Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst e. V. Berlin vom 27.11.2021 – 30.1.2022, herausgegeben von Susanne Altmann, Katalin Krasznahorkai, Christin Müller, Franziska Schmidt, Sonia Voss, nGbK, Berlin, mit Texten von Susanne Altmann, Katalin Krasznahorkai, Christin Müller, Franziska Schmidt und Sonia Voss
nGbK, Berlin / Hatje Cantz Verlag, Berlin, 2023, ISBN: 978-3-7757-5258-9, 256 Seiten, 200 Abbildungen, Broschur, Format 27,6 x 19,8 cm, € 38,00
Mit dem Wendejahr 1989 sind zahlreiche künstlerische und kulturell eAktivitäten aus der DDR in Vergessenheit geraten, so auch die 1984 von Erfurter Frauen um Gabriele Stötzer gegründete und in wechselnder Zusammensetzung bis 1994 aktive Künstlerinnengruppe Erfurt. Sie waren, wie Monika Andres 2021 schrieb, „Furien, ordinäre Weiber, Frauen, die in keine Klischees passten, nicht einmal in das des Aussteigers, Alternativen, Punker, Hippies, Kirchies oder Künstlerinnen“. Der demokratische Kollektivgedanke war ihnen wichtig, das prozesshafte Arbeiten, das soziale Experiment mit gemeinschaftlichen Lebens- und Ausdrucksformen, weiter die feministische Standortbestimmung mit Selbstheilungsansatz und politischer Schärfe. „All das vereinte die Künstlerinnengruppe Erfurt in Super-8-Filmen, Performances, Mode-Objekt-Shows, Texten, Manifesten, experimenteller Musik, Fotografie, Malerei und Grafik zwischen 1984 und 1994. Die Künstlerinnengruppe Erfurt war ein Kollektiv mit dem Vorhaben, den Alltag mittels Kunst auf eine andere, neue Ebene zu bringen. Ihr künstlerischer Ausdruck, ihre bedingungslose Kreativität ohne akademische Vorkenntnisse, ohne Furcht vor dem Scheitern in einer repressiven Diktatur war ein einzigartiges Phänomen, das unter den speziellen Bedingungen der DDR-Realität die Selbstermächtigung der Frauen befeuerte.
Gabriele Stötzer bilanzierte die Wirkungskraft der Künstlerinnengruppe wie folgt: „als sich die frauengruppe 1983 in Erfurt zusammenfand, war mir nicht klar, dass sich daraus die einzige künsterinnengruppe in der ddr manifestieren würde, die mehr als 10 jahre hinweg kreativ und selbständig arbeiten und in der Öffentlichkeit stehen würde“ (Katalog S. 11 f.)
Die in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst e. V. Berlin unter dem Titel ›Hosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt 1984 – 1994‹ gezeigte Ausstellung und der zur Ausstellung erschienene Katalog präsentiert erstmals und umfassend originale Materialien, Filme und Kostüme aus den Archiven der Akteurinnen. Bezeichnend für die Künstlerinnen der Gruppe war, dass sie in Erfurt und der DDR bleiben wollten. Die Gruppe fand gerade im Genius Loci der Stadt Erfurt ihre schöpferischen und spirituellen Impulse. In der von 20 Kirchen, dem größten Altstadtkern Europas und von ihrer mittelalterlichen Geschichte geprägten Stadt „schufen sich die jungen Frauen im Untergrund, jenseits von Öffentlichkeit und politischer Norm zwischen Kneipen, Kirchentreffs, Galerien und privaten Rückzugsorten neue künstlerische Perspektiven. Zudem eröffnete die gegenkulturelle Infrastruktur der Evangelischen Kirche Thüringens neben Punks oder Friedensaktivist_innen auch der Künstlerinnengruppe weitere Entfaltungsräume“ (Katalog S. 13).
Wer waren die Frauen der Künstlerinnengruppe? „Da ist Gabriele Stötzer, Initiatorin, Mitbegründerin und zentrale Figur der Gruppe, ›Visionsakteurin, Wortspekulantin, intellektuell, bildhaft‹. Nach den schmerzlichen Grenzerfahrungen der politischen Haft fand sie Mut und Kraft in der Selbstbesinnung und künstlerischen Selbstbestimmung. Von Beginn an dabei war ebenso Verena Kyselka, ›Installationsvirtuosin, Malerin, musisch, aktionistisch, experimentell‹, die als Kirchenmalerin arbeitete, aber eigentlich als Künstlerin agieren wollte. Monique Förster, ›Königin, Managerin, magisch, dunkelsichtig‹, suchte mit ihrem Sinn für Kreativität und Kunst in einem Moment des Neuanfangs nach Anschluss und nach gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten. Monika Andres, Pädagogin auf Umwegen, lernte, weil ihr ein Kunststudium verwehrt blieb, zuerst Plakatmalerei, um so irgendwie ihren lange gehegten Wunschtraum der freien Malerei zu verfolgen – eine freiberufliche Tätigkeit als Künstlerin außerhalb einer Aufnahme in den Verband Bildender Künstler der DDR durfte es nicht geben. Gabriele Göbel, Physiotherapeutin mit Abitur und späterer Exmatrikulation, wirkte als Korbflechterin, war aber eigentlich Lebenskünstlerin sowie ›Körperartistin, tänzerisch, expressiv‹ und suchte im Sich-Öffnen und Sich-Hingeben eine tiefsitzende Angst von Frauen zu überwinden. Ina Heyner, Bekleidungsfacharbeiterin, im Grunde jedoch eine ›Ideenjongleurin‹, gab Arbeit und Pläne anderer Ziele wegen auf. Nur knapp verfehlte sie die Aufnahmeprüfungen an der Schauspielschule. Ingrid Plöttner, Konditormeisterin, aber auch ›Traumfliegerin‹, die mal etwas ganz anderes machen wollte, war mit jeder Faser ihres Körpers der Inbegriff unbändiger Fröhlich – und Lebendigkeit. Elke Carl, die ›Skeptikerin und Szenefrau, die zu allen Kontakte hatte‹, soufflierte im Theater“ (Katalog S. 14 f.).
Neben ihren fünf ab 1986 entstandenen Super-8-Filmen ›Frauenträume‹, ›Die Geister berühren‹, ›Komisch‹, ›Signale‹ und ›Die Überfahrt‹ sind die Modenschau ›Mode für Frauen von Frauen‹ am 11. Juni 1988 im Augustinerkloster Erfurt, die Instandsetzung und der Ausbau der Pergamentergasse 41 zum Kunsthaus Erfurt und die von der Gruppe initiierte erste Besetzung einer Stasi-Zentrale in der DDR im Januar 1990 über Erfurt hinaus bekannt geworden. „Am 29. Juli 1994 fand das ›Empfangsspektakel und Sekt aus dem Uringlas‹ mit einer Musik-Performance […] zur Eröffnung des Kunsthauses Erfurt nach den Sanierungsarbeiten statt. Mit der Ausstellung ›Silberne und schwarze Kunst‹ im Juli und der Performance ›Die fliegende Schlange‹ im September 1994 hatte die Künstlerinnengruppe ihren letzten großen Auftritt. Das Kunsthaus Erfurt wird bis heute von Monique Förster […] geleitet und widmet sich Positionen nationaler und internationaler zeitgenössischer Künstler_innen“ (Katalog S. 23).
Der reich bebilderte Katalog und seine Originaldokumente halten den experimentellen Geist der Gruppe und die Aufbruchstimmung nach der Wende auch noch im anfänglichen 21. Jahrhundert lebendig.
ham, 23. August 2023