Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 2. Februar bis 3. Juni 2018 im Haus der Kunst München,
herausgegeben von Petra Giloy-Hirtz mit einem Vorwort von Okwui Enwezor und Texten von Kiki Smith,
Ulrich Wilmes, Virginia Raguin, Julia Bryan-Wilson und der Herausgeberin
Haus der Kunst, München / Prestel Verlag München . London . New York, 2018, ISBN 978-3-7913-5625-9,
224 Seiten, 108 farbige und 52 s/w Abbildungen, Hardcover mit Glanzfolienprägung auf Cover und
Rückseite, gebunden, Format 27,5 x 22,1 cm, € 49,95 (D) / € 51,40 (A) / CHF 69,00
Von den 1994 auf der Art Cologne gesehenen hunderten von Arbeiten ist mir allein der mit vergoldetem
Stacheldraht umhüllte vom Körper getrennter Kopf von Kiki Smith in eindrücklicher Erinnerung geblieben.
Er war auf einem eigenes gefertigten Stahltisch installiert und hat an die Dornenkrone Christi und die
gekrönten Häupter erinnert, die in der Zeit des Großen Terrors in den Körben unter den Guillotinen gelandet
sind. Von Kiki Smiths Ausstellung ›Her Home‹ in der Kunsthalle Nürnberg im Jahr 2008 blieb die Kotspur
von ›Tale‹ hinter der Skulptur einer Frau im Gedächtnis (vergleiche dazu http://
contemporaryart2010.blogspot.com/2010/01/march-17_10.html).
Ihr mit vergoldetem Stacheldraht umhüllter Kopf lässt an Reliquiare denken, denen im Mittelalter „mehr
Wert beigemessen wurde als Land, politischer Macht oder übertragbarem Vermögen“ (Virginia Raguin S.
135). Smith hat mit dieser und vergleichbaren Skulpturen die mit Reliquien verbundene Vorstellung von
körperlichen Gegenwärtigkeit wiederbelebt und „erklärt, dass der Katholizismus und die Kunst ›gut
zusammenpassen, weil beide an die körperliche Manifestation der geistigen Welt glauben‹“ (Virginia
Raguin / Kiki Smith S. 136). Die in der Werkgruppe der ›Kleinen Arbeiten‹ gezeigten Organe ›Untitled (7
organs)‹, 1992, galvanisch belegter Gips in Silber, Kupfer und Messing, diverse Maße, die abgehackten Füße
›Untitled‹, 1993, Glas und Gips17,1 x10,2 x 10,2 cm und der Arm ›Silver Vein Arm‹, 1992, Bronze und
Silber, 8,9 x 40,6 x 15,2 cm gehören ebenso in diesen Kontext wie die abgeschnittene Hand ›Sabotage‹,
1993, Bronze, Tinte auf Musselin und Faden, 5,7 x 90,2 x 17,8 cm (vergleiche dazu https://
www.randomhouse.de/leseprobe/Kiki-Smith/leseprobe_9783791356259.pdf S. 174 und 175) und ihre ›Virgin
Maria‹ ohne Haut und Haare, aber mit sichtbaren Muskeln (vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=kiki+smith,+Virgin+Maria%E2%80%BA&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjz8-
X3gKncAhWJ_iwKHd7-Bx4QsAQIKg&biw=1656&bih=912#imgrc=yyDudMUeSIepzM:).
Smiths Kotspur hat mit Arbeiten wie ›Train‹, 1993, wax and glass beads und ihrer Auseinandersetzung mit
Menstruationsblut und anderen Körperflüssigkeiten zu tun (vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=kiki+smith+train&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=AZ0YlAJWjO6WsM%253A%252CUoKfexoP_Psq
DM%252C_&usg=__Kr5PfodBFGlY2KWx_UOdFVZFH4%
3D&sa=X&ved=0ahUKEwiAkt6viKncAhWDXSwKHTkMCW8Q9QEILTAA#imgrc=AZ0YlAJ
WjO6WsM:), so auch mit ›Untitled‹, 1990, einer Arbeit, in der sie körpereigene Flüssigkeiten wie Speichel,
Tränen, Erbrochenes, Eiter, Schleim, Urin und Samen in 12 silberbeschichteten und beschrifteten Glaskolben
gesammelt, aufbewahrt und im Verborgenen präsentiert hat. Und schließlich auch mit ›Digestive System‹,
1988, duktiles Eisen, 159 x 72 x 10 cm, einer Arbeit, die durch ihr Material duktiles Eisen eine völlig eigene
andere Ausstrahlung entwickelt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=kiki+smith+,
+digestive+System&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjclaCIiqncAhXEfywKHcBnCC
UQsAQIKg&biw=1656&bih=912).
Beide Werkstränge beziehen sich letztlich auf die Überzeugung, dass die ganze Weltgeschichte im Körper
gespeichert ist: „I always think the whole history of the world is in your body” (Kiki Smith, zitiert nach
http://www.artnet.com/artists/kiki-smith/). Kiki Smiths Vater Tony Smith hatte in seinen Skulpturen noch auf
den Minimalismus gesetzt und Kiki hatte als Jugendliche Papiermodelle für den Vater gebaut. „Zwar
entpuppten sich auch Tony Smiths skulpturale formal-geometrische Abstraktionen häufig ›als stark
sublimierte Variationen des menschlichen Körpers in extremis‹ […]. Kiki Smith absorbiert die
minimalistische Ästhetik, die sie während der Sechzigerjahre in der Skulptur ihres Vaters beobachtet, in der
sie sozusagen aufwächst und die höchst bedeutsam für sie ist – ablesbar nicht nur im Hinblick auf die serielle
Verwendung von Motiven in ihren Prints wie auch in ihren Installationen. Aber in ganz anderer, radikaler
Weise macht sie in ihrem Werk den menschlichen Körper zu ihrem Thema: ›[…] in her hands nearly two
decades later, it has been infused with the fragility, brutality and emotional urgency of the >sexed body<‹.
Sie untersucht ihn, experimentiert mit ihm, amputiert seine Glieder […], entleibt einzelne Organe, zeichnet
sie (1984) und beginnt 1985, sie in Bronze zu gießen. Sie gibt dem Körper äußere Gestalt, zunächst mit
weichen Materialien wie mit Gampi-Papier (1987), und schafft seit 1991 dann die Figur als ganze in
Lebensgröße aus Bienenwachs. Der Körper bei Kiki Smith ist nackt und schutzlos […], nicht heroisch
leidend, sondern kreatürlich; gekrümmt, auf Knien, von der Decke herabhängend, unvollkommen oder
seziert: Brüste, Bauch und Becken, Ohr, Mund und Zunge, Gehirn, Geschlechtsteile. Entgegen der
figurativen Tradition ist sein Inneres nach außen gekehrt: Die Organe wie Magen und Gedärme und die
Flüssigkeiten, die er verliert – Blut, Schweiß. Milch und Tränen, Sperma –, manifestieren sich in Objekten
und Zeichnungen“ (Petra Giloy-Hirtz S. 17 f.).
In ihrem Elternhaus ist Smith mit der Totenmaske ihrer Großmutter aufgewachsen und sie hat dann auch
Totenmasken von ihrem verstorbenen Vater und ihrer an Aids gestorbenen Schwester angefertigt. Vielleicht
kann man deshalb auch sagen, dass diese Masken wie ihr gesamtes Werk eine Art Aufstand gegen den Tod
sind – und ein Versuch der Heilung. Wer sich auf das von Smith in ›Procession‹ inszenierte Drama des
Körpers, auf den Tod und damit auf die Möglichkeit einlässt, über das nachzudenken, was Angst macht, ist
schon auf dem Weg zur Heilung. „Ich glaube, dass (mein Werk) sehr oft ein Heilen ist: Es versucht zu heilen,
es repariert, indem es Menschen zusammennäht. Menschen werden gehäutet, geschunden, Ich selbst, ich
versuche zusammenzunähen …“ (Kiki Smith, 1990, S. 34). Smith will mit den in ihrer Ausstellung
›Procession‹ versammelten Werken zwar nicht predigen, sondern nur für sich selbst sprechen: „›I will not
preach. It´s for my own life‹“ (Kiki Smith S. 31). Aber der Betrachter hat die Freiheit, seine eigenen Schlüsse
zu ziehen und „die Zeichen zu lesen und zu deuten“ (Petra Giloy-Hirtz S. 31).
ham, 19. Juli 2018
download