Ausstellung in der Kunsthalle Vogelmann in Heilbronn bis 29.10. 2023 und Katalog 

Wer weder Gregor Schneiders ›Totes Haus u r‹ 2001 auf der Biennale in Venedig (vergleiche dazu https://www.gregor-schneider.de/places/2001venedig/index.htm) noch ›Hannelore Reuen‹ 2003 in der Hamburger Kunsthalle (vergleiche dazu https://www.gregor-schneider.de/places/2003hamburg/video/2003_steindamm_hamburg.html) noch ›It’s All Rheydt‹ 2011 in Kalkutta (vergleiche dazu https://www.bauwelt.de/themen/Das-deutsche-Pandal-hat-dieses-Jahr-die-meiste-Aufmerksamkeit-erregt-Kolkata-Deutsche-Kunst-Bengalen-Patrick-Ghose-Durga-Puja-Gregor-Schneider-2110124.html) noch ›N. Schmidt‹ 2017 im Skulptur Projekt Münster (vergleiche dazu https://www.gregor-schneider.de/places/2017muenster/index.htm) besuchen konnte, hat jetzt bis Ende Oktober 2023 in Heilbronn die Gelegenheit, sich Schneiders in das erste und zweite Obergeschoss der Kunsthalle Vogelmann eingebauten identischen Wohnungen A und B, zwei punktgenau gleichen ›Streaming Rooms‹, den Amateurvideos ›ESSEN‹, ‹, ›SCHLAFEN‹, ›ODENKIRCHENER STR. 202‹, ›ODENKIRCHENER STR. 202 ENTKERNUNG‹, alle von 2014 zum Geburtshaus Goebbels in Rheydt und drei Schneider-Videos zum hinduistischen Fest der Muttergottheit Durga in Kolkata aus dem Jahr 2011 aussetzen. 

Die identischen Wohn-, Schlaf- und Badezimmer, die man nur über den Aufzug erreicht, verstören, weil man glaubt, dass sich die Dame, die den Aufzug bedient, im Stockwerk geirrt hat und man meint, alles bis hin zu den schmutzig weißen Stores und dem laufenden Wasserhahn schon einmal gesehen zu haben. Die Videos aus und zum Goebbels Geburtshaus verstören, weil man sich vorstellt, wie es dem Künstler beim Übernachten im mutmaßlichen Schlafzimmer der NS – Größe, beim Frühstück in der Küche und bei der Entkernung gegangen sein mag. Und die Videos zum Fest von Durga verstören, weil die in monatelanger Arbeit aufgebauten Durga-Altäre nach zehn Tagen dem Hügli, einem Seitenarm des Ganges übergeben werden und dort in den Fluten und im Schlamm verschwinden (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Durga_Puja). Deshalb ist es auf eigenartige Weise beruhigend, dass Schneider einige der aus Ganges-Lehm, Stroh und Jute modellierten Idole der Göttin Durga und ihrer Kinder vor der Rückgabe an den Ganges gerettet, sie nach Deutschland verfrachtet und im zum Filmstudio umgewidmeten zentralen Raum im Erdgeschosses der Kunsthalle Vogelmann aufgestellt hat. Es scheint eben doch nicht alles, wie man im Heilbronner Unterland sagt, den Bach hinunterzugehen. Vielleicht bleibt sogar auch noch etwas über den Tod hinaus: 

In der Vielfalt hinduistischer Vorstellungen ist es der Glaube an die Wiedergeburt. Tod und Leben bilden einen Kreislauf, den der Hindu mit seinem guten Karma zu durchbrechen versucht. Sein Ziel ist das Einswerden mit dem Ewigen und Absoluten. Im Christentum ist die Vorstellung von der Wiedergeburt an die Taufe und das Mitsterben mit Christus gebunden und ewiges Leben Neuschöpfung. Schneider war von dem Durga-Puja-Festival fasziniert, weil er im fremden Fest-Ritual die eigene Arbeitsweise wiederentdeckt hat: „Das heißt: Dinge bauen, diese Dinge im nächsten Jahr wieder recyceln, und immer wieder von neuem anfangen. […] Ich baue etwas auf, baue es wieder ab, transportiere es irgendwohin, baue es wieder ab. Das ist für mich wie ein Auf-der-Stelle-Treten“ (Gregor Schneider nach Rita E. Täuber im Katalog zur Ausstellung, S. 54).

Das Prinzip des Auf-, Ab- und Umbauens und der Wiederholung hat Schneider im ›Haus u r‹ in der Unterheydener Straße 12 in Rheydt erprobt, das er von 1985 bis 2001 bewohnte (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_Schneider). „Aus der Vorstellung, in einem Raum eingeschlossen und vergessen zu werden, entwickelt Gregor Schneider einen Total isolierten Toten Raum, der hinter einer Schallschutztüre aus Holz verborgen ist. Parallel setzt Gregor Schneider weiter einzelne Wände im Haus u r, in das er zur Verblüffung seines damaligen Kunstlehrers und Förderers komplette Räume baute. Dabei wiederholte er das Vorhandene in einem aufwendigen Arbeitsprozess und rekonstruierte es von Grund auf. Der neu gebaute Raum sollte und musste nicht mehr als Raum im Raum erkennbar sein, er löste die Skulptur als Objekt ab. Manche dieser Räume werden […] als Kaffee- und Gästezimmer bezeichnet, doch deren Ausstattung und Ausgestaltung entzieht sich jeder klassischen Vorstellung von Harmonie und Gemütlichkeit. Angelehnt an die Nachkriegszeit sind die Räume spartanisch-funktional und strahlen eine bedrückend nüchterne Atmosphäre aus. Da der Bezug nach außen aufgehoben ist und die (Tages-)Zeit nicht mehr bestimmt werden kann, wird diese noch verstärkt. Insbesondere der u r 10 bezeichnete Raum (1993) hat es in sich; er dreht sich nicht merklich dank einer vom Künstler eigens eingebauten aufwendigen Unterkonstruktion um 360 Grad“ (Marc Gundel im Katalog S. 10 ff.).

2001 wird Haus u r nach Venedig transportiert, dort fast vollständig in den Deutschen Pavillon eingebaut und „durch die große Besucherresonanz quasi öffentlich in Besitz genommen“ (Marc Gundel a. a. O. S. 19). Mit Norman Rosenthal kann man Gregor Schneider als „prototypischen Architekten verstehen, der die Besetzung von Raum, sofern dieser ein von Menschen konstruiertes Bauwerk ist, das so gewöhnlich wie auch immer sein mag, als Kunst und damit als geistige Tätigkeit versteht“ (Norman Rosenthal im Katalog S. 34). Schneider definiert Raum als begehbare Skulptur, spürt dem unser Bewusstsein prägenden Potenzial von Räumen nach und ist davon überzeugt, dass wir den Räumen nicht entkommen können. Nach dem Urteil der Jury des alle drei Jahre von der Ernst Franz Vogelmann Stiftung und den Städtischen Museen Heilbronn gemeinsam vergebenen Ernst Franz Vogelmann-Preise für Skulptur transformiert wohl kein anderer Künstler architektonische Räume so radikal um wie Gregor Schneider und thematisiert dabei die Geschichte des Vorgefundenen. Der seit 2016 an der Kunstakademie Düsseldorf lehrende Künstler „schaut hinter die Fassade der Dinge und definiert nebenbei die Begriffe Bildhauerei und Installation neu“. Deshalb hat die Jury Gregor Schneider nach Roman Singer, Franz Erhard Walther, Thomas Schütte, Richard Deacon und Ayşe Erdmann den mit 30 000 €, einer Ausstellung in der Kunsthalle Vogelmann und einem Katalog verbundenen sechsten Ernst Franz Vogelmann-Preis für Skulptur 2023 zugesprochen. 

Der von Marc Gundel mit Rita E. Täuber im Auftrag der Stadt Heilbronn herausgegebene informative Katalog ist 2023 bei der Snoeck Verlagsgesellschaft in Köln unter der ISBN 978-3-86442-421-2 erschienen. Er hat 144 Seiten und kostet 42 Euro.

ham, 20. Juli 2023

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