Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 18. Mai 2018 bis 13. Januar 2019 in der Stadtgalerie Saarbrücken, herausgegeben von Andrea Jahn mit Essays von Eunice Golden, Andrea Jahn, Amelia Jones, Richard Meyer, Rachel Middleman und Kurztexten von Hannah-Maria Winters, Anke Doberauer, Kamila Kolesniczensko und der Herausgeberin

Kerber Art, Kerber Verlag Bielefeld, 2019, ISBN 978-3-7356-0514-6, 303 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, Softcover gebunden, Format 27 x 21 cm, € 36,00 (D) / CHF 44,21

›Cut‹ (englisch) kann Schnitt, Kürzung, Reduzierung, Abbau, Senkung, Ausschnitt, Zuschnitt, Filmschnitt, Einschnitt, Verschnitt, aber auch das weibliche Geschlecht, die Schamöffnung bedeuten. ›In the cut‹ ist der Titel einer 2003 entstandenen australischen Literaturverfilmung des gleichnamigen erotischen Thrillers von Susanna Moore, in dem die in New York lebende Literaturprofessorin Frannie Avery eines Abends zufällig eine Frau im Toilettenbereich einer Bar beobachtet, die einen Mann oral befriedigt. Am nächsten Morgen wird die Frau ermordet aufgefunden. Nach dem Tages-Anzeiger vom 4. Februar 2004 ist die Art und Weise, wie die Regisseurin Jane Campion „weibliches Begehren zwischen Liebessehnsucht und Hunger nach Sex, zwischen romantischem Traum und kalter Realität umsetzt“, herausragendes Kino (https://de.wikipedia.org/wiki/In_the_Cut; vergleiche dazu auch https://www.youtube.com/watch?v=N1axuyZc4c8). Andrea Jahn hat den Titel ›In the cut‹ für ihre Publikation und Ausstellung gewählt, weil er sich sowohl auf „den ›Cut‹ im Film – also den Filmschnitt – […], als auch auf das weibliche Geschlechtsteil, die Schamöffnung“ bezieht. „So kommt darin sowohl eine feministische Macht der Blicke als auch die (Selbst–)Erfahrung weiblicher Sexualität zum Ausdruck“ (Andrea Jahn S. 73, Anmerkung 3).

Männer haben bis in die 1970er Jahre mit ihrem Blick auf den weiblichen Körper auch in der Kunst die Vorstellung von menschlichem Begehren geprägt und die Darstellung der menschlichen Sexualität beherrscht. Von Männern gemalte weibliche Akte gibt es zuhauf. Alles Sexuelle hat sich auf den weiblichen Körper konzentriert. Der Mann ist dagegen als erotisches Wesen mit Ausnahme der homoerotischen Akten aus der neuzeitlichen Kunst verschwunden. „Im Grunde zielen die Darstellungskonventionen des männlichen Akts über Jahrhunderte hinweg darauf ab, mit allen Mitteln zu verhindern, dass der männliche Körper erotisch und sexuell verfügbar ins Bild gesetzt wird. Das männliche Geschlechtsteil darf gar nicht oder allenfalls ‚unbedeutend‘ in Erscheinung treten. Demzufolge kann der phallische Machtanspruch nur so lange aufrechterhalten werden, wie der erotische Mann unter der Hülle klassischer Aktinszenierungen verborgen bleibt oder gar nicht erst zum Bild wird […]. Das bewahrt ihn davor, zum Objekt des Begehrens zu werden“ (Andrea Jahn S. 51). Selbst feministische Künstlerinnen konzentrierten sich auf den eigenen Körper. Der (hetero-)erotische Blick auf den Mann bleibt bis heute eine seltene Ausnahme. Der einfache Grund: Feministische Blicke auf sexuellen Akte und das männliche Geschlecht wie Betty Tompkins ›Fuck paintings (vergleiche dazu http://www.bettytompkins.com) unterlagen der Zensur.

Wenn feministische Künstlerinnen wie Louise Bourgeois (USA), Sophie Calle (FR), Anke Doberauer (DE), Tracey Emin (GB), Alicia Framis (ES), Kathleen Gilje (USA), Eunice Golden (USA), Anna Jermolaewa (RU), Herlinde Koelbl (DE), Mwangi Hutter (KE/DE), ORLAN (FR), Aude du Pasquier Grall (FR), Julika Rudelius (DE), Carolee Schneemann (USA), Joan Semmel (USA), Susan Silas (USA), Jana Sterbak (CAN), Betty Tompkins (USA), Paula Winkler (DE) (vergleiche dazu https://www.youtube.com/watch?v=8tlrF4Ageu0) ihren begehrlichen Blick auf den männlichen Körper werfen und ihrem Begehren in ihren Werken Ausdruck verleihen, brechen sie mehrere Tabus: Mit ihren Männerbildern und ihren Bildern von der Begegnung der Geschlechter erheben sie Anspruch auf sexuelle Selbstbestimmung und künstlerische Autorität. Sie stellen zudem die klassischen Rollenzuschreibungen infrage und eröffnen den Diskurs über neue Möglichkeiten sexueller Identität. Für Andrea Jahn sind die Arbeiten dieser Künstlerinnen deshalb ein erster Schritt auf dem Weg zu einem veränderten Bewusstsein, in dem weibliche Sexualität als eine eigenständige kreative Kraft wahrgenommen wird.

Eine der stärksten Arbeiten der Ausstellung ist ORLANS als Gegenbild zu Gustave Courbets ›L’Origine du monde› von 1866 (https://www.musee-orsay.fr/de/kollektionen/werkbeschreibungen/gemaelde/commentaire_id/der-ursprung-der-welt-3962.html?tx_commentaire_pi1%5BpidLi%5D=509&tx_commentaire_pi1%5Bfrom%5D=841&cHash=cb020a342c) konzipierte Arbeit ›L’Origine de la guerre / The Origin of the War‹, 1989/2012 (https://www.paris-art.com/lorigine-de-la-guerre/). Die Arbeit symbolisiert den von Jahn angesprochenen Paradigmenwechsel: „Gustave Courbets berühmte Arbeit lenkt unseren Blick auf eine Ansicht des weiblichen Körpers, welche die behaarte Schamöffnung unverhüllt in den Mittelpunkt rückt und zugleich den Bauch und eine Brust zu erkennen gibt. Diese detaillierte, naturalistische Darstellung stellt sich dem voyeuristischen Blickwinkel insofern entgegen, als der Künstler bereits im Titel darauf verweist, dass es keineswegs mehr nur darum geht, den weiblichen Körper als sexualisiertes Objekt vorzuführen. Vielmehr ist es die Fähigkeit der Frau, Leben zu schenken, die hier gewürdigt wird […]. ORLAN […] artikuliert […] das problematische Verhältnis zwischen Kunst und Obszönität, körperlichem Ideal und Sexualität […] und führt uns seine sensiblen Grenzen am Bild einer Erektion vor Augen. Gleichzeitig unterstellt sie mit ihrem Bildtitel, dass es ohne Männer keinen Krieg gäbe. Auch diese Verkürzung bedient letztlich nur klischeehafte Definitionen von Männlichkeit, die keineswegs geeignet sind, die klassischen Blick- und Machtverhältnisse stürzen. Doch ungeachtet ihres plakativen Bildtitels gibt uns ORLAN in ihrer Fotocollage etwas zu sehen, was in der traditionellen Kunstgeschichte ebenso selten wie in der feministischen Kunst existiert: eine Ansicht des passiven männlichen Körpers mit erigiertem Penis, der so nicht als Herrschaftssymbol, sondern als Objekt heterosexuellen, weiblichen Begehrens und als erotisches Bild einer sinnlichen wie verletzlichen Männlichkeit gezeigt wird“ (Andrea Jahn S. 131).

ham, 6. September 2019 

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