Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 26.3. – 18.7.2021 in der Staatsgalerie Stuttgart
Chr. Belser Verlag | Staatsgalerie Stuttgart, 2021, ISBN 978-3-7630-2872-6, 123 Seiten, zahlreiche schwarz weiße und farbige Bilder, Broschur, Format 28 x 21 cm, € 14,90
2021 sind Joseph Beuys und seinem Werk aus Anlass seines 100. Geburtstag zahlreiche Ausstellungen unter anderem in der Bundeskunsthalle Bonn, im Hamburger Bahnhof, Berlin, im K 20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, im Kaiser Wilhelm Museum in seiner Geburtsstadt Krefeld, im Lehmbruck Museum, Duisburg und im Hessischen Landesmuseum Darmstadt gewidmet.
Der Staatsgalerie Stuttgart kommt die Ehre zu, den 1984 kurz vor der Eröffnung des Stirling-Baus von Beuys eingerichteten letzten und seither unverändert erhaltenen musealen Raum zu beherbergen. „Der Künstler reiste zum Aufbau an und konstatierte zunächst lakonisch: ›… ein Museum ist immer viel zu mickrig …‹“ (Joseph Beuys nach Christiane Lange S. 6) und hat dann nach einer langwierigen Auseinandersetzung mit dem damaligen Direktor Peter Beye durchgesetzt, dass er nicht den ihm zunächst zugewiesenen kleineren, sondern wie Picasso und Schlemmer einen der annähernd doppelt so großen Eckräume im ersten Stockwerk der Staatsgalerie erhält. „Die Ausstellung geht von diesem Eckraum aus“ (Ina Conzen).
In dem Raum fanden dann sechs formal ganz unterschiedliche und zeitlich weit auseinander liegende Arbeiten Platz: eine Vitrine mit Objekten aus den Jahren 1949 – 1972, zwei kleinformatige Plastiken – die ›Kreuzigung‹ (1962 – 1963) und der ›Friedenshase‹ (1982) – und die beiden großen Installationen ›Plastischer Fuß Elastischer Fuß‹ (1969 – 1986; vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/08A56B1E469B0D2D97D720B2153CD0A5.html) und ›dernier espace avec intorspecteur‹ (1964 – 1982; vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs.beuys_2021/werk/einzelansicht/75AED4F04E88AB29B3204ABE74CCA589.html), letztere mit dazugehöriger Vitrine. Dazu kam schließlich auch noch Andy Warhols Gemälde ›White Desaster‹ (vergleiche dazu https://www.kunstbeziehung.de/work.php?sd%5BwCode%5D=5d106b57e732f), das die Aufnahme eines tödlichen Autounfalls dokumentiert und wie ein Gegenentwurf zu Beuys’ mit seiner Kreuzigung und seinem Friedenshasen angespielten christologischen Denken anmutet: „Tod und Auferstehung Christi sind für Beuys von größter Relevanz, und zwar verstanden als geistiger Vorgang, der in der Gegenwart – und Zukunft – spürbar bleibt als ein ›Gewebe von Kraftzusammenhängen in der Welt‹. Um das Vorhandensein dieser geistigen Substanz als Möglichkeit innerer Verwandlung wahrzunehmen, muss sich der Mensch grundsätzlich bewegen und aktivieren: ›Es muss das Bewegungselement sehr stark betont werden. Wie man das jeweils macht, ist eine andere Frage … Die Form, wie diese Verkörperung Christi sich in unserer Zeit vollzieht, ist das Bewegungselement schlechthin.‹
Da es Beuys keineswegs um das vergangene ›historische Ereignis‹ geht, kann das Moment des Übergangs, das heißt der Kreuzigung bzw. der ›vollen Inkarnation in die Stoffeswelt‹ nicht über die traditionelle Ikonografie abgebildet werden, ebenso wenig wie die aus dieser Materialität befreiende Auferstehung … Bei der Kreuzigung … ist es daher weniger sinnstiftend, primär die Komposition mit dem traditionellen Aufbau einer Kreuzigungsgruppe zu vergleichen (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/C5AE97E14FB69CC43FB9DEB9DADBF982.html). Allerdings liegt dies zunächst nahe … Spannend ist aber …, was man außerdem noch sieht, nämlich die Kabel und Drähte, die die abgenutzten Materialien (verschmiertes Holzgestell, das einmal als Gerüst für eine Tonplastik diente, rostige Nägel, Nadel, säureverkrustete Blutkonserven, Zeitungsfetzen) aufzuladen scheinen. Auch hier also ›herabschwebende plastische Ladung‹, die ihre Energie in den Raum aussendet, genau wie dies auch die auf Zeitungsfragmente gemalten ›Braunkreuze‹ tun, die den christlichen Transformationsimpuls bis hinüber zum Autospiegel des ›introspecteurs‹ senden, wo das Kreuzzeichen aufgefangen und reflektiert wird …
Die rund 20 Jahre nach seiner Arbeit Kreuzigung entstandene Friedenshase fügt sich trotz des zeitlichen Abstands perfekt in diesen für Beuys wichtigen Zusammenhang von ›Materie und Geist‹ (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/68A7B615417ECFE3E23F1299840BC9B5.html) … Am 30. Juni 1982 war die Arbeit während einer spektakulären öffentlichen Aktion, der sogenannten Kronenschmelze,in Kassel auf dem Friedrichsplatz entstanden. Mit ihr sollte für die gerade angelaufene Aktion der ›Stadtverwaldung‹ von Kassel mit den 7000 von Basaltsäulen begleiteten Eichensetzlingen geworben werden. Unter heftigen Protesten und beachtlichen Medienecho schmolz der Künstler die Replik einer Zarenkrone Iwan des Schrecklichen zu einem goldenen Hasen mit Sonnensymbol um, wobei die Gussform ganz unprätentiös an die für Schokoladenosterhasen gebräuchliche erinnert. Während dieser Umwandlungsaktion, diesem Transformationsprozess, rief er die Namen berühmter Alchemisten auf“ (Ina Conzen s. 48 ff.). Zu den Arbeiten des Beuys-Raums kommen in der Stuttgarter Ausstellung unter anderem Nam June Paiks (1932-2006) ›Beuys Video Wall (Beuys Hat)‹, 1990 (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/48FDF1014309459CA54E7DA9C4C10CB7.html), zahlreiche Zeichnungen, Fotografie- und Filmdokumente. Neben der Installation seines Raumensembles hat Beuys zur Eröffnung der neuen Staatsgalerie auch noch spektakulär in die Präsentation der Figurinen von Oskar Schlemmers Triadischem Ballet eingegriffen, indem er Schlemmers Figurinen auf 1,80 m hohe Säulen stellte. Auch dieser Eingriff des Künstlerkurators wird re-historisierend gezeigt (vergleiche dazu das YouTube-Video der Staatsgalerie Stuttgart „Ausschnitte aus ›Ein Starkes Stück – Die neue Staatsgalerie …‹“ vom 26.03.2021).
In dem zur Stuttgarter Ausstellung erarbeiteten lesenswerten und hervorragend gestalteten Katalog geht Jens-Hennig Ullner der Selbstinszenierung von Beuys in fotografischen Künstlerporträts der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre unter dem Titel ›Sein größtes Kunstwerk war er selbst‹ nach. Natalie Frensch widmet sich Beuys und den Sinnen und Ina Conzen dem Raumkurator Joseph Beuys.
ham, 4. Juni 2021