Sep. 16

Religiöser Humanismus im Leben und Werk von Thomas Mann

Patmos Verlag, Ostfildern 2025, ISBN 978-3-8436-1589-1, 448 Seiten, Hardcover gebunden mit Leseband und Schutzumschlag, Format 22,5 × 14,3 cm, € 46,00

Als Thomas Mann fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem autobiografischen Essay „Meine Zeit“ für eine neue Verbindung von Freiheit und Gleichheit plädiert und ihre Verwirklichung eine »Angelegenheit des Weltgewissens« nennt, denkt er nicht an einen Rückgriff auf die dünn-rationale und optimistische allgemeine Menschenliebe des 18. Jahrhunderts, sondern an einen Humanismus, der auch die tiefen Schichten der menschlichen Natur aufgenommen und verwandelt hat und so eine Versöhnung von Humanität und Religiosität bewirkt. 1945 formuliert er dies so: »Religion ist Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das der Mensch ist. Ein neuer Humanismus ist nötig, – nicht die dünn-rationale und optimistische allgemeine Menschenliebe des 18. Jahrhunderts, sondern ein religiös fundierter und gestimmter Humanismus, der durch vieles hindurchgegangen ist und alles Wissen ums Untere und Dämonische hineinnimmt in eine Ehrung des menschlichen Geheimnisses« (Thomas Mann nach Karl-Josef Kuschel, S. 15). Es braucht also so etwas wie eine Magna Charta des Menschenrechtes, die nur durch eine Weltregierung gewährleistet werden kann. Und weiter eine gemeinsame Verwaltung der Erde, zu der auch eine gerechte Güterverteilung gehört.

In Abgrenzung zum faschistischen Rassismus, Militarismus und seiner kriegerischen Raumeroberung war Thomas Mann zur Überzeugung gekommen, dass es ein klares Bekenntnis zur Unterscheidung von Gut und Böse braucht. Als Zeuge moralisch verkommener Zeiten findet er das christliche Ethos jetzt unverzichtbar, und zwar »als richtendes und die Gewissen schärfendes Korrektiv« wider die »Schänder« des Sittengesetzes (vergleiche dazu und zum Folgenden S. 25 f.). Vor allem ist er jetzt der Überzeugung, dass die Gebote des Christentums wiederherzustellen sind. „Denn gerade aus ihnen müsse »das Grundgesetz für das künftige Zusammenleben der Völker abgeleitet werden«, vor dem sich alle würden beugen müssen. So eine Rede aus dem Jahr 1943 … Schlüsselwort für diese geforderte neue Grundhaltung ist das Stichwort »neuer Humanismus«“ (Thomas Mann nach Karl-Josef Kuschel, S. 25 f.).

1945 formuliert er dies so: »Mit Religion meine ich nicht Dogma und Konfessionen. Wenn Roosevelt von Religion sprach, so dachte er auch nicht an diesen oder jenen besonderen Kult, sondern sah über den Unterschied der Bekenntnisse hinweg und erfüllte den Begriff mit allem, was es auf Erden an Ehrfurcht gibt vor dem Geheimnis über uns, um uns und in uns, dem Geheimnis, das schweigend, aber unaussprechlich Rechenschaft fordert für unsere Taten und Gedanken. Religion ist Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das der Mensch ist. Ein neuer Humanismus ist nötig …«. 

»Religion ist Ehrfurcht«. Das ist die Formel, mit der Thomas Mann, jetzt, 1945, den universalistischen Geist des Christlichen bestimmt und verteidigt, einen Geist, der sich freilich nicht durch Partikulares wie Dogma und Konfession einengen lassen will … Und die Werte der Demokratie brauchen, weil immer gefährdet, eine transzendente Verankerung, eine Rückbindung an das Absolute, laufen sie doch »Gefahr, der allgemeinen Sinnentleerung des gegenwärtigen Weltzustands zu verfallen und die Gegenkräfte anzufachen, die nun im Faschismus zur Herrschaft gelangen: eben ›die Revolution der leeren Gewalt, will sagen des geistigen Nichts‹. Und doch war der gegenüber Kirche und Dogma ungläubige Thomas jener Mann, welcher sich schließlich 1941 in den USA der liberal-religiösen Unitarischen Kirche angeschlossen hat «“ (Karl-Josef Kuschel / D. Borchmeyer, S. 215 f.).

Im schon erwähnten autobiografischen Essay »Meine Zeit« kommt Thomas Mann dann auch auf das sein Alterswerk bestimmende Thema Gnade zu sprechen und damit auf einen Grundgedanken, „der seine Herkunft aus dem Protestantismus nicht verleugnen kann: Leben ist schuldig werden und steht unter der Notwendigkeit der Rechtfertigung, der Gutmachung. Wie aber kann ein Künstler sein Leben gutmachen, wenn nicht durch die eigenen Werke? Wer aber auf seine eigenen Werke setzt, gerät immer tiefer in den Strudel von Ungenügen, Versagen und Schuld. Schuld zum Beispiel auch anderen gegenüber, auf deren Kosten man gelebt hat. Die Spirale droht, ins Unendliche sich zu drehen. Ein Kreislauf, gnadenlos. Daher die Sehnsucht nach Gnade, nach Gnädigsein, nach Gerechtfertigt-Sein, nach Nichtanrechnen der Schuld.

Er weiß ja, und er hat es sogar öffentlich gesagt: Für einen Künstler setzt sich der Drang nach Gutmachung in jedem Werk fort, das er geschrieben hat. Da gebe es kein Rasten und kein Genügen. Jedes neue Unternehmen sei der Versuch, für das vorige aufzukommen, es herauszuhauen und seine Unzulänglichkeit gutzumachen. Und so werde es gehen bis zuletzt. Was also? Drohe »Verzweiflung« als das »Lebensend«, hatte Thomas Mann öffentlich gefragt, um darauf gleich den »Trostgedanken« anzufügen: Es bleibt am Ende nur der Gedanke »an die Gnade, diese souveränste Macht, deren Nähe man im Leben schon manchmal staunend empfand und bei der allein es steht, dass Schuldiggebliebene als beglichen anzurechnen«. Was aber folgt daraus? … 

Thomas Mann hat gewiss nicht viel gehalten vom real existierenden Kirchenprotestantismus seiner Herkunft, aber er hat genau verstanden, worin das Zentrum der »Rechtfertigungslehre« besteht, die historisch nun einmal das Herzstück »protestantischer« Theologie ist. Martin Luther hatte aus verengter, angstmachender kirchlicher Frömmigkeit die Befreiungskraft der paulinischen Gnadentheologie entdeckt und kirchenkritisch zugespitzt. Entsprechend kann ein Theologe wie Hans Küng zu den Aussagen des Dichters zum Thema »Gnade« schreiben: »Wollte man traditionell theologisch formulieren, wäre mein Versuch zu sagen: Bei aller Bedeutsamkeit der Werke geschieht – auch nach der Erfahrung dieses Schriftstellers – die definitive Rechtfertigung des Menschen doch nicht durch die Werke, sondern durch die Gnade allein – aufgrund schuldbewusster, staunender Zuversicht, aufgrund von vertrauendem Glauben! Nein, kein allem Zweifeln enthobenes Glauben, sondern: Simul justus et peccator, zugleich Gerechter und Sünder, Glaubender und Zweifelnder!« …

»Im Leben«, im persönlichen Leben, hatte Thomas Mann gesagt. In seiner Ansprache vor Hamburger Studenten 1953 wird er an diesem Punkt noch konkreter. In einer für ihn so ungewöhnlichen, öffentlichen, emotionalen Bewegung kann er – in Erinnerung an Gottesdienste seiner Lübecker Kindheit und Jugend – erklären: 

»Gnade. Nicht umsonst spielt dieser Begriff in meine späteren dichterischen Versuche – schon in die Josephs-Geschichten, dann in den ›Faustus‹, dann in die Wiedererzählung der Gregoriuslegende – immer stärker herein. Gnade ist es, was wir alle brauchen, und jenes ›Gnade sei mit euch‹, mit dem in der Lübecker Marienkirche allsonntäglich die Predigt begann, – wie mein Blick über Sie hingeht, möchte ich es, das Herz bedrängt von dieser gefährlichen Zeit, jedem einzelnen von Ihnen persönlich, der deutschen Jugend insgesamt, Deutschland selbst und unserem alten Europa wünschend, zurufen: Daß Gnade mit ihm sei und ihm helfe, sich aus Wirrnis, Widerstreit und Ratlosigkeit ins Rechte zu finden«“ (Karl-Josef Kuschel / Thomas Mann , S. 342 f.).

Karl Josef Kuschel setzt 70 Jahre nach dem Tod von Thomas Mann wie dieser und wie Hans Küng in seinem Projekt Weltethos trotz aller Kritik von Theologen wie Michael Welker (vergleiche dazu Michael Welker: Hans Küngs Projekt „Weltethos“, in: Evangelische Kommentare 1993) und Philosophen wie Robert Spaemann (vergleiche dazu Robert Spaemann: Weltethos als „Projekt“, in ders.: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, S. 525–538, Nachdruck aus Merkur 1996, Heft 570/571, S. 893–904, hier: S. 532–533) auf die allmähliche Durchsetzung einer Weltzivilisation und eines Weltgewissens. „Wer das literarische Vermächtnis Thomas Manns ernst nimmt, wird allen Versuchen einer gespaltenen Globalisierung wehren, wird jedes halbierte Weltbürgertum verabscheuen, das gerne die Wirtschaft und den Tourismus zu eigenem Vorteil globalisiert, aber weniger gern das eigene Bewusstsein, das mit Wollust die Kapital- und Flugbewegungen weltweit vernetzt, nur nicht die eigenen Lernprozesse.

Der internationale Kultur- und Religionsdialog aber ist heutzutage eine Aufgabe von friedensethischer Bedeutung. Frieden aber gibt es nicht ohne Weltgerechtigkeit und eine rechtebasierte internationale Ordnung. Und beides gibt es nur auf der Basis gemeinsamer, d. h. universal gültiger und geteilter Werte in der einen Menschheit, verankert in dem, was Thomas Mann »Weltgewissen« genannt hat.

In der Tat: Eine Weltzivilisation setzt »gemeinsame moralische Maßstäbe und Werte« voraus, »die das Fundament eines globalen Ethos« bilden, wie es in einem vom damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, angestoßenen Manifest »Brücken in die Zukunft« schon aus dem Jahr 2001 heißt. Auf UNO-Ebene sollten Grundprinzipien eines seinerzeit international und interreligiös vieldiskutierten »Projektes Weltethos« aufgenommen werden. Ich erinnere an die Neujahrsbotschaft Thomas Manns nach Japan 1950/51 mit der Anspielung auf seinen Weimar-Besuch im Goethe-Jahr 1949 und seine Besichtigung der Wartburg bei Eisenach: »Es ist einerlei. Christentum, Buddhismus, Islam, Hinduismus, Shintoismus und wie die Bekenntnisse heißen, sie werden eins werden in der Andacht vor dem Geheimnis menschlicher Existenz, in der religiösen Aufgabe, nach Menschenvermögen die Kluft aufzuheben zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, in der universalen Verpflichtung zu einem anständigen Benehmen vor Gott«“ (Karl-Josef Kuschel / Thomas Mann, S. 414 f.).

ham, 15. September 2025

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