Verlag Silke Schreiber, München 2016, ISBN 978-3-88960-158-2, 206 Seiten, 77 Farb- und 10 s/w-
Abbildungen, Broschur, Format 24 x 17 cm, € 32,00

Wer den 1972 veröffentlichten Bericht des Club of Rome Die Genzen des Wachstums und seine weiteren
Berichte, den 1980 publizierten Bericht der Brandt-Kommission Das Überleben sichern und die teilweise
voraus, teilweise parallel vorgetragenen ökumenischen Eine Welt-Kampagnen verfolgt hat, ist schon lange
auf die Einsicht vorbereitet, dass der neuzeitliche Zugriff auf die Welt und ihre wissenschaftliche und
technische Überformung durch den Menschen in der Konsequenz nur ein gemeinsames Überleben erlaubt:
„Eine Welt oder keine“. Mit der von Paul J. Crutzen und Eugene Stoermer im Jahr 2000 in die Debatte
geworfenen Metapher Anthropozän ist diese vorauslaufende Debatte auf den Begriff gebracht. Die mit dem
Anthropozän verbundene Vorstellung, dass die Menschheit zu einem geologischen Faktor und die Natur zur
Kulturaufgabe geworden ist, hat die überkommenen Vorstellungen von der Sonderstellung des Menschen
und vom Gegenüber von Ich und Welt und von Natur und Kultur in Luft aufgelöst. An die Stelle des
Gegenübers ist ein Miteinander und ein schwerlich zu entwirrendes Geflecht von Mensch und Welt und
Natur und Kultur getreten. Natur ist nicht mehr wie in der Romantik das ganz Andere. Natur, Zivilisation und
Kultur sind vielmehr als vielfältig interagierende Komponenten zu begreifen. Ihre vermeintlichen Grenzen
sind porös geworden. Der Begriff ‚Natur‘ sei deshalb, so Bruno Latour, durch die Einheit »Natur/Kultur« zu
ersetzen.

Hans Dickel folgt bei seinem Durchgang durch zwanzig Jahre Kunstgeschichte der von Latour ins Spiel
gebrachten Betrachtungsweise. Seit dem ›Ausstieg aus dem Bild‹, den die Kunst der 1960er und 70er Jahre
vollzog, wird Natur nach Dickel „nicht mehr bildlich als ›Landschaft‹ gebändigt oder in Form von
Materialien ästhetisiert, stattdessen verhandeln zeitgenössische ›Installationen‹ und ›Environments‹ den
Komplex Natur-Technik-Kultur in einem experimentellen, als tentativ zu beschreibenden Modus, der auch
die ›Environmental Studies‹ kennzeichnet. Natur und Kultur erscheinen in hybriden Konstellationen als
Faktoren eines Ensembles aufeinander einwirkender Kräfte, und es liegt nahe, die gedanklichen
Voraussetzungen und Parallelen dieser zeitgenössischen Kunstformen in Bruno Latours Akteur-Netzwerk-
Theorie (2005) zu suchen“ (Hans Dickel S. 5 f.). Demnach geben nicht mehr die Naturgesetze wie im alten
Klimaregime vor, wie und in welchen Atmosphären wir leben, sondern was sein soll und wie wir leben
wollen, muss Punkt für Punkt erstritten werden.

Dickel fragt nun, wie die zeitgenössische Kunst das neue Klimaregime und den neu formulierten
Zusammenhang von ‚Natur/Kultur’ wahrnimmt, widerspiegelt und auf ihn reagiert. Die traditionelle
Dispositiv Landschaft und die ästhetische Kategorie des Erhabenen perpetuieren die überkommene Trennung
von Kultur und Natur und scheiden deshalb für eine kreative Vergegenwärtigung des Natur/Kultur-Hybrids
aus. Angemessener erscheint der von Gernot Boehme Mitte der 1990er Jahre ins Spiel gebrachte Begriff des
Atmosphärischen. Nach Böhme umfasst das Atmosphärische einen ästhetischen, alle Sinne umfassenden
Modus der ästhetischen Vergegenwärtigung von Natur. Die Natur wird dabei zum Partner menschlicher
Sinnlichkeit, die naturwissenschaftlich nicht zu fassen ist. Der „Modus einer offenen, synthetischen
Sensibilität korrespondiert mit dem erweiterten Begriff von Natur, der viele Formen ihrer Verbindung mit
Kultur, Zivilisation, Technik und Geschichte des Menschen einschließt. Statt einer distanzierten Betrachtung
implizieren Latours Überlegungen zur ‚Natur/Kultur‘ für die Kunst geradezu jene immersiven, offenen
Wahrnehmungsfelder, in denen nicht nur die Rollen des betrachteten Subjekts und des betrachteten Objekts
zur Disposition stehen – um den ‚boucles‘ (Zusammenhängen) des Natürlichen mit dem Menschlichen
nachspüren zu können, sondern auch die vielfältigen Verbindungen von Natur und Technologie thematisiert
werden können“ (Hans Dickel S. 21).

Unter den besprochenen Installationen und Environments kommen Olafur Eliassons 2003 in der
Turbinenhalle in London realisiertes und von zwei Millionen Besuchern besuchtes The Weather Project und
Carsten Höllers 2010 im Hamburger Bahnhof in Berlin vorgestellte Arbeit Soma der hybriden Konstellation
von Natur, Technik und Kultur am nächsten.

Eliasson hatte an der dem Eingang gegenüber liegenden Stirnseite der Turbinenhalle einen an der Decke
gespiegelten Halbkreis aus semitransparentem Material installiert und dahinter 200 Lampen mit gelbem
monofrequentem Licht. „Die präzise berechnete Konstruktion aus den 200 […] Monofrequenzleuchten,
deren dämpfender Abschirmung, dem Trockeneisnebel und der Verspiegelung der gesamten Decke erzeugten
einen atmosphärisch dichten Raum, in dem die Koordinaten für die Wahrnehmung von Zeit und Raum
verunklart waren […]. Der Effekt simulierte die natürliche Strahlung der Sonne“ (Hans Dickel S. 46 f.,
vergleiche dazu https://www.google.de/imgres?imgurl=http://www.tate.org.uk/sites/default/files/styles/
width-960/public/images/olafur_eliasson_weather_project_02.jpg&imgrefurl=http://www.tate.org.uk/whatson/
tate-modern/exhibition/unilever-series/unilever-series-olafur-eliasson-weatherproject-
0&h=721&w=960&tbnid=u9wg3xbSCb2FbM:&tbnh=150&tbnw=200&usg=__zgTaPL0NUmgYEQ
1m62ChRmmrKkM%3D&vet=10ahUKEwjGsKyl1KDZAhUCrRQKHdnEAbIQ_B0IhwEwCg..i&docid=w
8wv9VkWd9TDM&
itg=1&sa=X&ved=0ahUKEwjGsKyl1KDZAhUCrRQKHdnEAbIQ_B0IhwEwCg#h=721&imgdii=pPR
RgYop_KCC_M:&tbnh=150&tbnw=200&vet=10ahUKEwjGsKyl1KDZAhUCrRQKHdnEAbIQ_B0IhwEw
Cg..i&w=960).

Carsten Höller hat in seiner Arbeit Soma männlichen Rentieren mit dem Futter Fliegenpilze zum Fressen
vorgesetzt, die nach der Vorstellung eines nordsibirischen Volksstamms außerordentliche Glücksgefühle
beim Menschen erregen, wenn sie nicht direkt, sondern gefiltert durch den Stoffwechsel der Tiere genossen
werden. Der angeblich psychoaktive Urin der Rentiere wurde Mäusen, Kanarienvögeln, Fliegen und
Besuchern zum Kosten angeboten. Die Besucher konnten das Environment ästhetisch genießen oder ihm wie
neutrale Wissenschaftler begegnen. Die Versuchsanordnung war gleichsam doppelblind angelegt: Höller
hatte die eine Gruppe der Rentiere mit Fliegenpilzen versorgt und die andere nicht. Niemand wusste,
welchen Urin er trank. Deshalb blieb der Test wahrnehmungsoffen und war auch „als eine Metapher für die
Kunst lesbar. Indem er wissenschaftliche Hypothesen mit künstlerischen Methoden zu verifizieren versuchte
und umgekehrt den Mythos von der Kunst als verwandelnder Kraft wissenschaftlich zu prüfen vorgab,
unterlief er die institutionellen Gewissheiten beider Disziplinen […]. Als hybride Konstellation zwischen
Natur, Wissenschaft und Kunst nötigte Soma seinen Besucherinnen und Besuchern […] eine Überprüfung
bestehender Vorurteile über die Kunst und die Naturwissenschaft ab“ (Hans Dickel S. 57; vergleiche dazu
https://www.google.de/search?
q=carsten+h%C3%B6ller+soma&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjrpi116DZAhWDCOwKHXDqD7cQsAQIJw&
biw=1656&bih=935).

Tue Greenfort schließlich hat beim Skulpturenprojekt Münster 07 eine Eisen-II-Chlorid-Lösung mit einer
Fontäne aus einem Güllewagen in den Aasee von Münster eingebracht, um die Folgen der Überdüngung der
Felder und Wiesen aus dem Münsteraner Umland zu neutralisieren: Das Wasser des Aasees ist inzwischen so
verseucht, dass es für Spaziergängerinnen und Spaziergänger mit Kindern und Hunden gefährlich ist
(vergleiche dazu https://www.google.de/search?
biw=1656&bih=935&tbm=isch&sa=1&ei=pLWBWqqKI8SjkwWRmIVI&q=Tue+Greenfort%2C+Aasee+M
%C3%BCnster+&oq=Tue+Greenfort%2C+Aasee+M%C3%BCnster+&gs_l=psy-ab.
12…606477.622918.0.629874.18.18.0.0.0.0.99.1230.17.18.0….0…1c.1j2.64.psy-ab..
0.3.286.0..0j0i24k1j0i30k1.161.LDF9h058Z-o).

Im Ergebnis seiner Untersuchung ist sich Dickel sicher, dass Künstler wie Eliasson, Höller und Greenfort mit
ihren Arbeiten Einblicke in komplexe ökologische Zusammenhänge vermitteln und die Besucher dazu
motivieren können, in den offenen ›Wahrnehmungsfeldern‹ der Kunst selber Konstellationen von Natur/
Kultur zu entdecken. „Von Seiten naturwissenschaftlicher Theoriebildung hat das Modell des Anthropozän
neue Fragestellungen und Methoden der ästhetischen Forschung provoziert […]. Aber nicht nur in ihrer
Genese, vor allem in der künstlerischen Form aktueller Arbeiten im Themenfeld ‚Natur/Kultur‘ scheint sich
das Rhizom als adäquates Modell zu bewähren. Es erlaubt das Konfliktpotenzial von Natur und Kultur
zunächst auf ästhetischer Ebene zu reflektieren, bevor es auf die politische Agende kommt“ (Hans Dickel S.
198). Wenn aber ökologische Themen spätestens seit den 1970er Jahren auf der politischen Tagesordnung
stehen, kommt die von Dickel anempfohlene ästhetische Reflexion reichlich spät.
Der von Dickel im Schlusssatz seiner Untersuchung in Erinnerung gebrachte Topos, dass die Politik in der
ihre Handlungsfelder spielerisch ausprobieren kann, macht auf ein prinzipielles Problem der am Anthropozän
angelagerten ästhetischen Theoriebildung aufmerksam: Wenn sich die Grenzen des ästhetischen Zugriffs auf
die Natur verflüssigen und in soziologische und politische Handlungsoptionen übergehen, verliert die Kunst
tendenziell ihren Markenkern, ihr Eigentliches. Möglicherweise hat sie dann nur noch die Rolle der
Begleitmusik in einer weit über sie hinausgehenden Debatte. Dann wäre zu fragen, ob ihr diese Rolle genügt
oder ob sie sich nicht doch lieber auf das konzentrieren sollte, was – trotz aller Verflechtungen und Bezüge –
allein sie ausdrücken und was nur ästhetisch wahrgenommen werden kann.

ham, 12. Februar 2018

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