Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Band 83,
herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2015, ISBN 978-3-55-62433-3, 248 Seiten, Broschur, Format 23,2 x
15,6 cm, € 59,99
Thomas Erne hat in seinem Rückblick auf die Entwicklung der Beziehung von Kunst und Kirche im Jahr
2000 Zur Kulturbedeutung des Protestantismus unterstellt, dass die im Kölner Manifest der Gesellschaft für
Gegenwartskunst und Kirche von der Theologie geforderte fundamentale Wende, die den Stellenwert des
Ästhetischen endlich anerkennt, ebenso wenig eingetreten ist wie die flächendeckende Sensibilisierung der
Kirchen für die Bedeutung einer qualifizierten Auseinandersetzung mit Fragen des Ästhetischen: „Von der
Theologie erwarten wir eine fundamentale Wende, die den Stellenwert des Ästhetischen endlich anerkennt.
Die Kirchen fordern wir auf, im Theologiestudium Grundlagen für eine qualifizierte Auseinandersetzung mit
Fragen des Ästhetischen zu schaffen, Leitungsgremien für den Stellenwert von Raum und Ritual zu
sensibilisieren und in kirchlichen Haushalten Mittel für die Anschaffung herausragender Werke der
Gegenwartskunst bereitzustellen: ecclesia semper reformanda. Künstler und Künstlerinnen laden wir zu
einer vorurteilsfreien Begegnung mit Kirche und Religion ein“ (Vom ästhetischen Gewinn in der
Zeitenwende – den Künsten Raum geben. Kölner Manifest vom 28. Oktober 1998; vergleiche dazu http://
www.artheon.de/publikationen/koelner-manifest/. Abgerufen am 18.1. 2017). Das leidenschaftliche Ringen
um einen theologisch verantwortbaren Zugang zur Kunst sei von einer freundlichen Distanz, die bis zur
Gleichgültigkeit gehe, abgelöst worden, so Erne. Selten finde man profunde Kenntnisse, aber eben auch
keine Abwehr. Der Protestantismus stehe zu Beginn des Jahrtausends nicht gerade auf Augenhöhe mit der
Avantgarde seiner Zeit, aber auch nicht mit dem Rücken zu ihr. Er sei selten kunstkompetent, aber in der
Regel kultursensibel. Eine fundamentale Wende zum Ästhetischen gäbe es aber weder in der Kirche noch in
der theologischen Wissenschaft.
„Was es gibt, sind einzelne Vertreter vor allem in der Praktischen Theologie, ich nenne stellvertretend nur
Albrecht Grözinger […] und Wilhelm Gräb […], die den Dialog mit der Kunst mitgetragen und die
Bedeutung des Ästhetischen für die Grundlegung der Praktischen Theologie entfaltet haben. Aber solche
Ansätze können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie innerhalb des gesamten Spektrums der Theologie
marginal geblieben sind, und die Einzeluntersuchungen, die sich an eine solche ästhetische Grundlegung der
Praktischen Theologie anschließen, zur Religion im Film […], in der Popularmusik […], stehen immer unter
dem Verdacht, eine Spielwiese privater Obsessionen zu sein, denen der theologische Gehalt abgeht. Wenn es
das gewesen sein soll, dass nach einem Diktum von H. Timm […] dieses Jahrzehnt ein ästhetisches gewesen
ist und die Religion nur dann Anschluss an die Moderne gewinnt, wenn sie in der Lage ist, sich in
ästhetischen Kategorien […] des Angenehmen, des Empfindsamen, des Genusses, des Anziehenden, auch
des Irritierenden auszulegen, dann hat die Theologie ihre Zeit nicht genutzt, und die erreichten Erfolge, die
Lockerungsübungen im Verhältnis von Kunst und Kirche, sind deutlich weniger als zu erwarten gewesen
waren“ (Thomas Erne, Zur Kulturbedeutung des Protestantismus. In: https://www.theomag.de/09/te1.htm.
Abgerufen am 18.1. 2017). Statt der von den am Dialog von Kunst und Kirche Beteiligten erwarteten
fundamentalen Wende hin zur Kunst und zum Ästhetischen sei etwas anderes gekommen, nämlich die
Wiederkehr des Kulturthemas. Diese Wiederkehr sei für die Kirche besonders erklärungsbedürftig.
„Denn die Tatsache, dass sich der Protestantismus zu Beginn dieses Jahrtausends überhaupt wieder so
intensiv mit der Frage nach seiner Kulturbedeutung auseinandersetzt, ist angesichts der jüngeren
Theologiegeschichte alles andere als selbstverständlich. Höchst wirkungsvoll hat eine der dominierenden
Gestalten der Theologie des 20. Jahrhunderts, die dialektische Theologie Karl Barths das Unbehagen gegen
jegliche kulturelle Vermittlung der Theologie mobilisiert, die Barth mit der »Theologie des babylonischen
Turmbaus« verglich. Die aktuelle Wiederkehr des Kulturthemas besagt nun offenbar, dass sich trotz der
behaupteten Verabschiedung und Überwindung des Kulturprotestantismus durch die dialektische Theologie,
das Thema der Kultur unausweichlich stellt. Und zwar nicht nur von außen, weil außerhalb der Kirche
religiöse Themen in der Kunst, den Medien, der Literatur, dem Sport mit Händen zu greifen sind. Das
Kulturthema ist Theologie und Kirche auch aus inneren Gründen mitgegeben und bringt sich immer wieder
in Erinnerung durch die Tatsache, dass die Theologie selber, gerade dann wenn sie ihre Aufgabe darin sieht,
permanent den Gegensatz von Glaube und Welt, Kirche und Kultur, Schöpfer und Geschöpf einzuschärfen,
kulturell vermittelt ist“ (Thomas Erne, a. a. O.). Die von Erne in Kirche und Theologie notierte Marginalität
des Ästhetischen kann zumindest für die Praxis der Predigt und für die Homiletik bestritten werden. Wenn
man Ruth Conrad und Hans Martin Dober folgt, hat sich die von Erne vermisste ästhetische Wende
zumindest in der protestantischen Predigtlehre schon in den ersten 1980er Jahren vollzogen. Und Hans-
Ulrich Schmidt und Horst Schwebel konnten bereits 1989 eine repräsentative Auswahl von Bildpredigten
veröffentlichen und analysieren, die unter anderem im Kontext von Ausstellungen in der Hospitalkirche
Stuttgart und in der Gnadenkirche in Hamburg gehalten worden sind.
Conrad erinnert in ihrer 2014 unter den Titel „Weil wir etwas wollen. Plädoyer für eine Predigt mit Absicht
und Inhalt“ veröffentlichten Habilitationsschrift unter anderem an Gerhard Marcel Martins Marburger
Antrittsvorlesung von 1983. Mit ihr setzt die »ästhetischen Wende« von Fragen der Produktionsästhetik zu
solchen der Rezeptionsästhetik ein. „Steht in produktionsästhetischer Perspektive der Werkprozess und damit
der Autor beziehungsweise Künstler im Fokus der Überlegungen und damit die Ursachen, Regeln und
Funktionen der Produktion, so wird in rezeptionsästhetischer Perspektive die Frage der Künstlerintention
nachrangig gegenüber dem Prozess der Wahrnehmung, welcher durch das Werk ausgelöst wird. Nicht dem
Künstler, sondern dem Rezipienten gilt das primäre Interesse. Dessen Erwartungshaltung, Verständnis,
Bildung, Gemütslage und Geschmack werden Teil der Analyse. Bezogen auf die Predigt bedeutet das, dass
weniger vom »Weg zur Predigt« oder dem »homiletischen Verfahren« die Rede ist. Vielmehr wird die
Predigt im Anschluss an Umberto Eco im »Modell des >offenen Kunstwerks<« beschrieben“ (Ruth Conrad
a. a. O. S. 23 f.; vergleiche dazu https://books.google.de/books?
id=hR0iDQAAQBAJ&pg=PA2&dq=Ruth+Conrad,
+Weil+wir+etwas+wollen&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwi1k4vkq8bRAhVDEiwKHc4aCHIQ6wEIGzAA#v
=onepage&q=Ruth%20Conrad%2C%20Weil%20wir%20etwas%20wollen&f=false. Abgerufen am 18.1.
2017).
Henning Schröer hatte bei der Veröffentlichung von Martins Antrittsvorlesung gefragt, wie das
Kommunikationsmodell der ästhetischen Kommunikation stringent theologisch zu fundieren ist, wie sich die
Schriftauslegung hermeneutisch differenzierter als bei Martin von einer möglichen Beliebigkeit
unterscheiden lässt, wie zu gewährleisten ist, dass der Generalskopus der Bibel in der von Martin geforderten
Narration erhalten bleiben und wie der unterbestimmten Bedeutung des Textes im Sinne des
Wahrheitsanspruchs der Schrift für die christliche Lebensdeutung aufgeholfen werden kann (Ruth Conrad a.
a. O. S. 25). Hans Martin Dober entwickelt Schröers Fragen an Gerhard Marcel Martin und die
Rezeptionsästhetik in seiner Grundlegung und Kritik der Homiletik ins Prinzipielle weiter: „Wie es scheint,
ist […] im Eifer der Neuentdeckung der Künste als Paradigmen für die Predigtarbeit immer wieder der
Bezug zur Tradition in begriffliche Unschärfe geraten. Zugleich bin aber ich davon überzeugt, dass es für die
Theorie einer gegenwärtigen – und d. h. auch zeitgemäßen – Predigt nicht ausreicht, sich vor allem an
historischen Gestalten zu orientieren. Es bedarf eines Sich-Einlassens auf die Künste und ihre Theorie, um
von ihnen zu lernen. In diesem Spannungsfeld kommt es mir einerseits darauf an, Kriterien der Kritik zu
entwickeln. Das geschieht hier in Bezug zu den (bisher) orientierenden Theorien der Rhetorik, der Ästhetik
und zu maßgeblichen theologischen Theorien, die den Begriff der Predigt zu bestimmen erlauben […].
Andererseits […] kommt es mir darauf an zu zeigen, was der Prediger von den Künsten lernen kann auch
und gerade dann, wenn er sich dessen bewusst geworden ist, worin die Predigt etwas anderes ist als ein
Kunstwerk“ (Hans Martin Dober S. 11). Dober geht wie Dietrich Rössler davon aus, dass von der Predigt im
Zentrum des Gottesdienstes eine Vergewisserung des Christentums zu erwarten ist. „Sie trägt wesentlich
dazu bei, ob der christliche Glaube und das christliche Leben Plausibilität gewinnen und behalten kann,
wenn das Christentum sich dem Vergleich mit vielfältiger Religiosität und anderen Religionen stellen
muss“ (Hans Martin Dober S. 16).
Die Predigt ist als Übergang im Fluss der Zeit für Dober mit Zeit bis zum Zerspringen geladene Gegenwart
und „der exemplarische Fall eines Handelns auf der Schwelle zwischen ihrer intensiven Vorbereitung und
dem >Amen<, mit dem sie aller Konvention nach schließt“ (Hans Martin Dober S.20). Als Drama ist sie
Aufführung. Und als Sprechakt ist sie die von einer individuellen Person gehaltene neue Wirklichkeit
eröffnende hoffentlich unverwechselbare Rede ebenso wie die Einladung zum Verstehen, zur Einstimmung
und zur folgenreichen Übersetzung ins eigene Leben. „Es wird also zu fragen sein, wie […] die […] sog.
>rhetorische Wende< in der neueren Geschichte der Homiletik […] und die sog. >ästhetische Wende<
zueinander ins Verhältnis zu setzten sind. Die Predigt als ein Kunstwerk zu verstehen muss ja nicht bedeuten,
ihr Verständnis als Rede zu verabschieden. Zum Zwecke der begrifflichen Klarheit ist […] zurückzufragen,
was die Predigt“ ihrem Wesen nach als Predigt des Evangeliums ist. Gleichzeitig ist zu fragen, wie man zu
einem bestimmten Zeitpunkt eine Predigt für einen bestimmten Ort und definierte Hörer macht. „Diese
praktische Herausforderung ist Teil ihrer Wesensbestimmung selbst. Und darin besteht schon eine Analogie
von Predigt und Kunst. In welcher Weise die Predigt einem Kunstwerk analog zu betrachten ist, und wo die
Grenze solcher Analogien liegt – d.i. eine Leitfrage dieser Untersuchung“ (Hans Martin Dober S.24 f.).
Dober konstatiert Analogien in drei Hinsichten: „Erstens wird wie in der Kunst, so auch in der Predigt als
einer Rede »das Individuum schlechthin zur Aufgabe«. Wenn gilt: »Alles Kunstschaffen ist ein
unaufhörliches Zurückgehen auf 〔das〕Urgefühl des Individuums« […], so wird die Analogie lauten
können: Auch zu predigen ist ein zutiefst individuelles Geschäft, lässt sich doch die skizzierte Predigtaufgabe
nur von einem bestimmten Prediger bewältigen. Individualität hat zudem immer eine geschichtliche
Signatur, was wie am Kunstwerk, so auch an der Predigt gezeigt – und gesehen – werden kann. Schließlich
ist nicht nur die Produktion einer Predigt, sondern auch ihre Rezeption – das Hören und zu-Herzen-, Willenund
Verstand-Nehmen – zutiefst individuell […]. Zweitens ist wie für die Kunst, so auch für die Predigt eine
spezifische Affinität zur Theorie anzunehmen […]. So muss, um ein Beispiel aus der Musik zu geben, »die
Kunsttheorie der persönliche Besitz des Komponisten sein … die beständige Grundlage seines
Schaffens« […]. Entsprechend wird auch die Predigtarbeit ohne homiletische Theorie nicht zu bewältigen
sein […], aber auch zum Predigen bedarf es der Begabung und des Talents. Entscheidender als diese wird die
Liebe zum Menschen sein […]. Sie ist auch für eine ästhetische Theorie der Kunst grundlegend […].
Drittens wird wie für die Kunst, so auch für die Predigt gelten können: Das »Grundthema … der
Menschenliebe des Künstlers« wird in »unendlichen« Variationen durchgespielt […]. Man kann das mit
einem Wort des verstorbenen Marcel Reich-Ranicki über die Motive der Literatur variieren: »Liebe und Tod
– der Rest ist Mumpitz«. Auch auf diesem Hintergrund lässt sich eine Analogie zur Predigt ziehen, wenn
man als Grundthema das »Evangelium« annimmt, wie es im Verhältnis zum »Gesetz« des Lebens immer
wieder zu entfalten ist. Der Tod gehört zum »Gesetz« des Lebens, das »Evangelium« aber verkündet die
Stärke der Liebe gegen den Tod“ (Hans Martin Dober S.25 f.).
Dobers Beschäftigung mit Gerhard Marcel Martin, dem Konzept der dramaturgischen Predigt von Martin
Nicol und dem Vorschlag von Jörg Herrmanns, den Film als Modell für die Predigtgestaltung zu verstehen,
bestätigt seine These, dass die geschärfte Wahrnehmung und die dichte Beschreibung des Menschlich- Allzu
Menschlichen zu den wichtigsten Aspekten gehört, die die Predigt von den Künsten lernen kann, „um auf
diesem Hintergrund der Wirklichkeit des Lebens als einer Gestalt des Gesetzes all die positiven Kräfte
namhaft zu machen, die durch das Evangelium hervorgerufen und gestärkt werden können: die Hoffnung
und den Lebensmut, das Vertrauen in sich selbst, in den anderen und in Gott, das Mitleid, die Verantwortung
für den anderen und die Gelassenheit in den Unwägbarkeiten des Lebens […]. Romane erzählen von der
wirklichen Erfahrung der Menschen eines Zeitalters […]. Filme haben für die Predigtaufgabe eine ähnliche
Bedeutung und Funktion: sie zeigen die Wirklichkeit und inszenieren Abfolgen von Ereignissen in Vor- und
Rückblenden. Sie bringen komplexe Strukturen mit den Mitteln des Schnitts auf die Leinwand […]. Sie
zeigen den Wahnsinn des Krieges […]. Sie zeigen die Schwierigkeiten des Alterns […] oder die Differenz
gesellschaftlicher Milieus, kultureller Prägung, sowie die Möglichkeit, […] Brückenschläge […] zu erleben
[…]. Dank ihrer narrativen Potenz vermögen Filme aber auch den Weg eines Menschenlebens
nachzuzeichnen und darzustellen mit allen Hoffnungen, Verfehlungen, Umwegen und Bildungserlebnissen
[…]. Es verbindet sie mit den großen Gemälden und mit der Photographie, dass sie in einzelnen
Einstellungen den Ausdruck von Gesichtern, von Gesten und mimischem Spiel einfangen, der menschliche
Haltungen und Möglichkeiten auf den Punkt bringt“ (Hans Marin Dover S. 172 ff.).
Im fünften und vorletzten Kapitel seiner Abhandlung diskutiert Dober die Frage, was die Predigt von einem
Kunstwerk unterscheidet. Der eigenen Antwort stellt er programmatisch das Nietzsche-Zitat „Wir haben die
Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“ und das Zitat des 2013 verstorbenen Tübinger
Praktischen Theologen Volker Drehsen „Kunst eignet Wahrheitssinn und stellt als Manifestation befreiender
Praxis zugleich die Frage nach dem richtigen Handeln, das in rein technisch-funktionaler
Wirklichkeitsbewältigung nicht aufgeht, sondern immer auch kritisch-konstruktiv Sinnpotentiale zu begreifen
und zu verwirklichen sucht“ voran. Damit ist der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einer Predigt
schon markiert. Er liegt im jeweils anderen Verständnis von Wahrheit und Sinn.
„Einem berühmten Aphorismus Nietzsches zufolge ist die wahre Welt zur Fabel geworden. Die
besprochenen homiletischen Konzeption schließen sich hier der Sache nach an, indem sie […] das
>vormoderne< Verständnis der Predigt so beschreiben: Sie sei »Auslegung der ›wahren‹ Welt, des Wortes
Gottes selber« gewesen. Unter den Bedingungen vormoderner Plausibilität mag die Identität von Gotteswort
und (gepredigten) Menschenwort im Sinne einer alten Metaphysik verstanden worden sein […]. Der […]
angedeutete alte metaphysische Zusammenhang ist für das moderne – und zumal für das postmoderne –
Bewusstsein zerbrochen. Doch was heißt das für die Wahrheit? Ist sie, wie Nietzsche lehrte, nun bloß noch
als ein Anspruch in spezifischer Perspektive denkbar […] 〔und〕Kunst »nichts anderes als der Einspruch
und der Protest gegen eine erstarrte Welt, die sich ihrer Ursprünge und Bewegungsgesetze nicht mehr bewußt
ist«?“ (Hans Martin Dober / Albrecht Grötzinger S. 197 f.). Oder ist Kunst die ästhetische Rechtfertigung
des Daseins und der Welt, weil „nur als aesthetisches Phänomen […] das Dasein und die Welt ewig
gerechtfertigt“sind? (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA Bd. 1, S. 47). Rettet die Kunst also
nach Nietzsches das Leben, wie David E. Wellbery im Anschluss an seinen Satz »Ihn 〔den Hellenen〕
rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben« (Friedrich Nietzsche, a. a. O. S. 56)
postuliert? Und ist sie somit ein „Rettungsmittel des Lebens und zum Leben“? (David E. Wellbery, Form und
Funktion der Tragödie nach Nietzsche. Zitiert nach http://webcache.googleusercontent.com/search?
q=cache:gnXzxez8R1gJ:www.uni-konstanz.de/transatlantik/downloads/
wellbery%2520formundfunktion.doc+&cd=2&hl=de&ct=clnk&gl=de. Abgerufen am 18.1. 2017).
Für Hans Martin Dober nicht. Für Dober ist eine Rechtfertigung des Daseins ohne den Begriff und die
Erfahrung der Versöhnung schlechterdings nicht sinnvoll zu denken und damit auch nicht ohne die über die
ästhetische hinausgehende Perspektive, „sei es die »religiöse«, sei es eine theologische“ (Hans Martin Dober
S. 199). Zugleich unterstreicht er aber auch, dass Nietzsches „Umdrehung des Platonismus“ (Martin
Heidegger) die schon im sogenannten Alten Testament betonte Leiblichkeit und die Sinne ins Recht setzt.
„Nicht mehr gibt ein metaphysisch legitimierter Sinn vor, was den Sinnen zuträglich ist, was gezeigt und
gehört werden darf, sondern die -sinne erschließen den Sinn. Diese Umwertung der Werte ist von den
Künsten immer schon […] praktiziert worden (Hans Martin Dober S. 201).
Dober schlägt nun im Anschluss an Immanuel Kant und Hermann Cohen vor, die von Platon gedachte Idee
(mit Kant) als Postulat oder (mit Cohen) als Hypothese zu verstehen. „Als Postulat stellen die Ideen der
Freiheit, Gottes und der Unsterblichkeit in Kants praktischer Philosophie den Zusammenhang von Gedanken
sicher, der seinen moralphilosophischen Erörterungen überhaupt einen Sinn verleiht. Die Idee als Postulat ist
ein notwendiger Gedanke, der vorausgesetzt werden muss, damit eine Argumentation als stimmig gelten
kann“ (Hans Martin Dober S. 204). Bei Cohen ist die Idee nicht mehr regulativ, sondern als für die
Erkenntnis konstitutiv gedacht. Weder bei Kant noch bei Cohen ist die Idee aber im platonischen Sinn
Voraussetzung für die Erkenntnis. Sie ist vielmehr als Konstellation von Gesichtspunkten zu verstehen,
„ohne deren Voraussetzung weder ein Kunstwerk noch eine Predigt hinsichtlich eben der Dimensionen
gedeutet werden können, die der frühe Nietzsches den »Abgrund« seines »Ästhetizismus« verbannt hatte
(Benjamin). Es gibt die Wahrheit der Kunst nicht unabhängig von ihrer Rezeption“ (Hans Martin Dober /
Walter Benjamin S. 205); es gibt sie nur im Plural und sie ist nur perspektivisch zu erschließen.
Im Unterschied zur Kunst liegt die Quelle der Menschenliebe aber „für den Prediger nicht im Menschen
allein, der zu Liebe fähig ist, sondern in der Korrelation des Menschenherzens als menschlicher Quelle der
Liebe und Gott als der Güte, von der auch das menschliche Herz sich noch nährt“. Das Menschenherz selbst
aber bedarf „eines reinigenden und klärenden Umgangs mit sich selbst. Mit diesem Bedürfnis der
Menschenliebe ist die religiöse Dimension erreicht […]. So stellt auch die Predigt des Evangeliums auf dem
Hintergrund des Gesetzes eine Praxis derartiger Reinigung, Läuterung und Klärung dar, wenngleich nicht die
einzige. Gebet, Buße und Beichte, wie auch das Abendmahl sind andere Formen. Die Predigt ist aber〔in〕
protestantischem Verständnis […] die Vorschule der anderen“ (Hans Martin Dober S. 216).
ham, 18.1.2017
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