S. Hirzel Verlag, Stuttgart, 2019, ISBN 978-3-7776-2788-5, 195 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 21,5 x 13,8 cm, € 18,80 (D)
Der 1944 in Deuerling geborene Zeitforscher Karlheinz A. Geißler war von 1975 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 als Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Er ist mit fünf Jahren an Kinderlähmung erkrankt, war ein Jahr lang ans Bett gebunden, musste das Gehen ein zweites Mal lernen und hinkt seither. Er hat schon als Kind gelernt, auf vieles zu verzichten und sich auf das zu konzentrieren, was er besser als andere kann, so etwa das Warten und das Einkalkulieren von genug Zeit. Geißler ist bis heute zur Langsamkeit gezwungen und kann sich im Alter außerhalb seiner Wohnung nur noch im Rollstuhl bewegen. Er hat ein Leben lang über Zeit nachgedacht und mehr darüber geschrieben als andere sich zumuten zu lesen. Er hat keinen Führerschein und lebt seit über dreißig Jahren ohne Uhr, weil er sich von keiner Uhr das Leben diktieren lassen will.
Mit seinen 75 Jahren ist Geißler so frei, zu sagen, was er denkt. So macht der gewesene Pädagoge deutlich, dass die schulische Erziehung zu uhrzeitkompatibler Pünktlichkeit zu keiner Zeit darauf ausgerichtet war, „aus Untertanen zeitsouveräne Bürger oder Bürgerinnen zu machen. Umfang und Aufwand der Erziehungsmaßnahmen hatten vor allem den Zweck, für eine […] vor allem auf Industriearbeit ausgerichtete Gesellschaft brauchbare und pflichttreue Untertanen bereitzustellen. Die arbeitsteilige Organisation des Fabrikbetriebs und die Abläufe der Fertigung verlangten die enge zeitliche Abstimmung einer großen Zahl von Arbeitskräften, vor allem aber verlangte sie deren koordinierten, sprich: pünktlichen Arbeitsbeginn. Arbeiter hatten, um einen reibungslosen Betrieb in der Fabrik sicherzustellen, wie Maschinen zu funktionieren. Konkret: Sie sollten so pünktlich sein, wie die Eisenbahn das niemals war […]. Das hat auch der große Aufklärer Immanuel Kant nicht viel anders gesehen und Erziehungsmaßnahmen zur Verpünktlichung junger Menschen gefordert: ›So schickt man Kinder anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird …‹“ (Karlheinz A. Geißler / Immanuel Kant S. 154).
Möglicherweise kann Geißler aber auch deshalb so frei reden, weil er das Ende des langdauernden Monopols der Uhrzeit heraufdämmern sieht. „Die Uhrzeit – so lautet die zugegebenermaßen etwas steile These dieses Buches – verlässt die Komfortzone ihres langdauernden Monopols. Zwar wird die Uhrzeit auch in der Zukunft im Spektrum des Alltagshandelns weiter eine wichtige Rolle spielen, sie bekommt aber, was die Organisation des Zeitlebens anbelangt, starke Konkurrenz, verliert an Einfluss und Wirkung und wird immer mehr und öfter zu einer Zeit neben anderen. Die Uhr ist kein prinzipiell unentrinnbares Schicksal mehr. Nicht die Zeit, aber die Uhrzeit gerät aus den Fugen. Und so ist es denn keine Überraschung, dass sich mit dem Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends ein deutlicher Einflussverlust der Uhr und ihrer Zeigerzeit auf das alltägliche Zeitgeschehen erkennen und feststellen lässt. Es handelt sich dabei nicht um einen Verfall unseres traditionellen Zeithandelns, es handelt sich vielmehr um seine umfassende Transformation“ (Karlheinz A. Geißler S. 18).
Die Uhr hat als Vorbild, Modell, Abbild und Symbol an Einfluss verloren. „Lange sah man in ihr das verkleinerte Ebenbild des Kosmos und seiner Ordnung. Sie war die Vorlage, zuweilen auch die Schablone für die Sicht auf die Welt und deren Interpretation, und sie war in vielerlei Hinsicht ein Leitbild für die dort hergestellte soziale Ordnung […]. Der Entdecker der Planetengesetze, Johannes Kepler, ließ als einer der Ersten verlauten: ›Mein Ziel ist es, zu zeigen, dass die Himmelsmaschine weniger einem göttlichen Lebewesen als einer Uhr gleicht‹ […]. Die göttliche Schöpfung begann bekanntlich mit dem Imperativ: ›Es werde Licht!‹, die Uhrzeitmoderne startete mit dem Diktat: ›Es werde Zeit!‹“ (Karlheinz A. Geißler / Johannes Kepler s. 83 ff.). Das Vorbild Uhr lieferte den Arbeitswissenschaftlern, den Ökonomen und den Politikern in der Industriemoderne die Vision eines Maschinenmenschen, der in der Lage ist, menschliche Kraft in mechanische Arbeit zu transformieren. Damit wird die Uhr zur Diktatorin der Zeit und der Mensch kann zur Pünktlichkeit erzogen werden.
„Nach einem inzwischen ein halbes Jahrtausend andauernden, durch Versuch und Irrtum vorangetriebenen Prozess der Veruhrzeitlichung wächst die Einsicht, dass es eine Zeitexistenz jenseits des Uhrzeitgehorsams gibt und dass es im Leben um Wichtigeres geht als um pünktliches oder unpünktliches Erscheinen und um die zu frühe oder zu späte Ankunft eines Zuges“ (Karlheinz A. Geißler S. 192). In dieser Zeit des Umbruchs gewinnt die mit dem altgriechischen Gott Kairos verbundene Einsicht an Bedeutung, dass es mehr auf den rechten Zeitpunkt und auf selbstgewählte Prioritäten ankommt. Urbild aller Kairos-Darstellungen ist die verschollene Bronzeplastik des Lysipp aus Olympia, von der nur noch Bruchstücke einer römischen Marmorkopie erhalten sind. Sie zeigt einen weit ausschreitenden nackten Jüngling mit kahlgeschorenem Hinterkopf und Flügeln an den Schultern und Füßen. Er huscht stets auf Zehenspitzen umher und steht niemals still. Niemand weiß, wann er wo sein wird und ist er da, ist er auch schon wieder weg. Ein Haarschopf ziert seinen kahlen Schädel, eine Balkenwaage seine linke und ein Rasiermesser seine rechte Hand. Die Redewendung „Die Gelegenheit am Schopfe packen“ bedeutet, dass man vorbereitet sein sollte für den rechten Augenblick; dann kann man zugreifen. Wer zugreift, sich entscheidet, eigene Prioritäten setzt und Verantwortung für das eigene Tun übernimmt, wird Lebenserfahrung gewinnen und erfüllte Zeiten erleben.
ham, 24. Juli 2019