Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte Band 52
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2019, ISBN 978-3-374-06030-6, 326 Seiten, 60 s/w Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 23,6 x 16,4 cm, € 88,00
Die Theologin und Kunstgeschichtlerin Heike Stöcklein wurde 2018 mit der vorliegenden Arbeit zu Illustrationen zur Offenbarung des Johannes in deutschsprachigen Bibeln von 1478/79 – 1530 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster promoviert. In ihrer Einleitung legt sie dar, dass die Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst, die gezielt nach theologischen Inhalten und Themen fragen, die kirchenhistorische Arbeit ebenso wie die Beschäftigung mit den schriftlichen Quellen befruchten kann, weil auch Bildquellen Überzeugungen, Sorge, Ängste, Meinungen und Hoffnungen ihrer Zeit ausdrücken, Positionen und Stimmungen transportieren und umfassende Zustände einer Gesellschaft erkennen lassen. Wenn Schrift- und Bildquellen gemeinsam interpretiert werden, werden einander ergänzende und weiterführende Facetten vergangener Lebenswelten deutlich. Die zeitliche Abgrenzung der den Texten der Johannesapokalypse beigegeben Holzschnitte ergibt sich aus dem Quellenbestand: 1478/79 erschien die erste Bibel, die mit dem Druck beweglicher Lettern hergestellt wurde und zugleich eine Bebilderung der Johannesoffenbarung aufweist. Bis 1530 wurden nicht nur diverse Nachdrucke von Luthers Septembertestament von 1522 ausgelegt, sondern auch sein revidiertes Septembertestament. Albrecht Dürers 1498 veröffentlichte ›Heimliche Offenbarung des Johannes‹ mit 15 Holzschnitten zur Apokalypse wird ausgespart, weil sie schon weitestgehend erforscht ist (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=albrecht+d%C3%BCrer+apokalypse+johannes&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=kGzs1BFSpsnKIM%253A%252COVQRRK0_OR-9MM%252C%252Fm%252F04gpkpm&vet=1&usg=AI4_-kRku2-XTCja8-a3mxfzMzXe2SDoVQ&sa=X&ved=2ahUKEwi6hbeEiKTmAhUILFAKHUNYCEcQ_B0wDXoECAoQAw#imgrc=kGzs1BFSpsnKIM: und zum Folgenden https://www.google.de/search?q=holzschnitte+zur+apokalypse+des+johannes&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwi0poiJhqTmAhUp4aYKHUG2D1kQs
AR6BAgKEAE&biw=1677&bih=916). 1534 erschien dann die neu illustrierte Gesamtausgabe der Luther-Bibel.
Letztere „fundamentiert sowohl den inhaltlich-theologischen als auch den künstlerisch-stilistischen Paradigmenwechsel. Dieser ergibt sich zum einen aus der nachweislichen Mitarbeit und Einflussnahme Luthers bei der Gestaltung der Illustrationen. Zum anderen wurden neue Holzschneider mit der Ausgestaltung der Buchillustrationen beauftragt, deren handwerklicher sowie künstlerischer Stil dazu beitrug, dass die Holzschnitte ein eigenes Gepräge erhielten und von denen der Cranach-Werkstatt weitestgehend unabhängig waren“ (Heike Stöcklein S. 18). Dazu kam, dass mit dem Augsburger Reichstag 1530, der dort vorgelegten Confessio Augustana und den Türken vor Wien die Aufbruchs- und Übergangszeit abgeschlossen und die Reformation in eine neue Phase eingetreten war.
In ihrer Interpretation der Holzschnitte folgt Stöcklein Erwin Panofskys ikonographisch-ikonologischer Interpretation, die ikonographische Motive, Symbole und Bildbestände mit dem Text der Offenbarung verbindet und fragt, welche Inhalte ausgewählt wurden und was das für die Illustration und ihre Textauslegung bedeutet. Darüber hinaus versucht sie zu erklären, wie theologische, kirchenhistorisch relevante und gesellschaftliche sowie politische Tendenzen und Themen in den Illustrationen bewusst oder unbewusst ausgedrückt wurden. „So soll […] die geistesgeschichtliche Stellung und Bedeutung der Offenbarungsillustrationen […] herausgearbeitet werden. Grundlegend ist freilich, die Illustrationen und die in ihnen verarbeiteten Strömungen in ihrem unmittelbaren Entstehungszeitraum zu verstehen und danach zu fragen, welche Anknüpfungspunkte sich für den damaligen Rezipienten ergeben haben“ (Heike Stöcklein S. 22).
Interpretiert werden dann in einem ersten Durchgang Offenbarungsillustrationen aus deutschen Bibeln von 1478 bis 1522 (vergleiche dazu etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Vorlutherische_deutsche_Bibeln), so die Holzschnitte ›Die vier Reiter, Offenbarung 6,1 – 8‹ aus der Kölner Bibel von 1478 / 79 (vergleiche dazu https://www.bibeldrucke.at/alte-bibeln/bibel-des-monats/koelner-bibel-1479/index.html), der Schönsperger- Bibel von 1478 aus Augsburg(vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Schönsperger), der Blockbuch-Apokalypse (vergleiche dazu https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg226a/0006/image) und der Grüninger-Bibel von 1485 aus Straßburg (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Grüninger), die ›Öffnung des fünften und sechsten Siegels nach Offenbarung 6, 9 – 17‹ und die ›sieben Posaunen nach Offenbarung 9‹. „Die Illustrationen der jeweiligen Bibeln zeigen die Abhängigkeit von den Kölner Holzschnitten und zugleich die eigenständige Note der Nachschnitte. Der Zorn Gottes trifft in der graphischen Umsetzung Menschen in verschiedenen sozialen Ständen, auf diese Art werden angesichts der himmlischen Macht die irdischen Verhältnisse relativiert […]. In Gestalt der Illustrationen wird [der Zorn Gottes] zu einem plastisch nachvollziehbaren Geschehen, dessen Ziel die auf Erden lebenden Menschen sind“ (Heike Stöcklein S. 95 f.). Weitere besprochene Motive sind ›Der vielköpfige Drache‹, ›Die Hure Babylon‹, ›Der Engel mit dem Mühlstein‹, ›Ernte und Weinlese‹, ›Der Drache und die Frau‹, ›Der Kampf zwischen Engel und Drache‹, ›Die beiden Tiere‹, ›Die zwei Zeugen und die Vermessung des Tempels‹, ›Das neue Jerusalem‹ und ›Die Auserwählten‹. „Die Gegenüberstellung zwischen im Offenbarungsgeschehen Verworfenen und Auserwählten sind in den ausgewählten Bibeln vornehmlich plakativer Art. Dabei wird ein moralischer Impuls in den Holzschnitten vermittelt, der dem Betrachter begreiflich machen soll, welche Haltung angesichts des kommenden Gerichts die richtige ist […]. Die textreue Umsetzung des Bildes der Auserwählten spricht dafür, dass keine expliziten Bezüge zu zeitgenössischen Gruppen oder religiösen Vertretern hergestellt werden sollen. In den Illustrationszyklen bleibt die Gerichtsmetaphorik präsenter als die hoffnungsvolle Aussicht und der Trost“ (Heike Stöcklein S. 109).
Im zweiten Durchgang stehen die weitgehend an Dürers Apokalypsezyklus angelehnten 21 Illustrationen zur Offenbarung im am 21. September 1522 anonym erschienen Septembertestament (vergleiche dazu etwa http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/luther_septembertestament_1522?p=7 und https://www.ziereis-faksimiles.de/martin-luther-september-bibel-von-1522) und seine Nachdrucke im Zentrum. Im Ergebnis erscheinen die Illustrationen zwischen 1478 und 1530 für Stöcklein zum einen als Mittel der Kontingenzbewältigung. „Die ursprünglichen Visionen des Johannes sind ihrer eigenen Zeitlichkeit enthoben und in eine neue übersetzt worden […]. Die in die unmittelbare Situation des Johannes hineingesprochene Prophetie verliert nicht, sondern gewinnt an Bedeutung, weil sie nicht abgeschlossen und in einer fernen Vergangenheit belassen wird. Ihr Lebensbezug ist ebenso unmittelbar in der Entstehungszeit wie zur Zeit der ersten deutschsprachigen Bibeln vor und mit Luther“ (Heike Stöcklein S. 234). Die Illustrationen vermögen den Betrachter „mehr als nur auf einer kognitiven Ebene anzusprechen. Sie konfrontieren mit intensiven, aber evidenten Emotionen wie der Angst, übernatürlichen Mächten wie Naturkatastrophen oder diffusen Dämonen ausgeliefert zu sein oder Opfer des göttlichen Zorns zu werden. Auch das Gefühl von Angst vor Gewalt und dem numinosen göttlichen Plan […] wird […] thematisiert. Nicht zuletzt ist damit die Sorge um das eigene Seelenheil und das jenseitige Leben verbunden. In gewisser Hinsicht ermöglicht sie dem Betrachter eine Katharsis“ (Heike Stöcklein S. 238).
Zum anderen waren sie ein Medium in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Im Überblick über die Holzschnitte wird deutlich, dass es „kein konsequentes Schema gibt, nach dem einzelne weltliche Stände als die Geretteten und vor den Katastrophen Verschonten dargestellt werden. Die in den Bibeln vor Luther in mehreren Schnitten zu findende Grundannahme, dass alle Menschen gleichermaßen unter dem göttlichen Zorn leiden werden, unabhängig vom sozialen Stand, findet sich im Septembertestament so nicht […]. Die gesellschaftskritischen Darstellungen der frühen Bibeln können einerseits in Richtung eines kritischen Verständnisses der Obrigkeit zugespitzt werden […]. Andererseits steckt in dieser Form auch ein tröstender Charakter, der die weltlichen Standestrennungen nicht nur für die von Gott ausgehenden letzten Dinge aufhebt“ (Heike Stöckeln S. 241).
Schließlich werden die Illustrationen der Offenbarung zum theologischen Kommentar. „Ebenso wie der Exeget tritt der Illustrator in eine Auseinandersetzung mit dem Text, der Sprach- und Bildwelt sowie dem Ringen um Verstehen. Auch er bringt seine persönlichen Eigenarten, Lebensanschauungen, bewusste oder unbewusste mentale Verfassung und individuelles Wissen sowie Erfahrungen mit ein. Anders als der Theologe ist der Illustrator wenig bis kaum von der akademischen Theologie geprägt, sondern von den Traditionen der christlichen Ikonographie und mitunter einer Malerschule […]. Der Begriff Illustration leitet sich ab vom Lateinischen illustrare, was hell machen, erleuchten, aufheben, veranschaulichen bedeutet. In diesem Sinne machen sie nicht nur die dunkle Offenbarung des Johannes anschaulich, sondern sie erhellen in ihrer Funktion als Kommentar auch das Verständnis und präsentieren dem Betrachter eine mögliche Auslegung“ (Heike Stöcklein S. 246).
ham, 7. Dezember 2019