Comic genau an diese Regel
gehalten. Wohl unter anderem auch deshalb dürfte ihr Buch mit dem Prix du livre „Sciences pour tout“ und
dem „Best Science-Themed Comic-Award“ des World Science Festivals ausgezeichnet worden sein.
Dass sich die schon in der Antike gestellten Fragen nach dem Sitz der Seele, nach dem Gehirn als dem Organ
des Denkens, der Wahrnehmung und der Beurteilung von Gut und Böse und nach dem Zusammenhang von
Körper, Seele und Geist mit dem Ausschluss aus der Wissenshaft nicht erledigen, zeigen auf je eigne Weise
Wolf Singers 2005 öffentlich geäußertes Empfinden, dass sich die Hirnforschung in einer Sackgasse befindet
(vergleiche dazu Ulrich Schnabel, Wolf Singer, Denker des Denkens. In: Die Zeit Nr. 11 vom 10. März 2005,
S. 11), Markus Gabriels 2015 skizzierte Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert ›Ich ist nicht Gehirn‹
und nicht zuletzt auch die Kritik des renommierten Psychiatrie- und Philosophieprofessors Thomas Fuchs an
der reduktionistischen Umdeutung der klassischen Fragestellung im Stil der »Nichts weiter als …-
Tradition«: Nach Fuchs machen sich prominente Neurowissenschaftler daran, Seele, Geist und Selbst als
idealistische Gespenster endgültig aus der Welt zu verbannen. Aber das Gehirn wird nur verbunden mit
einem lebendigen Organismus und nur in ständigem Austausch mit seiner sozialen und kulturellen Umwelt
zum Träger des Geistes. Wer Subjekt, Seele und Geist in physikalische Prozesse auflöst, schafft Götzenbilder
des Lebendigen (vergleiche dazu Thomas Fuchs, Ecology of the Brain. The Phenomenology and Biology of
the Embodied Mind. Oxford University Press, Oxford 2018).

ham, 9. September 2018

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