Mit Beiträgen von Dirk Evers, Alexandra Grund-Wittenberg, Klaas Huizing, Karsten Lehmkühler, Ulrike Link-Wieczorek, Friedrich Lohmann, Regine Munz, Burkhard Nonnenmacher, Georg Pfleiderer, Christian Polke, Michael Roth, Gotlind Ulshöfer und Daniel Weidner.

Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh), 66

Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2ß22, ISBN 978-3-374-06965-1, 241 Seiten, Paperback, Format 23 x 15,5 cm, € 38,00

Dieser Titel kann hier als Open Access Version heruntergeladen werden.

›Schuld und Sühne‹ ist der Titel des weltbekannten Fortsetzungsromans, den Fjodor Dostojewski von Januar bis Dezember 1866 in 12 Folgen in der Monatszeitschrift Russki Westnik veröffentlicht hat. In ›Schuld und Sühne‹ entwickelt der bitterarme, aber überdurchschnittlich begabte ehemalige Jurastudent Rodion Romanowitsch Raskolnikow die Vorstellung, dass außergewöhnlichen Menschen im Kontext des allgemein-menschlichen Fortschritts der Mord erlaubt sei und führt ihn dann auch aus. Er erschlägt die reiche, geizige und herzlose Pfandleiherin Aljona Iwanowna und ihre zufällig anwesende, geistig behinderte Schwester, findet danach aber keine Ruhe mehr. Er wird vom Ermittlungsrichter als Schuldiger erkannt und erlebt seine achtjährige Haft in einem sibirischen Arbeitslager als eine „geradezu physiologische, langwierige, auf der intensiven Erfahrung der Zeit beruhende Befreiung von seiner Vergangenheit“ (›Schuld und Sühne‹. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Schuld_und_Sühne).

Schuld und Sühne sind auch klassische Begriffe der theologischen Anthropologie. „Als Negativfolien zu den für die – insbesondere protestantische – Theologie zentralen Konzepten von Rechtfertigung und Versöhnung sind sie nach weit verbreiteter Ansicht unverzichtbar. Sünde ist nach reformatorischer Überzeugung mangelnde (nicht nur mangelhafte) Selbstunterscheidung von Gott. Als solche zerstört sie nicht nur das Gottesverhältnis, sondern damit zugleich auch das Selbstverständnis, das wiederum die Basis für gelungene Verhältnisse zu anderen Menschen und anderen Lebewesen überhaupt bildet. Sünde desintegriert; der Glaube, als Nachvollzug des heilsamen Wirkens Gottes am Menschen […], integriert, stellt die personale Ganzheit her […] und ermöglicht so ›ganzheitliche‹ Sozialverhältnisse“ (Georg Pfleiderer, Dirk Evers, Einleitung. A. a. O. S. 9). Seit der Aufklärungszeit ist der (vermeintlich) pejorative und pessimistische Tenor dieser theologischen Anthropologie unter Beschuss geraten; die Theologie hat den positiven, heilsamen Sinn ihres Sündenverständnisses herausgearbeitet, autoritäre und repressive Funktionalisierungen abgewehrt und nachzuweisen versucht, dass „diese theologische Anthropologie an moderne philosophisch-politische Konzepte individuell-personaler Menschenwürde und darauf basierender liberal-demokratischer Rechts-begriffe durchaus anschlussfähig sei“ (Georg Pfleiderer, Dirk Evers, a. a. O. S. 10). Auf diesem Weg hat dieses anthropologische Konzept bis zum Beginn des 20. Jahrhundert aufs Ganze gesehen überlebt.

Unter dem Eindruck neuerer kulturanthropologischer Diskurse wird in jüngerer und jüngster Zeit etwa von Klaas Huizing für eine Ablösung des moral- und akteursorientierten Schuld- (und Sünde-)Konzepts durch eine Phänomenologie der Scham plädiert, die psychologisch und soziologisch deutungsreicher sei – etwa im Blick auf mediale Beschämungspraktiken. „Gegenwärtig kann man fast den Eindruck bekommen, dass Schamkonzepte den traditionellen Schuldkonzepten gegenüber ein klares Modernisierungsplus hätten“ (Georg Pfleiderer, Dirk Evers, a. a. O.). 

Der an der Universität Würzburg lehrende Huizing begründet seinen Nachruf auf die Schulddogmatik so: „Die grundsätzliche Hinterfragung der Kernbegriffe einer petrifizierten Dogmatik sollte vielleicht ansetzen mit der bei Carolin Ecke aufgelesenen Empfehlung, Geschichten vom gelingenden Leben ins Zentrum zu rücken. Gottes Selbstbestätigung: Und er sah, dass es gut war, ist zu häufig weltverneinend umcodiert worden. Vielleicht ist die Rede von einer erlösungsbedürftigen Wirklichkeit ein falscher Fokus. Und vielleicht ist auch die Umdeutungsathletik der Deutungstheoretiker letztlich nicht radikal genug. Vielleicht aber kann die in den letzten zwei Dekaden in der alttestamentlichen Wissenschaft hoch geschätzte Weisheit […] einer anderen Sicht der Dinge zum Durchbruch verhelfen. Auch der lehrbuchhaften Schul-gleich-Schuld-Dogmatik stünde eine Hinterfragung ihres Selbstbildes gut zu Gesicht. Ich plädiere dafür, das Schuldnarrativ sehr grundsätzlich zu hinterfragen und uns Klarheit darüber zu verschaffen, warum es für uns so attraktiv ist. Vielleicht hat die Attraktivität mit jenem Phänomen zu tun, das man früher einmal Sünde genannt hat.

Die in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge gehen auf Vorträge protestantischer Systemtischer Theologinnen und Theologen, einer Alttestamentlerin und eines Germanisten im Rahmen der Jahrestagungen 2018 und 2019 der Fachgruppe für Systematische Theologie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie im Würzburger Exerzitienhaus Himmelpforten zurück. Der erste Teil ist um das diskursive Feld von Sünde und Schuld, der zweite Teil um dasjenige von Scham zentriert. Nach den Herausgebern des Bandes drängen sich nach der Würzburger Debatte einseitige Negativurteile nicht auf: Weder „sollte klassischen theologischen Sündendiskursen vorschnell das Sterbeglöcklein geläutet, noch sollten die derzeit en voguen Schamdiskurse als ephemere Erscheinung abgetan werden: Beide dürften ihr jeweiliges Recht behalten; und keines der beiden Diskursfelder dürfte verlustfrei in das jeweils andere überführt werden können“ (Georg Pfleiderer, Dirk Evers a. a. O. S. 22).

Wer die notwendige Geduld zum Einlesen in die ausdifferenzierte Fachsprache der heutigen Systematischen Theologie aufbringt und die Anstrengung des Begriffs nicht scheut, versteht nach der Lektüre des Bandes besser, warum er sich selbst bei aller Einsicht in allerinnerste Vorgänge und äußere Umstände verborgen bleibt. Die Seelsorgerin der Evangelisch-reformierten Kirche Baselland an der Psychiatrischen Klinik in Liestal (BL) und Privatdozentin an der Theologischen Fakultät der Universität Basel Regine Munz bündelt diesen Aspekt der Diskussion in ihrem Titel ›Das andere der Scham. Der homo absconditus aus systematisch-theologischer und seelsorgerischer Perspektive‹. Der  Beitrag von Munz und der ganze Band kann als Open Access Version heruntergeladen werden.

ham, 26. September 2023

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller