Von der Theologie zur Anthropologie und zurück
Unter Mitarbeit von Ilya Kaplan
Verlag Walter De Gruyter, Berlin/Boston, 2023, ISBN: 9783111020785, 401 Seiten, 3 s/w und 10 farbige Abbildungen, 5 Tabellen, Hardcover, gebunden, Format 23,4 x 16,2 cm, 109,95 €
Nach der Schöpfungsgeschichte schuf Gott den Menschen „nach unserem Bild, im Anfang uns ähnlich“ (Genesis 1,16). Theologen fragen sich seit Menschengedenken, ob die Gottebenbildlichkeit des Menschen auch dann noch gilt, wenn wir an seine Haltlosigkeit, seine Verführbarkeit, seine Aggressivität, seine Zerstörungskraft, seine Hinfälligkeit und daran denken, dass die Bibel wenig später erklärt, dass der Mensch „böse von Jugend an“ ist (Genesis 6,45). Und: Was heißt „nach seinem Bild“, wenn Gott nach dem Zeugnis der Bibel unerkennbar und unsichtbar ist? Der aus Beiträgen der 2020 in Bern abgehaltenen Tagung „Siegel des Göttlichen. Von der Theologie zur Anthropologie und zurück“ und zwei ergänzenden Beiträgen bestückte Band hat das Ziel, dieses Paradox auszuloten.
Jede religiös-philosophische Anthropologie sieht sich vor folgendes scheinbar unauflösbares Paradox gestellt: Als „Bild des Göttlichen soll der Mensch eine erkenntnistheoretische Brücke zwischen der körperlichen Welt und dem transzendenten Gott herstellen, und trägt doch – als gefallene Kreatur – einen Abgrund in sich, der die äußerste Entfremdung von Gott repräsentiert. Wie sollte der Mensch in seiner Ambivalenz Bild des unsichtbaren, unfassbaren Gottes sein? Oder ist es gerade seine Abtrünnigkeit und Bodenlosigkeit, die es ihm ermöglicht, auch der unfassbaren Tiefe Gottes Raum zu geben?“ (Georgiana Huian, Beatrice Wyss, Rainer Hirsch-Luipold S. V)
Wenn man die Rede vom Menschen als Bild Gottes auch auf die Emotionen bezieht, könnte man so argumentieren: Wie Gott den Menschen liebt, so soll umgekehrt auch der Mensch Gott lieben. Damit könnte die Liebe die Kluft zwischen Gott und Mensch ebenso überbrücken wie die zwischen den Menschen. Aber werden dann nicht die nicht durch die ratio kontrollierten Emotionen zum Einfallstor widergöttlichen Handelns, von Begehrten und Lust, Habsucht und Rache, Neid und Hass? Oder ist der Abgrund, die Tiefe als Ort des Todes und der Dunkelheit, der Verzweiflung und der Einsamkeit vielleicht doch auch ein Ort der Reise ins Innere und ein Ort der Gottesbegegnung? „Unerforschbar tief ist Gottes Wesen, unerforschbar tief das Innere des Menschen, gefährlich und bergend zugleich. Die einen assoziieren mit der Tiefe das Unbewusste oder Unterbewusste, andere Abgründe von schlechten und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Bodenlose stürzen. In Anknüpfung an Aussagen der spätantiken Kirchenväter und mystischer Traditionen loten manche Strömungen zeitgenössischer orthodoxer Theologie im Rahmen einer apophatischen [das heißt einer absagenden, einer verneinenden] Theologie, die notwendig mit einem apophatischen Verständnis des Menschen korrespondiert, die Kategorie des bodenlosen Abgrunds aus im Sinne einer unausschöpflichen Tiefe, die zum unaussprechlich Göttlichen hinführt. Eine konsequente Bild-Anthropologie ist zugleich apophatische Anthropologie: Das Bild des unbegreiflichen Gottes trägt selbst das Zeichen der Unbegreiflichkeit“ (Georgiana Huian, Beatrice Wyss, Rainer Hirsch-Luipold S. VI).
Eine anthropologische Theologie könnte nach der Berner Tagung so skizziert werden: „Der Gedanke der Ebenbildlichkeit des Menschen ist ebenso ambivalent wie die Unbegreiflichkeit Gottes selbst, aber aus anderen Gründen. Während Gottes Unbegreiflichkeit eng mit seiner Einzigkeit, Einzigartigkeit und wesenhaften Entzogenheit zusammenhängt, kann keine Erklärung und Beschreibung des Wesens den Menschen in seiner Disparatheit erfassen, so die Ausgangsthese Ingolf Dalferths“ in seinem Beitrag „Unbegreiflich: Über die Unergründlichkeit Gottes und die Abgründigkeit des Menschen“. „Gott bleibt ein Geheimnis als Ungrund von Allem, und Menschen bleiben, wenn sie sich vom Geheimnis her, das sie Gott nennen, als Bild Gottes verstehen, der Ort in der Schöpfung, an dem sich der Schöpfer als Schöpfer und die Geschöpfe als Schöpfung zeigen. Dies geschieht, wo und wenn Gott sich durch Menschen für Menschen als schöpferische Liebe erschließt“ (Georgiana Huian, Beatrice Wyss, Rainer Hirsch-Luipold S. VII; vergleiche dazu auch das Inhaltsverzeichnis des Bandes und den Aufsatz von Ingolf Udo Dalferth unter https://library.oapen.org/bitstream/handle/20.500.12657/76904/9783111022406.pdf?sequence=1&isAllowed=y).
ham, 13. April 2024